Grenzen der Verkündigung

Warum es Pflöcke gegen Hass und Hetze auf der Kanzel braucht
Demonstranten gegen das Ende der Dienstenthebung von Pastor Olaf Latzel vor der St.-Martini-Kirche in Bremen am 18. April.
Fotos: epd/Dieter Sell
Demonstranten gegen das Ende der Dienstenthebung von Pastor Olaf Latzel vor der St.-Martini-Kirche in Bremen am 18. April.

Der „Fall Olaf Latzel“ rief vor einigen Monaten große Empörung hervor. Können, ja müssen sich die deutschen Landeskirchen stärker gegen „Hasspredigt“ schützen? Der badische Pfarrer, Religionslehrer und Buchautor Markus Beile fordert vor dem Hintergrund dieser Debatte generell einen klareren Rahmen für die öffentliche Verkündigung. Er schlägt in seinem Beitrag vier inhaltliche Pflöcke ein.

Sein Fall schlug hohe Wellen und ist noch nicht abgeschlossen: Der Bremer Pfarrer Olaf Latzel wurde im November wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe von 8 000 Euro verurteilt. Das Amtsgericht Bremen hatte ihn für schuldig befunden, sich in einem Eheseminar im Jahr 2019 in beleidigender Weise strafwürdig gegen Homosexuelle („Verbrecher vom Christopher Street Day“) geäußert zu haben. Latzel ist in Berufung gegangen, und die Sache harrt der endgültigen juristischen Klärung (siehe zz 1/2021).

Bereits 2015 hatte sich Latzel in einer Predigt abfällig über den Katholizismus und über andere Religionen geäußert und den Buddha als „dicken, alten, fetten Herrn“, das islamische Zuckerfest als „Blödsinn“ und katholische Reliquien als „Dreck“ bezeichnet. Hatten die Bremer Kirchenbehörden nach Latzels Predigt im Jahr 2015 noch auf disziplinarische Maßnahmen verzichtet, wurde Latzel aufgrund seiner verbalen Ausfälle im Jahr 2019 vorläufig seines Dienstes enthoben. Nachdem sich Latzel für seine Äußerungen erneut entschuldigt hat, hat die Kirchenbehörde die vorläufige Dienstenthebung zurückgenommen, und Latzel nimmt seit April 2021 seinen Dienst in der Gemeinde wieder wahr.

Ist damit wieder alles in Ordnung? Nein, das ist es nicht. Verbale Ausfälle kann man disziplinarrechtlich sanktionieren. Aber dahinter steht eine theologische Grundanschau­ung. Sie ist es, die zu den Äußerungen geführt hat. Deshalb sind die Äußerungen Latzels auch keine verbalen Entgleisungen, sondern logische Konsequenz. Sie bleiben, um im Bild zu bleiben, „auf dem Gleis“. Latzel mag sich in Zukunft behutsamerer Worte bedienen. Aber seine theologische Grundanschauung wird er nicht ver­ändern.

Was für eine Anschauung ist das, die Latzel vertritt? Seine Predigt im Jahr 2015 ging über einen Abschnitt des biblischen Buches der Richter, in dem Gideon die heidnischen Heiligtümer seiner Heimatstadt zerstört. Ähnliches sollen die Christen laut Latzel in heutiger Zeit tun: „Gott sagt: ‚Umhauen! Verbrennen! Hacken! Schnitte ziehen!‘ Ja, das ist viel verlangt. Ja, da hat man Angst. Und da denken Sie jetzt vielleicht an die Situationen, wo Sie gefordert sind. Aber das fordere nicht ich. Das fordert unser Herr und Gott.“ Ein weiteres Detail über Latzels theologische Anschauung verraten seine Äußerungen im be­sagten Eheseminar im Jahr 2019. Dort vertrat Latzel die Meinung, dass Homosexualität genauso wie Ehebruch ein „todeswürdiges Verbrechen“ sei.

