Spazierengehen ist ein Privileg

Ein Blick in die Kulturgeschichte des Gehens – Körperbewegung und Gesundheitsvorsorge
Spaziergang am Strand
Foto: picture alliance

Schönes Wetter mit milden Temperaturen führte in diesem Frühjahr zur Überfüllung naher Spaziergangsziele. Bis zum Corona-Lockdown galt das Spazieren als eine etwas altmodische Freizeitbetätigung, wie Gudrun M. König, Professorin für Kulturanthropologie an der Technischen Universität Dortmund beschreibt.

In Zeiten des Corona-Lockdowns wurde eine Gangart wiederentdeckt, die als Freizeitvergnügen seit Jahren nicht mehr „trendy“ schien: das Spazierengehen. Statistiken zeigen jedoch, dass es an Beliebtheit in den vergangenen Jahren einen gleichbleibend hohen Rang genoss. Es galt zwar nicht als Speerspitze eines sportiv geprägten Alltags zwischen Walken, Wandern und Joggen, doch hat sich das Spazierengehen stets in den oberen Rängen der freizeitlichen Vergnügungen gehalten. Eine Umfrage des Portals Statista vom November 2020 hat gezeigt, dass es in den Jahren 2016 bis 2020 sogar relativ stabil geblieben ist. Im Jahr 2020 hat sich allerdings die Zahl der Personen, die mehrmals wöchentlich spazieren gehen, coronabedingt um 1,4 Millionen erhöht. Der Anstieg über die vier vergangenen Jahre ist freilich nicht so gravierend wie einen die gut besuchten Wege bei schönem Spaziergangswetter annehmen ließen. Insbesondere schönes Wetter mit milden Temperaturen führte im Frühjahr 2021, begleitet von einem großen saisonalen Medienecho, zur Überfüllung naher Spaziergangsziele. Bis dahin galt das Spazieren tendenziell als eine etwas altmodische Freizeitbetätigung. Mangelnde Alternativen im Lockdown wie Reisen, Studio- und Gruppensport haben dem Spazierengehen zu neuer Popularität verholfen. Es benötigt keine Vorbereitung, wenig Ausrüstung, ist relativ unkompliziert und bietet die Chance zur Geselligkeit und zum Gespräch mit Abstand.

Die Gründe für die neue wie die alte Beliebtheit des Spazierengehens sind vielfältig. Es bietet Erholung; die gemäßigte Bewegung ist gesund. Allerdings sind häufig unterschiedliche Geherlebnisse und Vergnügungen gemeint, die alle Spazierengehen heißen, aber doch different sind. Man kann alleine oder in Gesellschaft gehen, Tiere und Pflanzen beobachten, die Jahreszeit sinnlich wahrnehmen, Gedanken nachhängen und Lösungen finden. Bestimmte Jahreszeiten wie Frühling und Herbst gelten als besonders geeignet. Seine Beliebtheit war jedoch generationenspezifisch verteilt und hatte damit unterschiedliche Konkurrenzvergnügungen wie Joggen und Walken, Wandern und Sonnenbaden. Im Lockdown wurde das Spazierengehen für alle Altersgruppen gleichermaßen beliebt, weil sich mit ihm Gespräche besser führen ließen als mit anderen sportlichen Aktivitäten im Freien. Körperliche Bewegung und freundschaftliche Begegnung waren zugleich möglich. Die Auszeit auf der Parkbank mit Kaffee in der Thermoskanne ersetzte den Gang ins Kaffeehaus. Das gesteigerte Sitzen im Homeoffice ohne Arbeitsweg und Kantinengeplauder, geschlossene Fitnessstudios und fehlender Vereinssport brachten dem leicht realisierbaren Spaziergang neue Aufmerksamkeit.

