Nach dem 20. Juli 1944

Bewegendes Zeitzeugnis von Emmi Bonhoeffer
Klaus und Emmi Bonhoeffer, Verlobungsfoto von 1930
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Klaus und Emmi Bonhoeffer, Verlobungsfoto von 1930.

Emmi Bonhoeffer, die Ehefrau von Dietrich Bonhoeffers Bruder Klaus, verfasste im Jahr 1945 eine detaillierte Chronik über die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs. Die evangelische Theologin Jutta Koslowski veröffentlicht und kommentiert die im Nachlass der Familie Bonhoeffer gefundene Schrift auf zeitzeichen.net nun erstmalig.

Den folgenden Text hat Emmi Bonhoeffer (1905–1991), Tochter des berühmten Historikers Hans Delbrück (1848–1929), aufgeschrieben – sie wollte für die Nachwelt ihre Erinnerungen daran festzuhalten, wie sie die Tage zwischen dem 20. Juli 1944 (dem Scheitern des letzten Attentatsversuchs gegen die Diktatur von Adolf Hitler) und dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 erlebt hat. Emmi Bonhoeffer war verheiratet mit Klaus Bonhoeffer (1901–1945), dem fünf Jahre älteren Bruder von Dietrich Bonhoeffer (1906–1945). Beide Brüder waren (ebenso wie etliche weitere Mitglieder der Familien Bonhoeffer und Delbrück und ihrer weiteren Verwandtschaft) aktiv im Widerstand gegen das Nazi-Regime – auch wenn in der Nachwelt vor allem die Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer aufbewahrt worden ist und die Namen von Klaus und Emmi Bonhoeffer, Rüdiger und Ursula Schleicher und den zahlreichen anderen Menschen, von denen hier die Rede ist, weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Umso wichtiger ist es, dass ihre Stimme Gehör findet.

Dieser Erlebnisbericht wurde im Jahr 1945 abgefasst, unmittelbar nach den berichteten Geschehnissen. Er liegt vor als Typoskript mit einem Umfang von 39 Seiten, die auf verschiedenen Schreibmaschinen getippt worden sind[1]. Dieses Material stammt aus dem Privatarchiv von Cornelie Großmann in Meerbusch, der Tochter von Emmi Bonhoeffer, die den Nachlass ihrer Mutter geerbt hat; von Frau Großmann wurde es mir dankenswerterweise überlassen. Bei ihr war ich zu Recherchen über ihren Vater Klaus Bonhoeffer, über den erstmals eine Monographie publiziert werden soll, die 2022 im Gütersloher Verlagshaus erscheint. Es handelt sich um bisher unveröffentlichtes Quellenmaterial, das hier erstmals zugänglich gemacht wird.

Warum wurde ein derart bedeutsamer Text über diese erschütternden Ereignisse bisher nicht bekannt – obgleich er verfasst ist in gehobener Sprache von einer prominenten Persönlichkeit (Emmi Bonhoeffer erhielt 1954, anlässlich des zehnjährigen Gedenkens an den 20. Juli, das Bundesverdienstkreuz aus der Hand des ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik, Theodor Heuss – mit dem sie im Übrigen auch verwandtschaftlich verbunden war…)?

Die Gründe dafür sind vielschichtig: Sie haben zu tun mit dem Schweigen der Nachkriegsgeneration und ihrem ambivalenten Verhältnis zu den Widerstandskämpfern; mit der zunehmenden Prominenz von Dietrich Bonhoeffer, in dessen Schatten die anderen Familienmitglieder standen; aber auch mit der Tatsache, dass Emmi Bonhoeffer eine Frau ist, deren Beitrag weniger Beachtung fand als derjenige ihrer männlichen Mitstreiter. Auch verspürten zwar viele der unmittelbar Betroffenen das Bedürfnis, ihre Erinnerungen für die Nachwelt festzuhalten – hatten aber gleichzeitig den Wunsch, nicht zu viel an diese schmerzhaften Ereignisse zu rühren. Einer Diskussion vor dem forum publicum standen sie zurückhaltend gegenüber.

Tatsächlich behielt Emmi Bonhoeffer ihren Text erst einmal für sich. Erst Jahre später hat sie ihn anderen Familienangehörigen zu Lesen gegeben und sie um ihre Rückmeldung gebeten. Es existiert (ebenfalls im Nachlass von Cornelie Großmann) ein Schreiben von ihrer Schwägerin Ursula Schleicher, datiert auf den 11. April 1949, das mit den Worten beginnt: »Liebe Emmi! Deinen Bericht aus der Gefängniszeit habe ich mit Interesse gelesen. Es würde mich interessieren, ob Du diese Aufzeichnungen nur für Dich geschrieben hast, oder ob Du damit etwas anderes bezweckst, und davon hängt im Grunde die Beurteilung ab. Mindestens zu dem, was Du über Rüdiger[2] sagst, hätte ich noch einiges zuzufügen und richtigzustellen.«[3]

In jüngerer Zeit wird das Lebenswerk Dietrich Bonhoeffers zunehmend im Kontext des stützenden Systems gesehen, in das er eingebunden war, und das vor allem aus seiner großen Familie bestand.[4] Der Beitrag der Frauen in dieser Familie wird stärker gewürdigt – zum Beispiel durch die Herausgabe der umfangreichen Lebenserinnerungen seiner jüngsten Schwester Susanne Dreß[5] oder durch die Publikation eines Memorandums von Christine von Dohnanyi an den Gouverneur der Alliierten in Berlin.[6] In diesem Kontext ist auch der hier vorliegende Erlebnisbericht von Emmi Bonhoeffer zu sehen. Um des besseren Verständnisses willen wird er durch zahlreiche kommentierende Anmerkungen erschlossen, die vor allem für jüngere LeserInnen gedacht sind (denen die Ereignisse und Persönlichkeiten aus der Zeit vor über 75 Jahren nicht mehr so vertraut sind) und die hoffentlich von Nutzen sein mögen.

20. Juli 1944

Am 20. Juli 1944 abends war ich zufällig in einer Bauernstube in Stawedder[7] (wir waren dorthin gezogen wegen der Luftangriffe auf Berlin), in der das Radio lief. Es wurde erzählt, dass ein verbrecherisches Attentat auf den Führer gemacht worden sei, dieser aber gerettet sei und nur leichte Verletzungen habe. »Die verfluchten Juden«, sagte der Bauer, »aber unser Herrgott hält seine Hand über ihm.« Ich sagte, ich glaube nicht, dass das Juden gemacht haben, ich glaube eher, dass das deutsche Generäle gemacht haben. Der Bauer blinzelte mich schlau an, sagte nichts, schien mir aber zu denken »warten wir mal erst ab, was man am besten glaubt.«

         Auf dem Heimweg, ich ging mit Thomas,[8] der mir auf der Süseler Dorforgel etwas vorgespielt hatte, dachte ich »das wird Klaus[9] das Leben kosten.« Thomas sagte: »Mama, du bist furchtbar leichtsinnig, du weißt doch gar nicht, ob der Mann nicht Nazi ist.« – »Ich habe doch gar nichts gesagt?« – »Na, deiner Stimme hört man aber doch gleich an, wie du dazu stehst«, meinte er.

         Nach einigen Tagen fuhr ich nach Berlin, da ich die Unruhe um meinen Mann nicht mehr aushielt. Es kam keine Post. Als ich um die alte liebe Häuserecke Friedrichsruher Straße/Kunz-Buntschuh-Straße[10] bog, sah ich einen Trümmerhaufen, wo unser Elternhaus gestanden hatte, und oben, zwischen den Dachbalken, die gespenstisch in den grauen Himmel ragten, hatte sich die alte schwarz-weiß rote Fahne,[11] die dort oben 30 Jahre geschlummert hatte, von selbst entfaltet, und wehte in Fetzen über der Ruine.

         Meine Schwester Lene Hobe[12] hatte mit Mann und drei Kindern zuletzt in dem Haus gewohnt, unzählige Male das Dach geflickt, Fenster vernagelt, Türrahmen eingehämmert, Schutt geschippt, im Keller durchreisende Verwandte beherbergt, Justus, Klaus Wahl,[13] Dietrich Wahl[14] – zwischen den letzten Alarmen hatten wir aus klassischen Dramen Lieblingsstellen vorgelesen – das war nun alles vorbei. Das Erdgeschoss stand noch teilweise, die Keller ganz. So waren sie wohl gerettet, aber wo?

Nachbarn wiesen mich nach Wangenheimstraße 3. Auch hier nur noch halbe Räume, rissige Wände, laufendes Wasser. Ich stieg die Treppe rauf. Da stand Klaus in Hemdsärmeln, in jeder Hand einen halben Schrank. »Hübsch, nicht? Heil Hitler!«, sagte er. »Wo kommst du her?« – »Aus Stawedder. Den Kindern geht’s gut. Wie geht es dir?« Wir setzten uns auf eine Kiste hinter einer halben Wand. »Klaus, Mann, was gehen uns diese Klamotten jetzt an?« – »Weiß nicht – aus, alles aus! Dass du gekommen bist…[15] Und der Wahnsinn ist, es wäre nicht nötig gewesen. Es war ja alles so vorbereitet, dass es auch geklappt hätte, wenn Adolf[16] nicht tot ist. Fromm[17] und Remer[18] haben die Sache verraten. »Wo ist John?«[19] – »Der ist raus, mit der Maschine nach Madrid.« – »Warum nicht du?« – »Er ist der Gefährdetere, war zuletzt dauernd mit Stauffenberg und Olbricht usw. zusammen.« – »Und Paul Hase?«[20] – »Nicht zu retten. Unklar, was er gemacht hat. Es scheint, dass er hingegangen ist, Goebbels zu verhaften und dabei selbst verhaftet worden ist, weil Remer ihn verraten hat.« – »Jetzt, was wird aus dir? Wirst du verschwinden?« – »Vorläufig nicht; mal sehn.«

         Wir halfen meiner Schwester, sich notdürftig einzurichten, flickten auch an unserm Häuschen in Eichkamp[21] einige Schäden und ich reiste zurück zu den Kindern.