Diese theologische Anschauung, die in Latzels Äußerungen zum Ausdruck kommt, ist das eigentliche Problem. Latzel ist ein Fundamentalist. Er nimmt die Bibel wörtlich. Die biblischen Texte haben seiner Meinung nach so, wie sie sind, Unbedingtheitscharakter. Sie sind als ewige Wahrheit unmittelbare (Handlungs-)An­wei­sun­gen auch für uns heute. Wenn man dieses Verständnis den Bibeltexten zugrunde legt, dann führt das zu solchen Äußerungen, wie Latzel sie öffentlich getätigt hat. Dann scheint es unsere Aufgabe zu sein, wie Gideon mit Gewalt Heiligtümer anderer Religionen zu zerstören. Dann gilt Homosexualität als todeswürdiges Verbrechen und muss bekämpft werden.

Offenkundige Beleidigung

Ich halte es für ein Drama, dass unsere Landeskirchen fundamentalistische Anschauungen wie die des besagten Bremer Pfarrers stillschweigend dulden und nur dann sanktionieren, wenn sie in
offenkundige Beleidigung anderer Menschen ausarten. Hier rächt sich, dass wir als Landeskirchen inhaltlich massiv unterbestimmt sind. Bei der Ordination werden wir Pfarrpersonen zwar auf die Bibel verpflichtet. Aber wie wir sie verstehen, bleibt uns über­lassen. Es gibt keinerlei Kriterien für eine sachgemäße Bibelauslegung. Das führt dazu, dass bei uns in den Landeskirchen jeder so ziemlich jeden theologischen Unsinn von sich geben kann, ohne dass es zu irgendwelchen Konsequenzen führt. Ist das die protestantische Freiheit, auf die wir so stolz sind?

Ich meine: Martin Luther würde sich im Grab herumdrehen, wenn man dieses Verständnis von Freiheit als reformatorische Errungenschaft priese. Mehr denn je bin ich davon überzeugt, dass in den Landeskirchen ein paar deutliche inhaltliche Pflöcke eingeschlagen werden müssen, die eine erkennbare Kontur geben, nach innen und nach außen, und die verbindlich gelten.

Im Mittelalter hielten die Priester Messen und Gottesdienste ab, um die Pest einzudämmen. Das hat alles nichts genützt. Erst nachdem man erkannt hatte, dass Ratten die Überträger waren, konnte man die Pest eindämmen. Wir haben den Wissenschaften viel mehr zu verdanken, als uns gemeinhin bewusst ist. Die Steigerung unseres Lebensstandards, das Verständnis für Zusammenhänge in unserer Welt ganz allgemein und – um ein aktuelles Beispiel zu nennen – die Entwicklung von Impfstoffen gegen das Coronavirus in kürzester Zeit. Das sind alles Leistungen, die ohne die systematische Anwendung des Verstandes nicht möglich gewesen wären. „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, so lautete der Leitspruch der Aufklärung. Protestantische Theologie hat allen Grund, diesen Leitspruch als gesellschaftlichen Fortschritt anzuerkennen.

Auch fundamentalistisch Gesinnte nutzen selbstverständlich in ihrem Alltag die wissenschaftlichen Errungenschaften, auf denen unsere Gesellschaft aufbaut. Im Bereich der Kirche lehnen sie jedoch wissenschaftliche Erkenntnisse und wissenschaftliches Denken ab. Da spielen zeitbedingte Umstände, die zur Ausprägung von Bibeltexten geführt haben, keine Rolle. Die biblischen Wundererzählungen werden von ihnen verstanden, als ob sie sich wörtlich so zugetragen hätten und als ob man sie hätte fotografieren können. Die Urknalltheorie und die Evolutionslehre werden von ihnen abgelehnt und teilweise sogar bekämpft.

Damit verlassen Fundamentalisten einen gesellschaftlichen Konsens, den die moderne Gesellschaft erlangt hat – und stellen zugleich unsere Kirche immer mehr ins Abseits. Wollen wir das wirklich?

Der christliche Glaube geht sicherlich über den Verstand hinaus. Und er stellt kritische Anfragen. Aber er ist nicht gegen den Verstand gerichtet. Deshalb schlage ich als ersten Pflock, als inhaltliche Maxime vor: Die protestantische The­o­logie erkennt die Bedeutung der Verstandestätigkeit für theologische Urteilsbildung uneingeschränkt an. Sie lässt es nicht nur zu, sondern fördert es, dass wissenschaftliche Erkenntnisse auf die christliche Tradition einschließlich der Bibel angewendet werden. Dazu steht sie in permanentem Austausch mit anderen Wissenschaften.