Bewegte Körpererfahrung

Spazierengehen war und ist ein Privileg. Gegenüber anderen Vergnügungsarten ist es jedoch ausgesprochen günstig. Wir benötigen nur freie Zeit oder Zeit, die wir erübrigen können oder wollen. Diese Verfügbarkeit ist nicht allen gleichermaßen gegeben, sie ist aber nicht mehr unmittelbar an Stand, Klasse oder Schicht gebunden, gleichwohl an die soziale und familiäre Situation. Das Vergnügen beim Gehen muss kulturell und sozial gelernt werden, sonst sind andere Vergnügungsweisen attraktiver: Netflix, Internet, Kochen. Für den Spaziergang muss man sich aufmachen, zuweilen auch aufraffen. Das fällt leichter, wenn man das Privileg hatte, ihn als positive Erfahrung zu erinnern. Der Vorteil ist, dass das Spazierengehen keine großen Körperkünste benötigt. Der Spaziergang ist eine synästhetische Wahrnehmungsschule und bewegte Körpererfahrung. Er stärkt die Widerstandskraft, trainiert Körper wie Wahrnehmung mit den Sinnen des Sehens, Hörens, Riechens, Fühlens. Spazierengehen erscheint uns als eine Selbstverständlichkeit, die es schon immer gab. Dem ist nicht so. Es ist eine kulturelle Praktik, als solche gelernt und veränderbar. Spazierengehen bedarf gewisser gesellschaftlicher Voraussetzungen: planbare freie Zeit, Distanz zur Natur, Wege ins Grüne und bürgerliche Öffentlichkeit. Erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurden die Voraussetzungen geschaffen, das Naturschöne ästhetisch wahrzunehmen. Zentral für diese Entwicklung war auf längere Sicht die Veränderung der Naturwahrnehmung von einer bedrohlichen zu einer bedrohten Größe.

Mit der beginnenden politischen Emanzipation des Bürgertums gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde dem adeligen Privileg des Müßiggangs und seiner repräsentativen Geselligkeit in den Parks eine öffentliche, bürgerliche Schauseite abgetrotzt. Die Einrichtung von städtischen Promenaden wie die Öffnung fürstlicher Gärten korrespondierten daher mit den Transformationen sozialer Ordnung am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Jahre um 1800 gelten als die gesellschaftliche Erfindung des öffentlichen Grüns. Bis dahin waren Parks und erste Landschaftsgärten in der Regel dem müßiggehenden Adel vorbehalten. Nun etablierte sich eine bürgerliche Schicht, die freie Zeit hatte und die ihren politischen Anspruch auf Teilhabe mit dem Gang ins Freie demonstrierte. Städtische Bollwerke zur Verteidigung, militärisch nutzlos geworden, wurden geschleift, Alleen angelegt, Parks geöffnet und der Spaziergang auf der Promenade zum gesellschaftlichen Ereignis. Parallel hatten sich gesundheitliche Vorstellungen gefestigt, zuvor bereits in den Bade- und Kurorten erprobt, die dem Gehen im Freien prophylaktische und regenerative Funktionen zusprachen. Die Geschichte des Spazierengehens ist nicht monokausal zu verstehen, sondern eine Vernetzung diverser Entwicklungen.

Formal hat das Spazierengehen zweckfrei zu sein, die körperliche Ertüchtigung begleitet es en passant. Es ist ein demonstratives Vergnügen. Sobald sich Zwecke mit ihm verbinden, wechselt es Aussehen, Ansehen und Begrifflichkeit: Wandern, Fußreise, Walz.

Die Voraussetzung für die veränderte Landschaftswahrnehmung um 1800 war die zunehmende Distanz des Bildungs- und Besitzbürgertums zur Natur, die die ästhetische Wiederaneignung nötig und möglich machte. Die politischen Umgestaltungen schürten die Lust auf Bewegung. Literarische wie künstlerische Schilderungen galten gleichermaßen als Vorbild wie Abbild: Der Osterspaziergang vor dem Tor in Goethes Faust beschreibt die Begegnung unterschiedlicher Klassen und Schichten. Moritz von Schwinds Gemälde „Spaziergang vor dem Stadttor“ (1827) oder Carl Spitzwegs „Sonntagsspaziergang“ (1841) begleiteten die Etablierung des Spaziergangs als bürgerliche Praktik. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit der Einrichtung sogenannter Volksgärten der naherholende Effekt des Gehens im Grün für alle Klassen und Schichten gartenarchitektonisch in den größer werdenden Städten umgesetzt.

Aber auch der Spaziergang auf ungebahnten Wegen ins Freie, in Feld und Wald bekundete, dass der bürgerliche Landschaftsappetit sich nicht auf die symbolische Okkupation des städtischen Raums beschränkte. Die Anlage von Spazierwegen in die domestizierte Natur, Aussichtsplätze und Ruhepunkte offerierten Überblicke, Nah- und Fernsichten, die den Anspruch auf politische Teilhabe naturalisierten. Während der bürgerliche Spaziergänger den Stadt- wie Landschaftsraum gleichermaßen nutzte, war die bürgerliche Spaziergängerin nur im Regelwerk familiärer Ordnung auf der geselligen Promenade willkommen: Die Formen der Raumaneignung waren sozial und nach den Geschlechtern geschieden. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch wurde das Tagesausgehkostüm der Damen kategorial als Promenadenkleidung bezeichnet.