         Im August kam mein Mann uns noch einmal besuchen in Stawedder. Wir wohnten im Hause Voltmer an der Chaussee zum Strand, die Kinder blieben bei Frau Carrière,[22] so hatten wir wunderbar ruhige Tage, waren mit den Kindern jeden Tag am Strand, das Wetter war wolkenlos schön, unsere Wirtin und besonders ihre Tochter, die Malerin Elke Wulk-Voltmer, hatten uns das Zimmer mit so viel Liebe, Blumen und guten Bildern, z[um] Teil von ihrem Mann, hergerichtet, dass alles wie ein letzter warmer Händedruck des Lebens selbst erschien und auch ganz bewusst von uns so genossen und empfunden wurde. Elke machte eines Morgens die Zeichnung von Klaus, während er Blätter ihres Mannes betrachtete, die dieser aus Italien (wo er an der Front als Fahrer war) geschickt hatte.

         Auf einem unserer Spaziergänge frug ich Klaus: »Wenn du noch verhaftet werden solltest, was soll ich tun?« – »Du kannst gar nichts tun. Wenn einer in den Löwenkäfig fällt, kann man auch nichts machen.« – »Willst du nicht lieber verschwinden?« – »Dann verhaften sie dich, die Kinder,[23] die Eltern,[24] die Geschwister[25] bis ich wieder da bin. Die Eltern! Das halte ich nicht aus.«[26] – »Was wirst du sagen bei der Vernehmung?« – »Das kommt drauf an, was Sie wissen.«

         Kurz nach seiner Rückkehr nach Berlin wurde Justus[27] verhaftet. Er soll den Kommissaren strahlend entgegengegangen sein. Er bekam monatelang keine Lesererlaubnis. Sonst ist er nicht gequält worden. Er hat sich auch, wie er mir später erzählte, ohne Bücher nie gelangweilt. »So richtig gelangweilt, wie in der Schule, wo man bloß dachte, ob’s nicht endlich klingelt, hab ich mich im Gefängnis eigentlich nie.« Er war eine ausgesprochene Mönchsnatur, sah aber doch den eigentlichen Sinn des Lebens in der Wirkung der Persönlichkeit. In dem Brief an seinen Sohn[28] steht: »… So hoch ich die Welt in den Büchern schätzte, so wollte ich doch selbst nicht durch Bücher wirken, sondern von Mensch zu Mensch…« Das hat er auch im Gefängnis – unbewusst – getan. Ein Posten sagte mir einmal: »Ihr Bruder ist wie ’ne Sonne in unserm kalten Bau.«  Denselben guten Mann frug ich einmal, ob mein Mann auch bei Alarm in den Luftschutzkeller käme. »Ne«, sagte er, »die Todeskandidaten dürfen oben bleiben, ist doch viel besser, junge Frau, wenn da eine rein haut, ist man wenigstens gleich richtig bedient.«

5. Oktober 1944

Am 5. Oktober [19]44 erhielt ich in Stawedder durch einen Brief meiner Schwägerin Ursula Schleicher[29] die Nachricht, dass Klaus abgeholt worden sei, wahrscheinlich nur auf ein paar Tage, sie dürften ihn täglich Essen bringen, ich solle mir keine Sorgen machen. Den Kindern sagte ich nichts. Nach Berlin fahren konnte ich nicht, da ich nicht die drei Kinder meiner Cousine[30] aufhalsen konnte, die 30 Klavierschüler unterrichtete und viel unterwegs war. Außerdem schien es zunächst meine Pflicht zu sein, mein Leben für die Kinder zu erhalten. In Berlin waren schwere Angriffe. Aber die Unruhe um Klaus, und das Gefühl, in so einer Situation gehört die Frau zum Mann, vielleicht könnte ich doch irgendwie helfen, ließ mir keinen Schlaf. Meine Cousine hielt mir immer wieder alle Vernunftsgründe vor, die dafür sprachen, dass ich in Stawedder blieb, z.B. auch, dass ich von Staw[edder] aus viel eher durch Päckchen an meine Schwägerin seine Ernährung unterstützen könne usw. Alles endete immer in der Feststellung: »Du kannst ja gar nicht weg, wer soll die Kinder betreuen?«

         Da erschienenen an der Haustür Frau Lucy Johansson und ihre 20-jährige Tochter Edda aus Königsberg geflüchtet; [sie] waren schon in Gleschendorf und Klingberg gewesen und hatten vergebens Quartier gesucht. Bei uns war noch das ›Kuhstall-Zimmer‹ frei. So blieben sie. Nach drei Tagen bot mir Edda Johansson, die meinen Zustand beobachtet hatte, an, die Kinder zu übernehmen.

13. Oktober 1944

Am 13. Oktober morgens um 6 fuhr ich nach Berlin, ging zunächst zu Schleichers, erfuhr, dass am 4. Oktober auch Rüdiger Schleicher[31] verhaftet worden war, und war mittags um 1/2 2 Uhr mit Schleichers treuem Mädchen, der Zwergin Anna, mit einem Essenskorb am Gefängnis Lehrter Straße 3. Anna war, wegen ihrer mitleiderregenden Gestalt, ihrer unbefangenen, sicheren, heiteren Art der beste Begleiter für solche Wege. Ich verdanke ihr viel seelischen Beistand. Ich hatte den Zettel, den man dem Korb beifügen durfte, mit dem Verzeichnis der inliegenden Nahrungsmittel mit meiner Handschrift geschrieben, woraus er sehen sollte, dass ich da war. Der Zettel kam zurück, mit seiner Handschrift stand auf der Rückseite: »Dank. Es geht mir gut. Klaus.« Es war seit 13 Tagen seine erste Rückäußerung. Als ›Neuling‹ warf mich die Erregung etwas um. Anna hörte nicht auf, meinen Arm zu streicheln und mich liebevoll anzuschauen. Etwa 12 Leute, Frauen und Männer, standen an der Pforte mit ihren Körben. In den nächsten sieben Monaten sollte sich hier manche Freundschaft entwickeln.

         Erst viel später, bei einer Sprecherlaubnis, erfuhr ich, dass Klaus die ersten 14 Tage mit den Händen auf dem Rücken verkettet worden war. Nur zum Essen und zur Erledigung der Notdurft wurden die Schellen, auf Türpochen mit dem Fuß hin, kurz gelöst. Nachts blieben sie verschlossen. Nach 14 Tagen, also einen Tag nach meiner Ankunft, hatte er eine neunstündige Vernehmung, die genügend Material für eine Anklage auf Hochverrat (wozu schon Mitwissen und Nichtanzeige vom Umsturzplänen ausreichte) ergab. Darauf wurde die Verkettung auf dem Rücken gelöst und in die Verkettung vorn geändert, die – wie er mir sagte – »ein Kinderspiel« dagegen war, außer [an] den ersten Tagen, bis die Schmerzen der Muskulatur etwas nachließen. Solang war an Liegen oder Schlafen nicht zu denken gewesen. Von andern Misshandlungen hat er mir selbst nichts erzählt. Ich weiß es von Herrn Franke, einem Mithäftling aus der Lufthansa,[32] und durch die Wäsche, die ich abholte. – Die Kommissare, die seinen Fall ›bearbeiteten‹, hießen Baumer[33] und Günther[34] (letzterer ein Sohn des Rassenforschers Günther[35]). Klaus hat mir später bei einer Sprecherlaubnis erzählt, dass er Herrn Baumer (dessen Namen er nur durch mich erfuhr) nach einer Quälerei nur stumm von oben bis unten angesehen hätte, worauf dieser ganz nervös gestammelt habe: »Nein, nein, ich bin kein Sadist!« Einmal muss es eine Art Kampf mit ungleichen Waffen gegeben haben, denn es gelang Klaus, Herrn Günther den Marmor-Asch[en]becher des Schreibtischs ans Schienbein zu fegen, so dass dieser aufschrie, aber natürlich sein Mütchen dann doppelt an Klaus kühlte. Trotz aller Mittel ist von den wesentlichen, tatsächlichen Belastungen nichts herausgekommen. Der Name des Prinzen Louis Ferdinand[36] ist z.B. nie gefallen. Klaus malte mir einmal einen Kreis auf den Tisch der Sprechzelle und zeichnete dann einen schmalen Kegel hinein. Der Posten war hinausgegangen. Da erläuterte er mir: »So bin ich (auf den ganzen Kreis zeigend) und soviel (auf das schmale Stück zeigend) wissen sie. Aber das genügt für’s Todesurteil. Die Sache 20. Juli ist wie ein Hochspannungsdraht, wer mit dem kleinen Finger dranrührt, geht drauf. Ein Glück, dass [Otto] John raus ist.« – »Und Hans John?«[37] – »Er hat sich monatelang bewunderungswürdig gehalten. Auch jetzt ist ihm kein Vorwurf zu machen. Einmal haben eben alle unsre Kräfte ein Ende.« – »Was wird mit ihm werden?« – »Wenn sie nicht ganz verrückt sind, werden sie ihn freisprechen. Ich habe ihn weitgehend entlastet. Aber Freisler[38] soll das ja alles nachher ganz nach Laune machen, da kann man gar nichts prophezeien.«

         Gleich bei der ersten Vernehmung war Klaus gefragt worden, wo er immer gewesen sei, ehe er in die Lufthansa gekommen sei. Wahrheitsgemäß hatte er geantwortet, bei seinem Schwager Schleicher in Luftfahrtministerium, in dem sicheren Gefühl, Schleicher könne nichts passieren, da er tatsächlich nichts gewusst hat, vielmehr absichtlich von den Schwägern etwas herausgehalten worden war, weil er ein so grundguter, offener, rein künstlerisch interessierter Mensch war, voller religiöser Skrupel, [so] dass er für einen ›Verschwörer‹ tatsächlich völlig ungeeignet war. Dann haben sie aber Schleicher verhaftet,[39] ihm sofort entgegengeschleudert »verfluchter Lügner und Hochverräter! Sie brauchen gar nichts zu bestreiten, Ihr Schwager hat bereits alles über Sie und Ihr Mitwissen zugegeben!«[40] (das war der übliche Trick). Schleicher ließ sich dupieren, da er an einem fast krankhaften Selbstbezichtigungstrieb litt, und sagte etwas von »Ha, freilich, ich hab schon gewusst, dass dicke Luft ist.« – Das genügte für die Anklage auf Todesstrafe.[41] Die Hände wurden ihm vorn gefesselt, und als ihm klar wurde, dass er sich unnötig in eine Sackgasse geredet hatte, aus der es bei diesen ›Römern‹ kein Zurück gab, versuchte er sich das Leben zu nehmen, indem er sich den Kopf an der Zellenwand einzuschlagen versuchte. Diese Wand war gleichzeitig Klaus’ Zellenwand. Er klopfte beharrlich nach dem Wächter, wies ihn auf die Nebenzelle, der gutmütige Pförtner Knuth[42] wurde zugezogen und Schleicher soweit beruhigt, dass er abließ. In der Nacht hatte Klaus Halluzinationen, seine Schwester Ursula[43] stünde weinend an seiner Zellentür und überschüttete ihn mit Vorwürfen.[44]

         Für Frau Schleicher war die seelische Situation tatsächlich qualvoll. Klaus war in ihrem Hause verhaftet worden. Er hatte nach einer Rasierklinge gesucht, um sich die Pulsadern aufzuschneiden, da er zu viel wusste, und sah, wie alles lief, und wie offenbar ehrenwerteste, charaktervollste Männer durch die Mittel der Gestapo zum Reden zu bringen waren. Sie hatte ihn am Selbstmord verhindert mit dem Hinweis auf seine Kinder und Fälle wunderbarster Rettung. Nun war ihr Mann durch ihren Bruder zu Fall gekommen.

