„Let my people go!“

In biblischen Zeiten: Wie aus dem Gehen der Einzelnen der Gang der Geschichte wurde
Wohin werden die Menschen damals gegangen sein? Wege, die innerhalb der Ortschaft zu gehen waren, etwa zum Brunnen am Tor, zum Haus eines Töpfers oder aufs Feld. Unser Bild zeigt Jesus mit der Samariterin am Brunnen, 1575, von Alessandro Allori.
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Wohin werden die Menschen damals gegangen sein? Wege, die innerhalb der Ortschaft zu gehen waren, etwa zum Brunnen am Tor, zum Haus eines Töpfers oder aufs Feld. Unser Bild zeigt Jesus mit der Samariterin am Brunnen, 1575, von Alessandro Allori.

In biblischen Zeiten gab das Gehen die Geschwindigkeit vor, das Leben vollzog sich im Schritt-Tempo. Und nur Nomaden, Pilger, Händler oder Militärs legten lange Strecken zurück. Neben den schlechten Wegen warteten weitere Gefahren, wie Martin Rösel, Alttestamentler an der Universität Rostock, erläutert.

Und N.N. ging …“ Wollte man diesen Satzanfang durch die Bibel verfolgen, käme man zu allen wichtigen Geschichten – gewissermaßen eine Bibelkunde im Gehen, en passent: Kain ging hinweg vom Angesicht des Herrn (Genesis 4), Noah ging in die Arche und wieder heraus (Genesis 6–9), Abraham und Isaak gingen den schweren Weg zum Berg Morija (Genesis 22), die Tochter des Pharao ging hinab zum Nil und fand ein Schilfkästchen mit Mose darin (Exodus 2), Mose ging nach Midian und traf dort seinen Gott (Exodus 3), danach machte er sich mit ganz Israel auf den Weg aus dem Sklaven- in das gelobte Land. Im Neuen Testament gingen die Magier dem Stern bis nach Bethlehem hinterher (Matthäus 2), wohin Joseph und seine Familie gegangen waren, um sich schätzen zu lassen (Lukas 2). Jesus ging auf einen Berg und predigte (Matthäus 5–7), ging nach Jerusalem und schließlich in den Garten Gethsemane, wo er verhaftet wurde (Matthäus 26). Und dann geht die Kunde aus von seinem Tod und seiner Auferstehung, die Jünger gehen hinaus in die Welt, besonders Paulus auf seinen langen Missionsgängen bis nach Rom. Und noch später wird die Kunde von Johannes so zusammengefasst: Jesus Christus ist der Weg (und die Wahrheit und das Leben auch; Johannes 14,6). Das Gehen ist also ein biblischer Zentralbegriff, auch wenn er kaum je als solcher wahrgenommen wird.

Biblischer Zentralbegriff

Für moderne Menschen ist nicht unmittelbar offensichtlich, wie stark sich eine gehende Gesellschaft von unserer polymobilen unterscheidet. Gehen war zu biblischen Zeiten das Fortbewegungs- und Transsportmittel schlechthin. Schiffe und Boote konnten nur an Gewässern und oft nur saisonal eingesetzt werden. Zwar gab es Wagen, die aber meist von Ochsen gezogen wurden und daher entsprechend schwerfällig und zudem auf einigermaßen gebahnte Wege angewiesen waren. In den Heeren gab es Streitwagen mit Pferden, doch im Bergland war diese Waffe untauglich. Am Schilfmeer übrigens auch, wie die Israeliten laut Exodus 14 dankbar erfahren konnten. Also gab das Gehen die Geschwindigkeiten vor, das Leben vollzog sich im Schritt-Tempo.

Wohin werden die Menschen damals gegangen sein? Als besondere Gruppe wären zuerst die Nomaden zu nennen, bei denen der Weidewechsel im Rhythmus der Jahreszeiten das gesamte Leben prägte. Bei der sesshaften Bevölkerung, die bei den meisten biblischen Texten im Hintergrund steht, ist zunächst an die Gänge der täglichen Beschäftigungen zu denken: Wege, die innerhalb der Ortschaft zu gehen waren, etwa zum Brunnen am Tor (2.Samuel 23) oder zum Haus eines Töpfers (Jeremia 18). Oft genannt wird auch der Gang aufs Feld, wie es etwa im Buch Ruth beschrieben wird. Im Hohen Lied fordert die Sängerin den Freund zum Gang aufs Feld in eindeutig erotischer Absicht auf (7,12), wohl um der Öffentlichkeit der städtischen Enge zu entgehen.