Die Möblierung der Landschaft und der städtischen Räume mit Wegen, Bänken, Denkmälern und einem kommoden Grün beschränkte sich nicht auf Residenz- und Hauptstädte, doch London, Paris und Wien offerierten die prächtigsten Anlagen. In der südwestdeutschen Residenzstadt Stuttgart initiierte König Friedrich den Bau des Schlossgartens und ließ ihn im Jahr 1808 für die Öffentlichkeit einrichten. Strenge Regeln, angeschlagen auf Tafeln im Park, formulierten das angemessene Verhalten auf den Promenaden.

Und Spazierengehen ist nicht gleich Spazierengehen. Es gibt den belehrenden Spaziergang, den Spaziergang, der Gedanken ordnet und Gespräche möglich macht, den Ertüchtigungsspaziergang bis zur sogenannten Terrainkur im Badeort, die Ende des 19. Jahrhunderts die gesundheitlichen Aspekte des Gehens medizinisch verfeinerten.

Der philosophische Spaziergang, das geistig inspirierte Deambulieren, die Verfertigung des Denkens beim Gehen, ist bereits seit der Antike belegt. Die Funktionen hingegen lassen sich – abgesehen vom Kulminationszeitraum 18. Jahrhundert – historisch kaum ordnen: Das Wissen um den Zusammenhang von Körperbewegung und Gesundheitsfürsorge bestimmte das Spazierengehen in den Badeorten bereits in der Frühen Neuzeit. Studenten spazierten zum Vergnügen seit Beginn der universitären Geschichte, weil sie im Gegensatz zu vielen anderen freie Zeit hatten. Die Philanthropen kultivierten das Spazierengehen am Ende des 18. Jahrhunderts als pädagogisches Instrument: Das Lehren und Lernen durch Anschauung, die Beobachtung von Flora und Fauna, die Natur als pädagogisches Demonstrationsobjekt und der Körper als Erziehungsaufgabe stilisierten das Spazierengehen als probates Mittel der Erziehung. Historisch ordnen lassen sich daher weniger die vermischten Funktionen als die beteiligten sozialen Schichten: Landschaftsgenuss wurde vom adeligen Privileg zum populären Vergnügen.

Getrimmtes Grün

Bereits die literarischen Spaziergänger um 1800 beklagten die Effekte dieser Beliebtheit. Der Dichter Jean Paul lustwandelte lieber einsam als „hundertsam“ und mokierte sich über die bevölkerten Spazierwege. Was die einen schützen wollten, nämlich „unberührte Natur“, wurde historisch durch das Berührtsein durch landschaftliche Reize zugleich obsolet. Die Dichotomie der bürgerlichen Natursicht pendelte sich zwischen Annäherung und Distanz ein, wobei der Zusammenhang zwischen pathetischer Überhöhung und Unterwerfung in der alltagskulturellen Wahrnehmung weitgehend ausgeblendet blieb: Die „Natur“ wurde aus den Städten vertrieben und kehrte als ein getrimmtes Grün, als „Begleitgrün“, wie es in der Stadtplanung heißt, zurück.

Passionierte Spaziergänger und Spaziergängerinnen erholen heute Körper und Geist durch Bewegung und Inspiration im Grünen. Der (familiäre) Sonntagsspaziergang ist als bürgerlicher Klassiker auszumachen. Am beliebtesten und häufigsten ist nun das Spazieren in Paarformation. Im Gegensatz zum Wandern ist seine Dauer begrenzt. Der Spaziergang wird in seiner (Corona-)Alltäglichkeit zwar nicht mehr in der sogenannten Sonntagskleidung getätigt, aber eben auch nicht in sportiver Kleidung. In der Regel benötigt er keine spezifische Ausrüstung und keine größere Vorbereitung. Beim Spaziergang kehrt man nach wenigen Stunden an den (heimischen) Ausgangsort zurück. In Bezug auf die körperliche Ertüchtigung konkurriert der Spaziergang mit einer Vielzahl sportiver Alternativen. Im Lockdown der Pandemie der Jahre 2020 und 2021 fiel diese Konkurrenz teilweise weg und bescherte dem Spazierengehen neue Achtsamkeit. 

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