         Ähnlich war es mit Herrn Kloss[45] von der Lufthansa. Ich lernte die Frau am 2. Februar [19]45 an der Pforte kennen. Als mein Name beim Zurückreichen des leeren Korbes genannt wurde, sprach sie mich an: »Ach, sind Sie Frau Bonhoeffer? Ihr Mann hat meinen Mann so schwer belastet!« – »Das glauben Sie? Sie kennen ihn wohl nicht. Wer hat Ihnen denn das gesagt?« – »Herr Lutz (Direktor der Lufthansa). Er hat gesagt, ihren Mann belastet einen nach dem andern, auch Herrn Franke,[46] der gar nichts damit zu tun hatte!« – »Der gar nichts damit zu tun hatte, sagen Sie. Bringt Sie das nicht auf den Gedanken, er könne ihn grade darum genannt haben, weil ihm gar nichts passieren kann, wenn er sich nicht dupieren lässt?« – »Warum nennt er denn überhaupt Namen?« – »Sind Sie schon mal vernommen worden?« – »Nein.« – »Ich auch nicht, aber ich habe mir Vernehmungen schildern lassen. Da kann man manchmal sich und andre retten, wenn man die Sache auf ein harmloses Gleis zu schieben versteht.«

         Kloss und Franke sind gerettet worden. Hingegen nicht Justus Perels.[47] Wie das passiert ist, weiß ich nicht. Ich glaube, Klaus hat auch ihn genannt. Er war nicht ein Mann, der sich bluffen ließ, sondern äußerst besonnen, und [er] hatte immer mit vorbildlicher Vorsicht gearbeitet, nie telephoniert, keine Briefe geschrieben, sondern alles nur persönlich mündlich kolportiert. Er war ein unermüdlicher Kämpfer, besonders für die Kirche, gewesen. Seine sehr liebe Frau traf ich häufig an der Gefängnispforte und wir tauschten unsere Erfahrungen mit Interventionen aus.

13. Oktober 1944

Gleich am Tage meiner Ankunft in Berlin, am 13. Oktober, war Christel Dohnanyi aus Sacrow da, und frug mich, wie ich zu der Möglichkeit – die freilich noch nicht praktisch sichtbar war – grundsätzlich stünde, Klaus eine Krankheit in die Zelle zuschicken, um ihn in ein Polizeikrankenhaus zu bekommen. Dohnanyi selbst lag mit schwerer Diphtherie, und es blieb ihm wohl dadurch manche Vernehmung und damit die Hauptangst, andere zu belasten, erspart. Aber ich konnte mich dazu nicht so schnell entschließen.[48]

         Nach einigen Tagen ging ich, gegen den Rat meines Schwiegervaters und aller vernünftigen Menschen, ins ›Reichssicherheits-Hauptamt‹, Dezernat Kurfürstenstraße 123, wo die Herren Günther und Baumer saßen und den Fall meines Mannes bearbeiteten.

         Herr Günther empfing mich in seinem Büroraum, in dem ein fast leerer Schreibtisch stand, ein ganz leerer Aktenbock. Die Tür war schräg hinter ihm, er saß am Schreibtisch. Er behandelte mich ›wie Dreck‹, sah nicht auf, wies mit dem Daumen über seine Schulter auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch, wo ich mich hinsetzen sollte. Ich setzte mich nicht hin, sondern ging um den Schreibtisch herum, stellte mich vor ihm hin und wartete, bis er mich angesehn hatte. Dann sagte ich »Heil Hitler« und setzte mich auf den andern Stuhl, ihm gegenüber, so dass ich das Licht im Rücken hatte. Er war ein hübscher mittelgroßer blonder Mensch. »Was wollen Sie?«, frug er. »Ich bin die Frau von Klaus Bonhoeffer und möchte Sie bitten, mir zu sagen, warum Sie meinen Mann verhaftet haben.« – »Darüber geben wir keine Auskunft. Geheime Reichssache.« – »Aber ich bin doch seine Frau und muss doch wissen dürfen, warum er verhaftet worden ist?« – »Das werden Sie sich ja denken können.« – »Eben gar nichts kann ich mir denken, darum komme ich ja zu Ihnen.« – »Hochverrat, machen Sie sich keine Hoffnungen, den sehen Sie nicht mehr wieder.« – »Ausgeschlossen, wie kommen Sie denn darauf?« – »Sie brauchen gar nichts zu bestreiten, ich habe auch gar keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten, er hat schon gleich bei der ersten Vernehmung ein umfassendes Geständnis abgelegt. Übrigens kann es sein, dass Sie von nichts wissen, das hat er auch gesagt. Sie waren ja wohl schon längere Zeit weg von Berlin?« – »Ja, aber ich stehe Ihnen gern für jede Auskunft zur Verfügung, da müssen ja furchtbare Missverständnisse vorgekommen sein.« – »Was glauben Sie denn, warum er verhaftet worden ist?« – »Ich kann mir schon denken, dass es Ihnen sehr belastend vorkommen muss, dass er Umgang mit Männern gehabt hat, die nun plötzlich für Sie ein ganz bestimmtes Gesicht haben. Aber vergessen Sie nicht, dass er in seiner Stellung bei der Lufthansa mit sehr vielen Menschen Umgang hatte, was einfach zu seinem Beruf gehörte. Wenn er Schuster wäre, wäre dieser Umgang auffallend, aber so besagt er gar nichts.« – »Nein, nein, Sie wissen das nicht so, die Sache liegt schon sehr dick. Wenn wir sie brauchten, hätten wir Sie uns schon geholt. Sie können gehn.«

Ich stand auf, wartete, bis er mich ansah, und sagte: »Sie tun mir leid.« – »Wieso ich?« – »Sie waren sicher mal ein glücklicher Mensch, und nun – glückliche Kinder berauben, glückliche Ehen zerstören, gute deutsche Patrioten an den Galgen bringen – das kann doch keinen Spaß machen.« Er sah mich sehr nett an, stand auf, begleitete mich zur Türe, reichte mir die Hand, über die er sich ritterlich beugte. – Ich habe ihn nie wieder gesehen. Es war noch irgendwie von den Kindern die Rede gewesen, er hatte jedenfalls gesagt, den Kindern solle ich noch nichts sagen. Daran knüpfte ich meine Hoffnung. Er hielt es also selbst noch nicht für ganz sicher. Am 30. Oktober war der Geburtstag meiner Cornelie.[49] Ich rief bei ebendiesem Dezernat an, um die Erlaubnis zu erwirken, ein Kinderbuch in die Zelle reichen zu dürfen, damit er eine Widmung hineinschreiben könne. Herr Baumer war am Apparat. Ich sagte, ich möchte Herrn Günther sprechen, er habe mir gesagt, ich solle den Kindern noch nichts sagen, und wenn unsre Tochter am Geburtstag keinen Gruß vom Vater hätte, könne ich die Tatsache nicht mehr verbergen. Er besprach sich mit Günther, kam dann wieder an den Apparat und sagte: »Es ist zu spät, Sie können es auch den Kindern jetzt sagen. Sie dürfen nichts herein geben.«

         Ich antwortete: »Wenn ich hier doch gar nichts für ihn tun kann und Sie mich auch nicht brauchen, kann ich ja wieder abfahren.« – »Ja, das wird das beste sein. Heil Hitler!«

         So war er in dem Glauben, ich führe ab. Statt dessen fuhr ich sofort ins Gefängnis, nahm das Kinderbuch, eine Zeichnung von mir, die Elke Voltmer noch in Stawedder gemacht hatte, den Essenskorb und einen Zettel, auf den ich den Spruch schrieb, den mir Elke einmal notiert hatte: »Was aber wird mit dem sein, der den höheren und unvergänglichen Werten traut? Er wird den Fuß in Ungewittern und das Haupt in Sonnenstrahlen haben, und immer größer sein, als was ihm begegnet.« Ich glaube, er ist von Claudius.[50] – Der nette Pförtner Knuth hatte noch keine Sperranweisung erhalten, gab alles hinein, ich bekam das Buch mit der Widmung, kraklig – offenbar in Ketten – geschrieben zurück.

         Etwa 14 Tage später machte Herr Baumer Stichproben an den Essenskörben. Ich hatte auf dem Zettel, auf dem die Nahrungsmittel notiert waren, noch einen Zusatz geschrieben: »Mit unserer Kriegsschädenssache komme ich nur langsam voran.« Gemeint war natürlich seine Sache. »Die Akten sind nicht da.« Das hieß: »Ich bekomme keine Einsicht.«

         Diesen Zettel fing Herr Baumer ab. Er wartete unter uns, unerkannt, bis mein Korb zurückkam und mein Name aufgerufen wurde. Da fuhr er auf mich los: »Wer sind Sie?« – »Ich bin Frau Bonhoeffer.« – »Ich denke, Sie sind abgereist!?« – »Nein, ich konnte noch nicht abreisen, wegen unserer Kriegsschädenssache.« – »Was unterstehn Sie sich, hier Zettel an Ihren Mann beizulegen?« – »Ich habe nur die Esswaren bezeichnet und zu seiner Sache gar nichts geschrieben!« – »Wozu die Esswaren? Glauben Sie, Sie werden hier bestohlen?« – »Zur Erleichterung für die Beamten, ist mir gesagt worden, solle man Verzeichnisse beilegen. Ich habe nichts Verbotenes getan.« – »Machen Sie, dass Sie hier wegkommen, rate ich Ihnen, diese Weiber hier alle, die nichts zu tun haben, als hier rumzusitzen, sollte man alle in Arbeitslager stecken!« In der Art pöbelte er noch eine Weile herum. Ich nahm meinen Korb und ging heim.