Für weitere Gänge hatten nur vergleichsweise wenige Menschen Anlass. Da waren zunächst die Händler, die regional, aber auch international unterwegs waren. Ausweislich ägyptischer Funde hatte schon im zweiten vorchristlichen Jahrtausend der Fernhandel eine enorme Reichweite, so wurde etwa Lapislazuli aus dem Gebiet des heutigen Afghanistan importiert. Große Entfernungen legten auch Boten zurück, wie die diplomatische Korrespondenz im Archiv des Pharao Echnaton in Amarna belegt. Und natürlich sind militärische Truppen weite Strecken gegangen; zu erinnern ist nur an die Eroberung Samarias durch die Assyrer und Jerusalems durch die Neubabylonier. Auf dem Rückweg führten sie oft genug die Deportierten aus den besiegten Ländern mit sich, die den schweren Gang ins Exil machen mussten. Andere verließen die Heimat aus freien Stücken, aber ebenfalls nicht ohne Not: Zahlreich sind die durch Hunger und Unterdrückung verursachten biblischen Migrationsgeschichten: Die Erzeltern ziehen nach Ägypten (Genesis 12 und 46), Elimelech und seine Frau Noomi treibt die Not nach Moab (Ruth 1). Joseph und seine Familie fliehen vor Herodes nach Ägypten (Matthäus 2).

Hinzu kommen religiös veranlasste Gänge zu Kultorten außerhalb der Siedlungen oder zu zentralen Heiligtümern wie Dan oder Bethel (Hosea 4). Das Wallfahrtslied Psalm 122 fordert auf: „Lasst uns gehen zum Haus des Herrn“ – dem Tempel in Jerusalem. In neutestamentlicher Zeit ging man zum Passafest nach Jerusalem, so auch der zwölfjährige Jesus mit seiner Familie (Lukas 2). Im Alten Testament wird auch von Prozessionen berichtet, etwa bei der Überführung der Lade nach Jerusalem. Hier wird die Lade auf einem Wagen gefahren, während die Menschen sie tanzend begleiten (2.Samuel 6). Wer ohne einen solchen Anlass unterwegs war, konnte leicht als suspekt gelten. Das hebräische Wort für „Läufer“ (meraggel, abgeleitet von rägäl, Fuß) hatte daher auch die Bedeutung „Spion“ (Josua 2).

Wir dürfen uns das Reisen im Altertum aber nicht allzu romantisch vorstellen. In biblischen wie außerbiblischen Texten ist mehrfach von Beschwernissen und Gefahren die Rede: Es gab keine befestigten Straßen im heutigen Sinn, sie wurden erstmals von den Persern und dann besonders von den Römern angelegt. Gerade, gebahnte Wege sind daher der Wunsch aller Gehenden (Jesaja 40,3), verödete, gewundene Wege sind Zeichen des Niedergangs (Richter 5,6). Entsprechend niedrig war das Durchschnittstempo der damaligen Zeit, man rechnet mit einem Tagespensum von dreißig Kilometern. Nur berittene Eilboten kamen auf größere Strecken von ungefähr sechzig Kilometern. So sind auch die Zeitangaben der Bibel nachvollziehbar: Abraham braucht drei Tage von Beerscheba bis Morija/Jerusalem (Genesis 22), Esra 3,5 Monate von Babylon bis Jerusalem.

Zu den schlechten Wegen kamen weitere Gefahren, wie sie noch Paulus benennt (2. Korinther 11,26): „Ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse [die nur auf Furten durchquert werden konnten], in Gefahr unter Räubern … in Gefahr in Wüsten“. Mehrfach werden auch wilde Tiere wie Löwen und Bären als Gefahr genannt (Richter 14,5f.). Daher schlossen sich die Reisenden zu Reisegruppen zusammen, wie Jesu Familie auf dem Weg zur Passafeier (Lukas 2). Der Fernhandel war ohnehin in Karawanen organisiert (Genesis 37,25), mit Eseln und später Kamelen als Tragtieren, während die Menschen meist gingen.

Auf weiten Strecken unterwegs zu sein, gehörte demnach zu den besonderen Erfahrungen im Leben der Antike. Daher wundert es nicht, dass in vielen biblischen Erzählungen entscheidende Ereignisse auf dem Weg geschehen: Ein Mann ging hinab von Jerusalem nach Jericho und fiel unter die Räuber – so beginnt die Geschichte vom barmherzigen Samariter in Lukas 10. Am Ende desselben Evangeliums in Kapitel 24 begegnen die Jünger auf ihrem Weg nach Emmaus einem Mann und erkennen in ihm den Auferstandenen. Das narrative Grundgerüst der Evangelien ist Jesu Weg von Galiläa nach Jerusalem, das der Apostelgeschichte der Weg des Evangeliums von Jerusalem bis nach Rom, getragen von den Füßen der Apostel. Und auch hier geschehen wieder entscheidende Begegnungen auf dem Wege, erinnert sei an die Bekehrung des Saulus, der auf dem Weg nach Damaskus war und zum Paulus wurde (Apostelgeschichte 9).

Göttliche Dimensionen

Im Ersten Testament bilden der Ausgang aus Ägypten und der Eingang nach Kanaan die Grundstruktur der Bücher Exodus bis Josua. Erneut geschehen wichtige Begegnungen unterwegs: Jakob kämpft an der Furt des Jabbok mit Gott (Genesis 32); Bileam trifft auf seinem Weg nach Moab auf Gottes Engel, der ihm befiehlt, Israel zu segnen (Numeri 22). Jona läuft weg vor Gottes Auftrag und muss dann doch nach Ninive hineingehen. Beim Gehen ergeben sich unerwartete Begegnungen, und manchmal haben sie göttliche Dimensionen.