Die Bibel ist das zentrale Buch der Christenheit. Sie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern über einen Zeitraum von 1 000 Jahren in einem komplizierten Überlieferungsprozess entstanden. In der Bibel haben Menschen ihren Glauben, so wie sie ihn übermittelt bekommen, erfahren und gedeutet haben, auf vielfältige Weise zum Ausdruck gebracht.

In der grundlegenden Bedeutung der Bibel für den christlichen Glauben sind sich die unterschiedlichen theologischen Strömungen innerhalb des Protestantismus einig. Große Unterschiede gibt es jedoch bei der Frage, wie die Bibel sachgemäß auszulegen ist. Erkennen wir die grundsätzliche Bedeutung wissenschaftlichen Denkens an, kommen wir an den Errungenschaften wissenschaft­li­cher Textauslegung nicht vorbei. Zurecht hat sich die historisch-kritische Bibelauslegung in der protestantischen Theologie etabliert. Dass es darüber hinaus weitere Formen der Begegnung mit biblischen Texten geben kann und muss, entbindet uns nicht von der Aufgabe, die Erkenntnisse historisch-kriti­scher Textauslegung aufzunehmen und angemessen zu berücksichtigen.

Historisch-kritische Text­ausle­gung kann uns den historischen Kontext begreiflich machen, in dem Bibeltexte entstanden sind, und uns so einen vertieften Zugang zu ihnen ermöglichen. Dabei wird nicht nur die Weltbildbezogenheit biblischer Texte deutlich, sondern auch die Notwendigkeit erkennbar, die Texte zu übersetzen in unsere von einem anderen Weltbild geprägte Moderne. Dazu sind Überlegungen anzustellen, wie diese Übersetzung vor sich gehen und zu hilfreichen und inspirierenden Ergebnissen führen kann. Nicht alles in der Bibel ist gleichermaßen wichtig. Luther hat in diesem Zusammenhang eine christozentrische Auslegung gefordert („Was Christum treibet“). Diese Schwerpunktsetzung ist für protestantische Theologie weiterhin grundlegend.

Der zweite inhaltliche Pflock beziehungsweise die zweite inhaltliche Maxime lautet demzufolge: Für protestantische Theologie hat die Bibel zentrale Bedeutung. Sie ist das grundlegende Glaubenszeugnis der Christen. Protestantische The­o­logie erkennt die Bedeutung historisch-kritischer Textauslegung an und weiß um die He­rausforderung, dass die biblische Welt und die moderne Welt auf unterschiedlichen Welt­bildern basieren. Eine christozentrische Bibelauslegung ist für protes-tantische Theologie fundamental.

Gott ist das Zentralwort in der Welt der Bibel. Mit ihm bezeichnet die Bibel eine Wirklichkeitsdimension, die über die messbare Alltagswirklichkeit hinausgeht und den Charakter des Unbedingten hat. Die Erfahrung Gottes hat in der Bibel zu unterschiedlichen Bildern und Vorstellungen geführt. Sie sind der Versuch, das kategorial ganz Andere zum Ausdruck zu bringen – und bleiben doch immer auch dem menschlichen Horizont verhaftet. Das zeigt sich in besonderer Weise in den anthropomorphen Gottesbildern. Auf die Gefahr, Bilder als die Sache selbst an­zusehen, weist das biblische Bilderverbot hin. „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“, formulierte einst Dietrich Bonhoeffer, um auf die Problematik einer Verdinglichung Gottes hinzuweisen. „Gott als Geheimnis der Welt“ (Eberhard Jüngel) ist immer größer und mehr als unser beschränkter menschlicher Horizont. Gottesbilder sind deshalb metaphorisch zu verstehen. Sie sind wie ein Transparent, durch das etwas durchscheinen soll von der Wirklichkeit Gottes.

In diesem Sinne lautet die dritte inhaltliche Maxime: „Gott“ bezeichnet für protestantische Theologie eine Wirklichkeitsdimension, die über die begrenzte Alltagswirklichkeit hinausreicht. Alle menschlichen Versuche, diese Wirklichkeitsdimension in Worte zu fassen, sind notwendigerweise unzureichend. Gottesbilder sind metaphorisch zu verstehen, sie sind nicht die Sache selbst. Dies gilt in besonderer Weise für anthropomorphe Gottesbilder.