         Als ich mich beruhigt hatte, wurde mir klar, dass er nur so wütend war, weil er gehofft hatte, eine ›Geliebte‹ von Klaus Bonhoeffer zu erwischen, denn diese wussten meist viel mehr als die Ehefrauen. Er hatte schon mehrmals Zettel von mir kontrolliert und aus der Unterschrift gesehen, dass unsere Beziehung die von Liebenden war. Nun dachte er, die Frau ist weg, also hat er hier ein Verhältnis. Das ist interessant. Daher die Enttäuschung und Wut.

         Also getraute ich mich am nächsten Tag wieder hin, vorsichtig von Pfeiler zu Pfeiler des demolierten Ganges forschend, ob die Luft rein sei. Zettel ließ ich weg.

         Nach einem furchtbar schweren Tag für Klaus, an dem er erst abends um 1/2 11 Uhr von einer Vernehmung, die morgens um 9 begonnen hatte, zurückgebracht worden war, fand er Blumen in seiner Zelle und den Spruch: »Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein soll unsrer Liebe Verknotigung sein.«[51] Nach dieser Vernehmung wussten sie endgültig genug, er bekam Rauch- und Leseerlaubnis. Allein 4 oder 5 Stunden war er darüber vernommen worden, ob und wie es möglich sei, aus der Versorgungskasse der Deutschen Lufthansa eine Million zu entwenden und ins Ausland zu bringen. Zwei weitere Beamte waren zu dieser Vernehmung zugezogen worden. Er bestritt natürlich diese Möglichkeit. Sicher hat er durchschaut, dass man ihm eine Brücke bauen wollte, dass die Kerls sich mit der Million draußen eine Existenz schaffen wollten und ihm dafür die Freiheit versprechen. Aber er ging nicht darauf ein. Am Ende haben sie im Tran von ihm die Unterschrift erpresst, dass er eine Million unterschlagen habe. Dies war aber so plump, so unwahrscheinlich und praktisch auch gar nicht möglich, dass der Punkt in der Anklage von selbst weggefallen ist.

         Nach einigen Tagen erhielt ich ein Buch von ihm zurück, in das er vorn meinen Namen geschrieben hatte, fein unterstrichen. Meine Schwägerin Dohnanyi wusste sofort, dass dies bedeutet »Hier steht etwas drin für Euch.« Ihr Mann war ja schon seit April [19]43 verhaftet, und sie hatten genaue Verständigungsmöglichkeiten entwickelt. Wirklich fanden wir auf der letzten Seite einen feinen Punkt unter einem großen L. Auf der vorangehenden unter einem i, auf der davorliegenden unter einem e. Da hatten wir den Schlüssel. Ich antwortete auf einer Zeitung, in welche Brote gewickelt waren. Aber das Licht in der Zelle war so schlecht, dass er die Punkte nicht gefunden hat, zumal sie von den Fehlern des schlechten Papiers fast nicht zu unterscheiden waren. Im nächsten Buch kamen seine Fragen nochmal. Ich antwortete noch am gleichen Tag. Knuth wunderte sich, dass ich nochmal kam: »Der hat doch genug zu lesen«, sagte er gutmütig, blätterte das Buch oberflächlich durch und schickte es rauf in die Zelle.

         Einmal bat er auf einem Zettelchen: »Bitte um Pulswärmer. Nicht zu dick. Es ist hier geheizt.« Da wusste ich, dass er in Fesseln war.

         Gleichzeitig ging tatsächlich ein Kampf um unsere Kriegsschäden, besonders das Picasso-Bild, das in der Galerie Gurlitt[52] verbrannt war. Mit diesem Laufereien motivierte ich den Kindern gegenüber meine Unabkömmlichkeit in Berlin, da der Vater dafür keine Zeit habe.

         In unserm Häuschen in Eichkamp, in dem das Wohnzimmer mit dem Flügel von Frl. Petersen[53] schon ausgebrannt war, wohnte in dem kleinen Bürozimmer im 1. Stock eine Frau Teichmann, Bahnbeamtin, im Kinderzimmer ihre Tochter Dorchen, 17-jährig, längst kein junges Mädchen mehr, im Oberstock ein Glaser Lahonge, ›Freund‹ von Frau Teichmann. Dazwischen ich in unserm Schlafzimmer. Frau Teichmann war aber, trotz ihres federleichten Lebenswandels, eine ganz klare, in ihrer Art starke Persönlichkeit, ihre Tochter nicht. Von Frau Teichmann, wie auch besonders von der guten Frau Schulz, die gegenüber das verlassene Haus des Geheimrat Heindel[54] hütete, und in den leeren Räumen auch einige Gäste, meist Männer der Organisation Todt,[55] beherbergte, erfuhr ich die rührendste Unterstützung materieller Art, immer hatte ich etwas Gutes fürs Gefängnis, oft auch noch für meinen Bruder Justus und Hans John. Außerdem nahm Frau Schulz besonders so innigen aufrichtigen Anteil am Ergehen meines Mannes, dass ich mich ihr fürs Leben wie einer Schwester verbunden fühle. Das ist das Positive an so einer Zeit: Sie scheidet die Spreu vom Weizen. Wer zusammen gehungert, unter Bomben im Keller gesessen, um geliebte Menschen gezittert hat, der kennt sich wirklich. Und was sich einem da erschließt, ist unverlierbarer Besitz, der tiefer und wirklicher beglückt als alle irdischen Güter, die man freilich auch schätzen lernt, wenn man sie nicht mehr hat.

         Sehr viel war ich bei Schleichers, habe die ersten Monate sogar ganz dort gewohnt, weil es die Versorgung unserer Männer vereinfachte, wir gingen abwechselnd für beide zum Gefängnis. Außerdem war die Nähe von Vater Bonhoeffer stärkend und beruhigend und die Mutter wollte doch auch genau über alles Bescheid wissen und man beriet gemeinsam. Dietrich wurde von der Mutter und der Braut, Maria v[on] Wedemeyer[56] betreut, die außerdem noch ihre Vettern Schlabrendorff[57] und Truchseß[58] versorgte und bei den Eltern wohnte. Wir hatten also alle die gleichen Interessen, reagierten aber doch sehr verschieden auf die Ereignisse. Christel (Bonhoeffer-)Dohnanyi versorgte ihren Mann von Sacrow aus, musste sehr vorsichtig sein, da sie, aus der Haft entlassen, sich hatte verpflichten müssen, sich in keiner Weise um die Angelegenheit ihres Mannes zu kümmern. Trotzdem war sie – durch Kassiber[59] – immer genauestens im Bilde über alle Vernehmungen, die ihr Mann am Krankenbett über sich ergehen lassen musste und hat vor allem ihre ganze Energie daran gesetzt, das belastende Material, das sich noch im OKW[60] befand, vernichten zu lassen. General Beck[61] wollte es nicht vernichten, weil er es zu wichtig fand für später als Beweis für die Geschichte, dass diese Männer das Richtige für Deutschland gewollt haben und es zu einer Zeit verwirklichen wollten, als es noch realisierbar war. Er hat die Akten in der Heide in der Nähe des Jagdhauses des Obersten Schrader[62] vergraben lassen, aber nur zum Teil, denn die schwersten Belastungen für Dohnanyi selbst sind nachher im Bunker in Zossen, wohin die Spionage-Abwehr verlegt worden war, von der Gestapo gefunden worden. Der Kommissar Sonderegger[63] warf Dohnanyi den ›Aufruf ans deutsche Volk‹ aufs Krankenbett mit den Worten: »Sie wollen doch nicht behaupten, dass das einer von den blöden Offizieren gemacht hat? Das haben Sie doch gemacht!«

         Ich glaube Mitte November[64] war es, dass ich durch einen Besuch beim Oberstaatsanwalt Dr. Görisch[65] im Volksgerichtshof in der Bellevuestraße neben dem Esplanade-Hotel, erfuhr, dass die Sache meines Mannes von der Gestapo nunmehr an die Staatsanwaltschaft des Volksgerichtshofs abgegeben worden sei. Görisch machte mir als Mensch keinen schlechten Eindruck. Er war sehr ernst, bescheiden, und schien an seiner Situation nicht leicht zu tragen. Natürlich teilte er nicht unsere Auffassungen, war vielmehr ein ganzer ›Römer‹, der es für seine vaterländische Pflicht hielt, die Heiligkeit seines Kaisers Hitler gegen Revolutionäre zu schützen, damit die Kraft des Landes ungebrochen bliebe; aber er war kein Zyniker, er sah schlecht aus, er tat mir leid. Bei unserm ersten Gespräch sprachen wir beide nur halblaut und sehr erregt. Ich fühlte, dass sachlich nichts zu machen war und ging nur aufs Menschliche, sagte etwa: »Nicht wahr, es kann doch nicht sein, dass es Ihr Wille ist, dass edle deutsche Männer umgebracht werden?« – »Nein, sicher nicht, aber Sie glauben nicht, wie uns dieser 20. Juli vor dem Ausland geschadet hat! Ein scheinbarer furchtbarer Schwächebeweis! Wir müssen den Gegenbeweis liefern.« – »Glauben Sie ernstlich, dass ihre Maßnahmen ein Stärkebeweis sind?« – »Gnädige Frau, ich darf mich mit Ihnen in diesen Räumen so nicht unterhalten…« Ich ging. Draußen wurde mir klar, dass jetzt wohl nicht mehr Herr Günther, sondern Görisch selbst zuständig sei für Sprecherlaubnis. Ich fasste mir nochmals ein Herz, ging wieder hinein und frug, ob das so sei. Er bejahte, füllte mir sofort ein Formular auf 15 Min[uten] Sprecherlaubnis aus, ich fuhr damit direkt zum Gefängnis, wurde von einem Posten über den Gefängnishof in den kalten Bau geführt, sah zum ersten Mal die langen Gänge mit dem zahllosen Türen ohne Klinken, die durchbrochenen Treppen, und wurde in eine Zelle gleich neben dem Eingang geführt, die ganz wohnlich wirkte mit relativ großem Fenster in Augenhöhe, blau-weiß kariertem Tischtuch auf kleinem Tisch und zwei Holzstühlen mit Lehnen. In der Ecke stand ein dritter Stuhl für den Posten.