So ist es nicht überraschend, dass in manchen Texten auch die Götter unterwegs sind. Das hat zunächst mit einem anthropomorphen Gottesbild zu tun, bei dem man sich die Götter analog zu Menschen vorstellte. So wird in der Paradiesgeschichte erzählt, dass Gott in der Abendkühle im Garten herumging (das entsprechende hebräische Wort ließe sich sogar romantisch als „sich ergehen“ übersetzen). Andere Stellen erzählen, dass Gott herabsteigt, so in der Turmbaugeschichte Genesis 11 oder beim Besuch bei Abraham Genesis 18. Hier steht die Vorstellung vom himmlischen Wohnen Gottes im Hintergrund. Andere, hymnische Texte besingen das Kommen Gottes aus Seir oder Teman (Richter 5, Habakuk 3), sie bewahren wohl eine Erinnerung daran, dass die Gottesvorstellung Israels ursprünglich nicht aus Kanaan stammt.

Auch andere Götter geraten in den Blick: Elia verspottet die Priester des Gottes Ba’al, indem er sie fragt, ob ihr Gott nicht helfen kann, weil er weggegangen sei (1.Könige 18,27). Im altorientalischen Kontext ist das nicht ganz ungewöhnlich, denn tatsächlich wurden die Götterstatuen auf Prozessionen zu anderen Tempeln gebracht oder unternahmen Reisen zu ihren göttlichen Partnerinnen, um die Beziehung zu erneuern. Weil sie dazu getragen werden müssen, spottet Psalm 115 auf andere Weise: „Mit ihren Händen fühlen sie nicht, mit ihren Füßen gehen sie nicht.“

Gegen solche konkret-gegenständlichen Gottesbilder setzt die Religion Israels metaphorische Aussagen vom Mit-Gehen Gottes. Mit Wolkensäule und Feuerschein begleitet er das wandernde Gottesvolk auf dem vierzigjährigen Weg durch die Wüste und hält ihnen trotz allen Murrens die Treue. Für das Ende der babylonischen Gefangenschaft kündigt Jesaja 40 einen neuen Exodus an: Auf gebahnten Wegen zieht Gott als starker Held mit den Verbannten zurück zum Zion. Der Gott Israels ist ein Gott in Bewegung, daher sieht ihn der Prophet Ezechiel in einer großen Vision in Kapitel eins auf einem mit Rädern versehenen Thronwagen. So seltsam das wirken mag, ist es doch ein wesentlicher Aspekt in der Entwicklung eines universalen Gottesbildes, das nicht an einen Ort oder ein Volk gebunden ist.

Das Leben als Weg

Vergegenwärtigt man sich die Beschwerden und Gefahren, die mit dem Gehen und Reisen verbunden waren, wundert es nicht, dass das Bild vom gebahnten Weg zu einer viel gebrauchten Metapher des Friedens und des Schutzes wurde. Gott gibt den Schritten des Beters weiten Raum, dass seine Knöchel nicht wanken (Psalm 18), im finsteren Tal fürchtet der Wanderer kein Unglück (Psalm 23), wer auf den Herrn traut, geht einher in der Kraft Gottes (Psalm 71). Jesaja 42 verheißt: „Blinde lasse ich einen Weg gehen, den sie nicht kannten, Pfade, die sie nicht kannten, lasse ich sie betreten, die Dunkelheit vor ihnen mache ich zu Licht, und holpriges Gelände wird flach.“

Konsequent weitergedacht kann auch das gesamte Leben im Angesicht Gottes als „Weg“ bezeichnet werden, den die Menschen zu gehen haben: „Der HERR kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht“, so Psalm 1. Abkehr von Gott wird folgerichtig als „anderen Göttern hinterhergehen“ bezeichnet. Die richtige Orientierung auf diesem Weg vermittelt vor allem die Tora als Weisung zu gelingendem Leben, wie es Psalm 119 in vielfältiger Weise variiert und in dem schönen Bild zusammenfasst: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“. So lässt sich verstehen, dass im Judentum die Lehre vom rechten Lebenswandel als „Halacha“ bezeichnet wird, abgeleitet vom Verbum halach, gehen.

Schließlich beinhaltet der Ausblick auf die Endzeit das Gehen der Völker zum Licht (Jesaja 60), ihre Wallfahrt zum Zion, um die Schwerter zu Pflugscharen zu schmieden (Micha 4). Solche Verheißungen haben der Hoffnung der Menschen nach Friede und Gerechtigkeit Nahrung gegeben und haben sie motiviert, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen, die Sklavenhäuser zu verlassen. Aus dem Gehen der Einzelnen wurde der Gang der Geschichte. 

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