Werte und Haltungen

Werte und Haltungen haben eine hohe Bedeutung. Sie bestimmen, wie wir mit uns selbst, mit den Mitmenschen und der Umwelt umgehen. Viele Werte und Haltungen finden sich in der Bibel. Zum Teil widersprechen sie einander. Um ein Beispiel zu geben: In der Bibel wird an vielen Stellen aufgefordert, friedlich miteinander umzugehen. Andererseits wird in der Bibel jedoch auch zur Anwendung von Gewalt aufgerufen.

Die Textstelle im Richterbuch, auf die sich Olaf Latzel in seiner Predigt 2015 bezogen hat, ist nur eines von zahlreichen Beispielen. Es ist Aufgabe protestantischer Theologie, einen Diskurs darüber zu führen, welche Werte und Haltungen der Bibel für uns heute grundlegenden Charakter haben, was davon abzuleitende Werte sind, wel­che Werte aus heutiger Sicht keine Rolle mehr spielen und welche gar abzulehnen sind.

Ich halte folgende Werte und Haltungen für grundlegend für die heutige protestantische Theologie: Menschenwürde, (Selbst-, Nächsten- und Feindes)Liebe, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Frieden, Freiheit und Hoffnung. Diese Werte und Haltungen leiten sich ab von der Sichtweise der Welt als Schöpfung Gottes, von der Reich-Gottes-Botschaft Jesu und der paulinischen Rechtfertigungslehre.

Diese grundsätzliche Werte bestimmen nicht nur den Umgang mit biblischen Überlieferungen, sondern ermöglichen auch eine Bewertung heutiger gesellschaftlicher Trends und Herausforderungen. Positiv sind von diesen Werten her Errungenschaften wie die Demokratie und die Emanzipation der Frau zu würdigen. Zugleich wird deutlich, dass autoritäre, gewaltverherrlichende und rassistische Ideologien mit protestantischer Theologie nicht vereinbar sind. Aus diesen grundlegenden Werten lassen sich auch Handlungsmaximen ableiten. So legt sich – um ein Beispiel zu nennen – von ihnen her ein respektvoller Umgang mit anderen religiösen Traditionen nahe. Entsprechend lautet die vierte Maxime: Protestantische Theologie weiß sich von folgenden Grundwerten und -haltungen geleitet: Menschenwürde, Liebe, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Frieden, Freiheit, Hoffnung. Diese Werte leiten sich ab von der Sichtweise der Welt als Schöpfung Gottes, von der Reich-Gottes-Botschaft Jesu und der paulinischen Rechtfertigungslehre. Protestantische Theologie bezieht von diesen grundlegenden Werten her in heutiger Zeit Stellung.

Diese vier inhaltlichen Maximen beziehungsweise Pflöcke lassen der protes-tantischen Theologie viel Luft zum Atmen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die allermeisten Theologinnen und Theologen in unseren Landeskirchen diese Pflöcke nicht als Einschränkung oder gar Gängelung ihres Denkens und Handelns ansehen, sondern ihnen uneingeschränkt zustimmen können. Der weite Rahmen, den die Pflöcke setzen wollen, ist zugleich aber auch ein Damm gegenüber fundamentalistischen Überzeugungen. Ein Olaf Latzel wird den inhaltlichen Pflöcken ver­mutlich nicht zustimmen können und sich eine neue Heimat suchen müssen. Und das ist auch gut so.

Ich bin fest davon überzeugt: Wir brauchen einen solchen inhaltlichen Rahmen. Theologinnen und Theologen, die in den Landeskirchen arbeiten, müssen sich mit ihm einverstanden erklären. Ist dieser Rahmen nicht verbindlich, sind es nur schöne Worte ohne jegliche Folgen. Ein solcher inhaltlicher Rahmen, der natürlich auf breiter Ebene diskutiert werden sollte und müsste, könnte dazu beitragen, dass Kirche nicht durch einige wenige Hardliner noch weiter ins Abseits gerät, sondern in der heutigen Gesellschaft, die von einem ethisch sensiblen Pluralismus geprägt ist, wieder als ernstzunehmender, gesellschaftlich relevanter Faktor wahrgenom­men werden kann. 

 

Literatur

Markus Beile: Erneuern oder untergehen? Evangelische Kirchen vor der Entscheidung. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 384 Seiten, Euro 22,– .

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