         Inzwischen wurde mein Mann aus seiner Zelle geholt, wusste nicht, ob zur Vernehmung oder zur Entgegennahme eines Befehls, und verbarg mühsam seine Erregung, als er mich sah. – Wir setzten uns dann vorschriftsmäßig korrekt in kleinem Abstand auf die beiden Stühle am Tisch und ich fing das Gespräch mit gewollt harmloser Stimme an: »Ich darf dich fragen, welchen Anwalt du zu deiner Verteidigung haben möchtest.« (Dies war plumpe Lüge, denn zur Sache durften wir uns überhaupt nicht unterhalten, aber der Posten protestierte nicht.) Klaus wollte am liebsten Wergin[66] haben, aber es war sehr zweifelhaft, ob dieser, Nicht-Parteigenosse, für 20. Juli-Sachen zugelassen würde. Unter den Offizialverteidigern schien Weimann[67] das kleinste Übel zu sein. Außerdem war sein Bruder Assistent beim Vater Bonhoeffer, so dass die Möglichkeit gegeben schien, wenigstens etwas persönliches Interesse zu wecken. Ich frug dann noch nach unserer Steuernummer, da auf dem Formular stand: »in Steuer- und Privatangelegenheiten« und erzählte möglichst viel von den Kindern, was immer Erfreuliches es zu erzählen gab. Die 15 Minuten waren vorbei. ­

         Alle 14 Tage konnte ich mir so eine Sprechererlaubnis bei Herrn Görisch holen. Manche Frauen setzten es sogar öfter durch mit fingierten Dringlichkeiten. Ich hielt es aber für richtiger, ihn[68] nicht zu verärgern im Kleinen, zumal wir ja einen guten Schriftverkehr entwickelt hatten. Ich wusste alles, worüber er vernommen worden war, in welchem seelischen und körperlichen Zustand er, Schleicher, Hans John, Perels waren, konnte manche Wünsche erfüllen auch für andre Häftlinge, die er mir nannte, die niemanden in Berlin hatten, der sich kümmerte. An Hans John gab auch Frau Schleicher öfter Speisen und Cigaretten ab, wir veranlassten auch das Mädchen seiner Wirtsleute in Dahlem, ihm regelmäßig Essen zu bringen, seit eine Frau Rosenberg,[69] die ihn zuerst rührend versorgte, selbst verhaftet worden war. Sie ist später freigelassen worden. (Frau R[osenberg] war verhaftet, weil der Hauptmann Gehre[70] – unter dem Decknamen Fabrizius – bei ihr als Untermieter gewohnt hatte.)

         Über Weihnachten war ich bei den Kindern in Stawedder. Ich sagte ihnen nun, dass Klaus auch verhaftet sei, wie sie es nun schon von Onkel Justus, Onkel Rüdiger, Onkel Hans Dohnanyi, Onkel Dietrich Bonhoeffer, Onkel Ernst Harnack[71] gewohnt waren, und konnte nur so den beiden Großen (13- und 10-jährig) verständlich machen, dass ich wieder nach Berlin müsse, um zu helfen bei der Versorgung und dass sie wieder heraus kämen. Sie sahen es ein, aber der Abschied war so schwer. –

3. Januar 1945

Am 3. Januar fuhr ich wieder nach Berlin. In meiner ersten Karte an die Kinder steht: »… Papa geht es gut. Wir können ohne Sorge sein. Ich sprach die Großeltern, die sich sehr über Eure Weihnachtsgeschenke gefreut haben und Euch von Herzen grüßen. Auch über Onkel Justus, Hans und Dietrich klingen die Nachrichten besser.[72] Auch haben alle recht schöne Weihnachten gehabt mit Bäumchen und Lichtern. Onkel Rüdiger hat die Geige drin gehabt und alle haben gesungen. Lebt wohl Herzenskinder, seid ganz unbeschwert und heiter. – «

         (Thomas hat in dieser Zeit angefangen, in der Bibel zu lesen. Ehrengard Delbrück[73] hat mir erzählt, sie habe sie in seinem Rucksäckchen gefunden, das er bei sich hatte, als die Kinder bei der Vertreibung aus Stawedder durch die Polen über Land gingen, um Unterkunft in Gronenberg zu suchen. Seine Lieblingsbeschäftigung war, Kalender zu machen, bei denen er über jeden Monat einen Bibelspruch schrieb, den er gefunden hatte und der ihm etwas bedeutete.)

         In Berlin wohnte ich diesmal wieder in der Alten Allee[74] zwischen jenem sonderbaren Konsortium, das sich noch um drei Holländer vermehrte, die von den Deutschen gezwungen worden waren, bei der Organisation Todt zu arbeiten. Es waren sehr ordentliche Leute, die mir vor allem darin nützlich waren, dass sie die Reparaturen am Haus – das Dach hatte mir Klaus von Dohnanyi schon wunderbar geflickt – machten, da es ihr eigenstes Interesse [war], dass es nicht überall hereinregnete und zog. Wir lagen ja zwischen dem Rangierbahnhof Grunewald, der Flakaufstellung am Messeberg, den O[rganisation]-T[odt]-Lagern, unweit das Funkturmgelände, auch ein beliebtes Abwurfziel. Die O[rganisation]-T[odt]-Männer, die gegenüber bei Frau Schulz einquartiert waren, hatten dort im Garten einen ausgezeichneten ganz kleinen Erdstollen gebaut, in dem ich freundliche Aufnahme fand. Er war behaglicher als unser Keller, der auch gut abgestützt war, weil man am meisten fürchtete, lebendig begraben zu werden. In so einem kleinen Erdloch war man entweder tot oder nicht getroffen. Inzwischen waren die Angriffe erheblich ungemütlicher geworden, ich hatte sehr schlechte Nerven dafür. Erst allmählich lernte ich wirkliche Gefahr von etwas entfernterer unterscheiden.

         An die Kinder schrieb ich: »Papa fühlt sich bei Angriffen sehr geborgen in der Nische im Bett hinter der dicken Mauer und bei dem kleinen Fenster. Er bedauert uns, dass wir aufstehn müssen, derweil er liegen bleiben darf.«

         Unvergesslich wird mir der dicke O[rganisation]-T[odt]-Mann bleiben, der immer als letzter in den Stollen kriechen musste, weil er mit seinem Bauch gleichzeitig den Eingang verschloss. Er war Rheinländer gutmütigster Art, witzelte ununterbrochen, hat mir manches Stück Speck fürs Gefängnis ›organisiert‹ und manche gute Zigarre. Eine solchen Deutschen, je mehr so viel nahe begegnet sind, erweckten immer das Gefühl für die Tragik, was da an menschlicher Qualität vor den falschen Wagen gespannt wurde! Und dieselben Menschen werden nun wieder aufgrund von Fragebögen vor gar keinen Wagen gespannt, sondern ›bestraft‹.[75] Das ist ein Gebiet, wo es sich in deutlichster Weise auswirkt, dass unsere ›Köpfe‹ noch alle vor Torschluss vernichtet worden sind. Die wenigen Geretteten können trotz ihres Prestiges nicht an gegen die wohl von allen Einsichtigen vorausgesehene Riesenwelle von Hass und Erbitterung, die sich nun über unser Volk ergießt, ergießen muss. Und wenn diese Welle verebbt sein wird, die sie vielleicht auch nicht hätten aufhalten können, wird es sich noch mehr zeigen, dass die ›Köpfe‹ fehlen.

         Das Rüdiger Schleicher seine Geige im Gefängnis haben durfte (ein Gedanke seiner Frau), verdankten wir auch den gutmütigen Pförtner Knuth.[76] Es war seelisch die Rettung für Schleicher, der so sehr schön in Doppelgriffen spielen konnte, das absolute Gehör hatte, nun anfing, Choräle vierstimmig zu setzen und seiner gequälten Seele Entspannung geben konnte. Klaus sagte mir »Rüdigers Geige – das war eine geniale Idee.« Da er Zelle an Zelle mit Klaus wohnte und Klaus so besonders schön pfeifen konnte, haben sie bald ›zusammen musiziert‹, in der Weihnachtszeit, als die Kommissare verreist waren, herrschte im Gefängnis überhaupt ein etwas menschlicherer Ton, die Zellentüren der ›Musiker‹ wurden nur angelehnt, Häftlinge bestellten sich Lieder, so Ernst Harnack am Vorabend seiner Hinrichtung ›Jerusalem, du hochgebaute Stadt! Wollt Gott, ich wär in Dir!« –

         Knuth, ebenso wie Vaterott,[77] sein Amtskollege, beides SS-Obergruppenführer (oder wie der Titel hieß), waren grundanständige Menschen. Vaterott war zum Beispiel unbestechlich,[78] nahm aber für Häftlinge, die keine Betreuer hatten, immer gern Brotmarken an, für die er dann von seinem Geld Brot kaufte. Mit Knuth konnte ich folgendes Gespräch führen: »Herr Knuth, wenn ich Ihnen Frauenkleider für meinen Mann bringe, lassen sie ihn mir dann morgens mit den Aufwartefrauen heraus?« – »Wir haben ja keine Aufwartefrauen, bei uns wird alles von Männern, von Häftlingen gemacht.« Dabei sah er mich todtraurig an. »Es macht keinen Spaß, der Harnack war auch so ein guter Mensch…«

         Vaterott ist dann von den Russen erschossen worden,[79] Knuth wäre beinahe durch einen entlassenen Häftling gerettet worden, aber Frau Vaterott[80] soll nicht geruht haben, bis auch ihn die Russen gefunden und getötet haben. Frau Vaterott, das war der Typ, mit dem Hitler groß werden konnte. Ich habe sie nie gesehn, nur diese Denunziation von ihr gehört. Lumpen gibt es in jedem Volk und keines soll sich rühmen, ehe es nicht der Versuchung widerstanden hat, durch einen Lumpen mächtig und aus dem Elend befreit zu werden. So stellte sichs der urteilslosen Masse dar.

         Mehrmals war ich beim Amtmann Thiele[81] im Volksgerichtshof, um zu erfahren, wann der Verhandlungstermin angesetzt sei. Immer waren die Akten »noch nicht da«, d.h. es war noch Zeit. Endlich, Mitte Januar wohl, waren sie da. Er galt für einen gefürchteten Teufel, sah auch genau wie ein Teufel aus, schwarzhaarig, mit stechenden blank-braunen Augen, goldbetresster SA-Uniform, zackiger Stimme. Er las in meinem Beisein die Anklage durch, die nur 1 1/2 Seiten lang zu sein schien.

         Dazwischen sah er mich kopfschüttelnd mit bedenklichem Ausdruck an, dann las er weiter. Dann sprach er: »Nee, diese Männer! Da hat der nu seine gute Stellung gehabt, Frau und Kinder, ein schönes Häuschen in Eichkamp, noch nicht genug, da muss er noch Luftfahrtminister werden wollen!« Ich dachte: »Teufel? Nein, plattester, dämlichster Spießer, da gibt’s keine Brücke, da gibt’s nur schmieren.« Ich bot ihm eine Cigarette an und sagte: »Aber wissen Sie, ein guter Familienvater!« – »Na, ja«, meinte er, »Muttchen war lange verreist mit den Kinderchen, da ist Vati in schlechte Gesellschaft gekommen, so sieht mir das aus!« – »Hm«, sagte ich, »mir sieht’s zwar etwas anders aus, aber was meinen Sie, was macht man jetzt? Können Sie den Termin nicht noch ein bisschen verschieben?« – »Ach, wozu verschieben, ich sage immer, was sein muss, muss sein. Glauben Sie, der Gessler[82] hätte den Wilhelm Tell laufen lassen, wenn er ihn erwischt hätte?« Ich staunte, dass er überhaupt ›Wilhelm Tell‹ kannte, und sagte: »Sicher nicht, aber der Tell war doch eigentlich ein ganz sympathischer Herr, finden Sie nicht?« – »Mag sein, aber ich bin nun mal Angestellter bei Herrn Gessler.« Er war sozusagen ›Persönlichkeit im Spießbürgerrahmen‹, seine Frau war sicher stolz auf ihn. Er berät nicht noch wegen des Anwalts, empfahl Herrn Weimann, weil er der einzige von den Offizialverteidigern sei, auf den Herr Freisler etwas höre, »viel zwar nicht, denn meist weiß er schon vorher, was er will, aber doch ein bisschen. Aber wenn Sie wollen, kann ich auch einen Privatanwalt für ihren Gatten benennen, die Zuteilung des Anwalts entscheide ich nämlich, und davon hängt manchmal viel ab!« Dabei strich er sich die geschwellte Brust. Leider war es nicht richtig, oder nicht mehr lang richtig, was er sagte: Für 20. Juli-Sachen wurden nur noch Offizialverteidiger zugelassen.

         Die Eltern waren zunächst allein bei Herrn Weimann gewesen, und ich hatte auch eingesehn, dass die Wirkung besonders vom Papas Persönlichkeit allein die stärkste sein musste. Sie hatten keinen schlechten Eindruck von ihm. So ging ich zunächst gar nicht zu Weimann. Erst Ende Januar ging ich, auf Klaus’ ausdrückliche Bitte, auch zu Weimann. Er war korrekt, aalglatt, nicht unfreundlich, machte aber gar keine Hoffnung. »Es liegt zu dick, man wird nichts machen können.« – »Was wird ihm denn eigentlich vorgeworfen?« – »Das darf ich Ihnen ja nicht sagen, geheime Reichssache, aber sagen Sie mal, war er denn ein brennend ehrgeiziger Mensch?« – »Ehrgeizig? Mein Mann? Wer erzählt Ihnen so etwas?« – »Na, wollte er nicht Luftfahrtminister werden?« »Er? Wollte? Sollte vielleicht, weil er was davon verstand und kein Nazi war, aber wollte?« Ich habe nur immer von ihm gehört: Die Karre nachher aus dem Dreck zu ziehn, das müssen Idealisten sein! Nichts wie Undank werden sie ernten. Komischer Ehrgeiz.« – »Hm«, sagte Weimann, »aber er hat da einen Umgang gehabt…« – »Was heißt Umgang gehabt? Er war schließlich leitender Mann bei der Lufthansa, mit wem hat er da nicht alles umzugehn!« – »Ja, ja, schon recht, aber Gespräche muss er da geführt haben…« – »Wieso Gespräche geführt? Ist es einem leitenden Manne nicht mehr erlaubt, selbstständig zu denken? Ist es ein Verbrechen sich zu überlegen: Was wird aus der deutschen Luftfahrt, wenn nicht wir der Welt den Frieden diktieren?« – »Weiter, weiter, bitte, wissen Sie was? Übernehmen Sie die Verteidigung, das gibt’n Ding!« Wir mussten beide lächeln. Dann sagte er sehr ernst: »Es ist so, das ist heute schon ein Verbrechen. Für Herrn Freisler heißt es, wie bei Christus: Wer nicht für uns ist, der ist wider uns; und wer wider uns ist,[83] – « – »den bringen sie um«, fuhr ich fort, »ohne sich zu überlegen: Was wird aus Deutschland!« – »Sie sprechen sehr ungeniert, gnädige Frau…« – »Ich muss mich wohl noch bedanken, dass sie mich nicht dafür verhaften lassen.« – »Ja, das können Sie, aber sie brauchen es auch nicht zu tun. Ich beiße nicht.« – »Nein, den Eindruck habe ich. Aber ich glaube, Sie sind ein armer Kettenhund.« – »Vielleicht…«

         Zuhause setzte ich mich hin und schrieb eine Schilderung der Persönlichkeit meines Mannes, entwickelt aus seinem Elternhaus, seinem Freundeskreis, in dem Musik, Kunst und Familienleben so vordringliche Rollen spielten, dass für ›Ehrgeiz‹ gar kein Raum blieb. Ich schilderte die Aufführung der achtstimmigen Kantate ›Lobe den Herren‹ mit Streichquartett, Flöten und Cembalo, nur von Kindern, Enkeln und Schwiegerkindern dem ehrwürdigen Vater Bonhoeffer zu seinem Geburtstag aufgeführt,[84] die von einer Hausmusikkultur zeugte, wie sie höchstens zu Bachs Zeit üblich war, schilderte die Proben und die Hingabe und die Verwurzelung in dieser Welt, die nötig ist, dass so etwas zu Stande kommen kann. Ich brachte es am nächsten Morgen selbst hin, er war nicht da, und ich legte einen Zettel dazu: »Antwort auf Ihre Frage bezügl[ich] politischen Ehrgeizes.« Er hat es sehr nett aufgenommen, rief mich an und sagte, er habe nun allerdings ein etwas anderes Bild gewonnen, aber es seien eben einige ganz schwere Belastungen da…

         Die schweren Belastungen, die nachgewiesen waren, waren immer wieder nur der ›Umgang‹ mit Harnack,[85] v[on] Hassell,[86] Kaiser,[87] Leuschner,[88] Leber[89] und so weiter. Was sie gesprochen hatten, war gar nicht gesagt, und dass sie etwas getan hätten, wurde gar nicht behauptet. So änderte sich die Anklage unter Görischs Händen von Hochverrat und Landesverrat auf ›Mitwissen und Nichtanzeige von Umsturzplänen‹, also eine pflaumenweiche Sache, bei der, wie mein Mann nachher sagte, jeder mittelmäßige Anwalt Freispruch erzielt hätte, so dünn war die Klage begründet.

16. Januar 1945

Auf einer Postkarte, im Luftschutzkeller Unter den Linden am 16. Januar [1945] an die Kinder geschrieben, steht: »Mein lieber Thomas! Ich bin grade in der Stadt unterwegs und vom Fliegeralarm überrascht worden. Jetzt sitze ich sehr gemütlich in einem öffentlichen Luftschutzkeller mit ca. 300 Leuten. Nun werde ich es mal richtig im Zentrum miterleben. ›Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld!‹[90] Wenn du das einmal wirklich begriffen haben wirst, wirst Du nie mehr Angst haben. Darum ist auch Papa so ruhig und strahlend. Ich sah ihn. Er grüßt Euch innig. Wenn ich abends von der Marienburger Allee nun immer allein nach Hause gehe und der Orion und so strahlend über mehr steht, denke ich an Dich und an Walters Taufspruch: ›Ihr seid teuer erkauft! Werdet nicht der Menschen Knechte!‹[91] Wo man die Namen der Besten nennt, da werden die Namen Eures Vaters, Eurer Onkel auch genannt werden.[92] Lebt wohl. – Entwarnung. Nichts passiert hier.«

21. Januar 1945

Am 21. Januar [1945] waren die Eltern bei dem Arzt Dr. Hauer,[93] der immer ganz gute Informationen hatte. Er behauptete, man erwarte mit Sicherheit am 30. Januar Amnestie für alle Todesurteile. Nichts dergleichen trat ein. Aber am Tag drauf hatten die Eltern Sprecherlaubnis für Klaus und waren noch unter dem Eindruck von Hauers hoffnungsvoller Nachricht. Sie fanden Klaus sehr ruhig und überlegen. Er sagte, es sei eine »schöne Zeit, nur auf das Wesentliche gerichtet.« – Sie gaben ihm eine Azalee[94] von mir (als ich 14 war und er 18, hatte er mir eine Azalee[95] geschenkt, seitdem hatte sie für uns etwas Besonderes). –

23. Januar 1945

Am 23. [Januar 1945] war, soviel wir vernahmen, die Hinrichtung von Haubach,[96] Planck, Moltke-Kreisau,[97] Popitz.[98]

24. Januar 1945

Am 24. [Januar 1945] kam die nette Postbotin, die auch zu Haubach, der in Eichkamp gewohnt hatte, die Post brachte, und die mir genau Bescheid sagte, seit wann und bis wann die Post meines Mannes kontrolliert worden sei, weinend zu mir herein, umarmte mich und jammerte: »Frau Bonhoeffer, ihr Mann! Retten Sie ihn doch! Sie werden ihn noch hängen, jetzt haben sie doch den Haubach tatsächlich auch noch gehängt, diese Verbrecher! Die wissen doch ganz genau, dass das alles keine Verbrecher, sondern Patrioten sind, die bringen sie da bloß um, damit nachher nüscht und niemand mehr da ist, der die Karre aus dem Dreck ziehn kann, und damit denn das Volk schreit: ›Hätten wir doch unsern geliebten Führer noch, da ging’s uns noch gut!‹ «

25. Januar 1945

Am 25. Januar [1945] erfuhr ich, dass am 2. Februar für Klaus, Rüdiger Schleicher, Hans John, Termin sei. Dass Perels dabei war, sahen wir erst mit Entsetzen am Termin-Morgen im Gefängnis, als sie abgeholt wurden.

27. Janaur 1945

Am 27. [Januar 1945] war ich im Volksgerichtshof, um zu Thiele zu gehn und zu versuchen, den Termin verschieben zu lassen, denn Zeitgewinn war alles.[99] Er war nicht da. Unschlüssig stand ich im Flur vor der Türe, an welcher stand: »Freisler. Präsident des Volksgerichtshofs.« Eigentlich sollte ich jetzt hineingehen und den Stier bei den Hörnern nehmen, dachte ich – aber was soll ich ihm sagen? Da öffnet sich gegenüber eine Türe, irgendein Staatsanwalt tritt heraus und fragt mich, was ich hier machte. Ich sagte: »Ich überlege mir, ob ich zu Herrn Freisler hineingehn soll.« – »Wenn Sie noch lange überlegen, wird er weg sein, er geht Punkt 12 zum Essen und es ist 6 Minuten vor 12.« Ich klopfte an die Glastüre, hinter der ein kleiner Vorraum lag, rechts und links flankiert von je einer Tür. Aus der rechten trat ein Sekretär, fragte nach meinem Begehr. »Ich möchte Herrn Präsident Freisler sprechen.« – »Wen darf ich melden?« – »Frau Klaus Bonhoeffer.« – Einen Moment bitte.« Die Glastür schloss sich. Er verschwindet in der linken Tür, kommt zurück und verschwindet hinter der rechten Tür. Dann öffnet sich die linke Tür nochmals, Freisler geht durch den Vorraum zur rechten Tür und sagt mit lauter Stimme in das Büro, so dass ich es deutlich hören kann: »Bitte die Akten vom 2. bis 5. Februar.« Dann geht er in sein Zimmer zurück, streift mich dabei mit einem Blick, ohne dass wir uns grüßen. Die Akten werden gebracht und keine halbe Minute später lässt »der Präsident bitten«.

         Er sah aus wie Furtwängler[100] auf den ersten Blick, groß, schlank, guter Kopf, lange Hände, die viel gestikulieren beim Sprechen. Mit vollendeter Höflichkeit bot er mir Platz an, freilich auch etwas gegen das Licht, während er selbst es im Rücken behielt.[101] Ich frug ihn zunächst, ob ihm mein Name ein Begriff sei? Ob er meinen Schwiegervater kenne? Er bejahte. Dann behauptete ich, in seinem Vortrag im Harnack-Haus gewesen zu sein, von dem mir mein Neffe Christoph Hobe genau erzählt hatte, und schmeichelte ihm wegen der eindrucksvollen Bilder, die er gebraucht hätte, von dem uneinnehmbaren Fels Deutschland und den gefährlichen Adern, die ihm durchzögen, und die man ablassen müsse, weil auch der stärkste Fels sonst gesprengt werden könne. Ich hatte immer gehört, dass er eitel sei, und dieser Ruf schien sich mir zu bestätigen. Er wurde immer liebenswürdiger. Dann stieß ich zur Sache vor, sagte etwa, er könne sich wohl denken, dass ich in der Angelegenheit meines Mannes zu ihm gekommen sei. »Ja, ich habe gehört, da kommt jetzt eine Sache Klaus Bonhoeffer, aber ich habe noch nicht näher hineingesehn.« – »Ich wollte Sie aufmerksam machen, dass Sie bitte die Protokolle der Staatspolizei mit größter Skepsis lesen möchten, denn ich weiß, wie sie zu Stande gekommen sind.« – »Woher wissen Sie das?« – »Ich hole die Wäsche meines Mannes zum Waschen ab…« – »Das glaube ich nicht, was Sie mir da andeuten, das glaube ich nicht, aber wenn da tatsächlich eine verschärfte Vernehmung stattgefunden haben sollte, was ich – wie gesagt – nicht glaube, so werde ich ihrem Gatten im Termin Gelegenheit geben, zu widerrufen.« – »Wird das tatsächlich möglich sein?« – »Aber gewiss, wir haben doch schon öfter Freisprüche erzielt, wenn derlei Dinge nachgewiesen wurden.«[102] – »Dann kann ich ganz beruhigt sein.« – »Wer wird denn der Verteidiger Ihres Gatten sein?« – »Wir wollten gern Herrn Wergin bitten, aber er hat die Zulassung nicht bekommen.« (Das war nicht ganz korrekt: Wergin hatte die Zulassung gar nicht beantragt, weil sie ihm in einer andern 20. Juli-Sache abgelehnt worden war mit der Begründung, dass für diesen Komplex nur Offizialverteidiger zugelassen würden.) – »Dann wird es wohl eine 20. Juli-Sache sein? Da haben wir der Einfachheit halber nur eine bestimmte Anzahl von Herren zugelassen, die die Materie genau kennen.« – »Mein Mann hat mit dem Attentat vom 20. Juli nichts zu tun. Das war eine reine Angelegenheit der Militärs, und ich weiß nicht, ob Sie die Sympathien des Volks für die Regierung sehr stärken, wenn sie nun alle Leute, die auch nur ganz peripher mit der Sache zu tun hatten, nun umbringen.«[103] – »Aber das wollen wir ja gewiss nicht, wir erzielen doch immer wieder mal Freisprüche, wenn es sich herausstellt, dass durch allzu scharfe Vernehmung Protokolle zu Stande gekommen sind, die ein falsches Bild ergeben.« – »Ja, eben, dieses Bild fürchte ich. Sie werden es nach der Lektüre eines solchen tendenziös entstellten Protokolls doch vor Augen behalten, auch wenn Sie diese oder jene Einzelheit in Abzug bringen.« – »Aber da können Sie ganz beruhigt sein, gnädige Frau, ich stütze mein Urteil nur auf das, was meine eigne Vernehmung ergibt.« – »Das ist mir in der Tat sehr beruhigend zu hören. Übrigens, Sie sprachen von Freisprüchen. Ich habe lange von keinem gehört, immer nur von Todesurteilen?« – »Oh nein (dabei sprang er auf), »grade dieser Tage werde ich wieder eine Sache haben, wo ich vielleicht werde freisprechen können!« Ich stand auch auf, unter einigen Dankesphrasen und Höflichkeitsformeln begleitete er mich bis vor die Glastür.

         Ich hatte Freisler noch gebeten, den Termin etwas zu verlegen, da meine Schwiegermutter sich in sehr schlechtem Gesundheitszustand befand[104] und mein Schwiegervater ihr im Augenblick alle Aufregungen zu ersparen wünschte. Er bedauerte lebhaft, diese Bitte nicht erfüllen zu können, da der Führer ausdrücklich befohlen habe, die Sache 20. Juli jetzt schnellstens zu beenden.

         Anschließend war ich zum Verteidiger Weimann gegangen. Eindruck besser. Hauptbelastung sei der ›Luftfahrtminister‹, die er entkräften wolle.

28. Januar 1945

Am 28. Jan[uar 1945] besuchte ich Frau Gisela Hauss in Dahlem, die Johns nachbarlich befreundet war und an dem Abend des 20. Juli mit Johns und meinem Mann zusammen gewesen und darüber vernommen worden war. Das alles wusste ich durch die Kassiber meines Mannes. Er wollte wissen, was sie ausgesagt hatte. Sie hatte entlastend ausgesagt, allerdings, um nicht näher über meinen Mann ausgefragt zu werden, behauptet, sie habe sich nie näher mit ihm unterhalten, weil er ihr nicht sympathisch gewesen sei. Auf die Frage: »Wenn sie gewusst hätten, dass die Brüder John an Umsturzplänen beteiligt waren, hätten Sie sie dann angezeigt?«, hatte sie klugerweise geantwortet: »Einen Freund anzeigen? Dazu gehört ziemlich viel…« Damit hatte sie sich das Vertrauen der Kommissare erworben und log ihnen dann die Hucke voll.

         Einige Tage darauf wurde Rudolf Pechel[105] freigesprochen, wie er in seinem Buch[106] schreibt: unerklärlicherweise.

29. Januar 1945

Am 29. Januar machte ich zuhause einen Kassiber an Hans John fertig: »Im Haupttermin alles widerrufen, auf Folter beziehn. Besonders Belastungen B[onhoeffer] widerrufen. Wenn dies gefunden, bittet Mittwoch um Zahnpaste.« Diesen Zettel legte ich in eine ganz flache Aspirin-Schachtel, diese auf den Grund einer Pappdose, die ich mit Aspik füllte. Darauf legte ich ein sorgfältig rundgeschnittenes Blatt Zellophanpapier, so dass es wirklich genau wie von Hafter-Delikatessenhaus wirkte, und tat es in den Korb des Mädchens aus Dahlem, die John versorgte, und mit der ich mich an der Pforte verabredete.

         Klaus gab ich auf unsere bewährte Weise Bescheid über das ganze Gespräch.

         Am Mittwoch – so war es verabredet – brachte ich John Essen. Der Korb kam zurück. Kein Zettel, keine Bitte. Ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Gesicht floss. Schwankend ging ich heim. Was nun? War es gefunden worden? Dann beobachteten sie mich jetzt nur noch eine Weile, um mich dann zu verhaften. Sollte ich abreisen? Das würde nichts mehr helfen. Verschwinden? Dann nahmen sie die Kinder. Bei Klaus hatten sie alle Unterschriften durch die Drohung erpresst, andernfalls mich zu erschießen und die Kinder der NAPOLA[107] zu übergeben. Sie schreckten also vor nichts zurück. Knuth war auch so komisch kurz gewesen, anders als sonst. Am Donnerstag ging ich nochmals hin, gab Joghurt für John ab. Da kam ein Zettel zurück: »Vielen Dank, Bitte um Zahnpaste!!!« Dreimal dick unterstrichen! Der Gute hatte sich den Leckerbissen noch einen Tag aufgespart! Die Zahnpaste hatte ich ›zufällig‹ schon in der Tasche, so dass sie sofort rauf geschickt wurde und auch er erlöst war, mich erlöst zu wissen.

         Am 1. Februar [1945] abends wurde Klaus die Klage zugestellt. Am 2. [Februar] morgens 9 Uhr war Termin. Also keine Möglichkeit, mit dem Anwalt, der ihn nur einmal kurz besucht hatte, [zu sprechen].

30. Januar 1945

Am 30. Januar kam keine Amnestie, sondern das Todesurteil für Ernst von Harnack. Gleichzeitig erhielt ich Klaus’ Abschiedsbrief.[108]

31. Januar 1945

Am 31. [Januar 1945] machte ich folgende vier Besuche

1.) bei Herrn de la Chevallerie, der mit dem Rechtsanwalt Neubert[109] gut bekannt war und den Fall mit ihm besprechen wollte. Neuberts Stellung war ganz unklar. Er war als Verteidiger von Rüdiger Schleicher zugelassen worden. Wir hielten ihn für einen Nazi. Er soll selbst an Umsturzplänen beteiligt gewesen sein.

2.) Bei Herrn Soriano, einem spanischen Luftfahrtattaché, der bei uns im Hause verkehrt hatte und sich mit meinem Mann immer gut verstanden hatte. Er dachte, ich wolle Geld von ihm haben, da er gehört hatte, dass Herr Lutz das Gehalt gesperrt hatte, und bot mir sofort 10 000 Peseten an. Ich dankte ihm herzlich und sagte, so habe ich mir den Spanier auch immer vorgestellt, aber ich wolle nur mit ihm besprechen, ob man durch seine Beziehungen noch irgend jemand einschalten können mit einer Intervention, um Zeit zu gewinnen. Er überlegte gründlich, nannte mir verschiedene Namen, versicherte mir, Otto John ging es gut, wir könnten ohne Sorge sein, das solle ich meinen Mann mitteilen, aber der spanische Botschafter sei ein Idiot, mit dem könne man nichts machen. Außerdem sei seit 10 Tagen keine Maschine mehr nach Madrid gegangen, als sie säßen alle auf gepackten Koffern und hätten Order, abzureisen, sobald die Russen auf 50 km an Berlin heran seien. Ebenso stünde es für die Schweden. Auch die Schweiz räume das Feld mit Ausnahme kleinen Konsulatspersonals. Er humpelte an zwei Stöcken, da er sich das Bein gebrochen hatte, war aber äußerst bemüht, aufrichtig interessiert und wolle sich die Sache noch durch den Kopf gehn lassen.

3.) bei dem Psychiater Schulte in Wannsee, der mit Weimann gut bekannt war und bei diesem nochmal einheizen wollte.

4.) beim Rechtsanwalt Neubert. Er hörte vor allem gründlich zu, blinzelte nur manchmal schlau über die Brille, forderte aber immer wieder auf, weiterzusprechen. »Sie meinen, John und Schleicher werden widerrufen?«, sagte er endlich. »Ja, bestimmt.« – »Wieso wissen Sie?« – »Ich hab’s geträumt!« – »Schön. Das sind die Hauptbelastungszeugen. Dann haben wir Chancen. Die Schilderung der Familie, die ihr Schwiegervater eingereicht hat, war übrigens sehr eindrucksvoll. Hoffentlich liest Freisler sie. Ihre war auch sehr gut.« – »Sie war schlecht, wenn Freisler nicht das Gefühl kriegt, es ist heller Wahnsinn, was wir hier machen!« Er nahm die Brille ab, gab mir stumm die Hand. Ich ging.

1. Februar 1945

Am 1. Februar waren die Eltern nochmals bei Weimann und kamen recht beruhigt heim. – Von Klaus erhielt ich Nachricht: »Noch keine Anklageschrift gesehn.« Spät abends ist sie ihm dann zugestellt worden. Sie lautete auf Hoch- und Landesverrat. Letzteres, weil er mit der holländischen Luftfahrtgesellschaft darüber verhandelt hatte, dort einen Teil der Aktien der Lufthansa anzulegen oder zu deponieren, damit nicht alles verloren geht, wenn Berlin in feindliche Hand gerät. Das Urteil ließ nachher beide Anklagepunkte fallen und lautete auf ›Mitwissen und Nichtanzeige von Umsturzplänen‹.

2. Februar 1945

Der 2. Februar begann mit Alarm um 4 Uhr morgens. Um 7 [Uhr] fuhr ich, ebenso wie Ursula Schleicher, mit starkem Kaffee usw. ins Gefängnis. Sie hatte auch für Hans John alles mit. Frau Kloss war auch da. Um 9 Uhr werden sie an uns vorbeigeführt. Rüdiger Schleicher sehr gelöster Stimmung. »Auf, auf zum fröhlichen Jagen«,[110] sagt er, gibt im Vorbeigehn seiner Frau einen Kuss. Der Posten verweist ihn. Hans John sieht mich an, nickt freundlich und sagt »Grüß Gott!« Alle sind gefesselt. Perels nickt uns freundlich und sehr ernst zu. Ursula und ich sehn uns entsetzt an, als wir ihn dabei sehn. Ich kann Klaus kein Lächeln entlocken. Er ist sehr blass, der Mund leicht geöffnet, wie immer, wenn die Nerven sehr erregt sind. Aber es tat ihm sichtlich gut, uns zu sehn. Während des langen Einsteigemanövers hielten unsre Augen Zwiesprache. – Das Einsteigen ist mühsam mit den verketteten Händen, die Stufen hoch, der Wagen dunkel. Von innen tönt Rüdigers Igelpfiff.[111]

         Um 2 Uhr rufe ich im Gefängnis an. Noch nicht zurück. Um 3 Uhr wieder. »Noch nicht zurück.« Wir gehn mit dem Mittagessen hin, Ursula, auch Karl-Friedrich, Dorothee, Christine.[112] Auch Rolf Schleicher[113] ist da. Wir warten bis 1/2 6 [Uhr]. Sie kommen nicht. Wir geben das Essen ab und gehen heim. Knuth will uns das Resultat sagen. Ich lege mich ins Bett, will stopfen, schlafe aber ein. 8 Uhr Alarm. Kein telephonieren möglich. Ich bleibe liegen. 9 Uhr Entwarnung. Ursel hat Knuth angerufen, gibt mir Bescheid: Noch nicht zurück. Aber im Volksgerichtshof Bescheid: Sie sind um 7 Uhr abgefahren. Will Knuth uns zur Nacht keine schlechte Nachricht geben? Ich rufe Weimann an. »Es tut mir leid, ich darf Ihnen nichts sagen.« – »Etwa schlecht verlaufen?« – »Ja. Fragen Sie bitte morgen beim Staatsanwalt nach.« – »Was heißt das? Für Schleicher auch?« – »Ja, es ist auch für mich sehr hart.« – »Was heißt das? Für alle??« – »Ja.«

         Ich rufe bei den Eltern an, sage: »Weimann drückt sich unklar aus, ich entnehme: Todesurteil für alle.« Ich bitte Karl-Friedrich, Weimann nochmals anzurufen und ihn zu fragen, ob ihm auch befohlen sei, die Ehefrauen durch unklare Auskünfte zu foltern. Papa ruft selbst Weimann an, fragt ihn, wenn es etwas anderes als Todesurteil für alle wäre, ob er es dann gütigst sagen wollte. »Er widersprach nicht.«

         Karl Friedrich kam mich noch besuchen. Wir hatten ein schönes[114] Gespräch, das ich für die Kinder aufgezeichnet habe.[115]

3. Februar 1945

Am 3. [Februar 1945] morgens zu den Eltern. Ursula Schleicher ist mit Dodo[116] schon weg zum Gefängnis, dann zu Görisch. Ich gehe mit den Eltern zunächst zu Dietrich zur Prinz-Albrecht-Straße,[117] dann wollte ich mich mit Karl-Friedrich bei Görisch treffen. Als wir in den Anhalter Bahnhof einfahren: Alarm. Man bleibt am besten unten. Drei Stock unter der Erde ist man ziemlich sicher. Etwa tausend Menschen sammeln sich an. Die Eltern setzen sich auf einen Sack von Flüchtlingen,[118] alles hockte oder stand herum. Erste Welle. Licht flackert, Boden bebt leicht. Kinder weinen. Zweite Welle, Licht geht aus, Boden bebt stark. Dritte Welle: Einschlag, durch bis zu uns, an zwei Stellen, 15 m und 20 m entfernt. Glas aus den Zugfenstern fliegt, Mauerwerk auch, ich falle über die Eltern. Panikgeschrei, Giftschwaden. Husten. Dreck im Mund. Ich lege mir den Ellbogen übers Gesicht und hoffe, dass bald eine Ohnmacht kommt, damit das Ersticken nicht lange dauert. Kreischende Frauen: »Hilfe, wir sind begraben!« Ruhige Männerstimmen: »Liegenbleiben, es kommt Hilfe.« Ich kann nicht sprechen, fühle, ob die Eltern leben. Ja. »Durch die Nase atmen«, sagt Papa, »bist du verletzt, Paula?« – »Ich glaube nicht, wo ist Emmi?« – »Hier, ganz nah bei euch.« Husten. Taschenlampen flammen auf. Sanitätskoffer werden gesucht. »Es ist ja gut, vorbei…«, sagt jemand. Mauergerassel, Nachsturz, Dreckwelle. Verbände werden bei Taschenlampenlicht angelegt. Kinder und Verwundete vorbeigetragen. Da, ein frischer Luftzug durch die Einschlagstelle. Ich habe den Kaffee für Klaus im Beutel, die Eltern Kuchen für Dietrich zu seinem Geburtstag, morgen… Wir stärken uns. Nach einer oder zwei Stunden ist Möglichkeit, herauszukommen. Wir lassen erst die Massen vorbeiziehn, um nicht ins dickste Gedränge zu kommen. Wie wir die Treppe heraufsteigen, schreit der Posten: »Schneller, schneller, das Dach stürzt nach!« Wir rennen. Hinter uns stürzt das Glasdach des Fernbahnhofs herunter. Wir sind am Licht. Aber noch keine Entspannung. Überall Brände, große Trichter, die Massen strömen hin und her: »Hier ist gesperrt, dort können sie nicht durch.« Wir steigen über Elektrischen-Drähte,[119] streben zur Prinz-Albrecht-Straße, um zu sehn, was mit Dietrich ist. Alles abgesperrt. Wir können nur feststellen, dass neben der Gestapo ein Volltreffer niedergegangen ist, näher war nicht heranzukommen; wir drehten um nach der Bellevuestraße zu. Es war heiß von den brennenden Häusern, auf beiden Seiten wich das Volk aus, weil Dachstühle herabstürzten. Hin und wieder krachte es noch von Zeitzündern oder Blindgängern, Mutter Bonhoeffer unermüdlich vorwärts, mir ab und zu freundlich zunickend, »ganz schön, dass wir beisammen sind…« In der Bellevuestraße: Der Volksgerichtshof in Flammen, einige Herren stehen davor, an der Fassade züngelt es aus allen Fenstern, ich sehe weder Görisch noch Freisler. (Abends erzählt Rolf Schleicher, dass er als Arzt zugezogen worden sei, Freislers Tod zu konstatieren, der im Vorkeller – er war noch von der Wilhelmstraße unterwegs gewesen – erschlagen worden sei. Er habe außer etwas Mörtel am Kopf keine Wunde feststellen können.)

         Die Eltern und ich strebten weiter durch den Tiergarten, teilweise durch Wasser watend, zur Ost-West-Achse. Diese hundert Meter – breit überschwemmt durch Rohrbrüche. Feuerwehrautos rasen, endlich gelingt es, die Chaussee zu überqueren.

         Auf der andern Seite gehen wir in Richtung Tiergarten und ich versuche etwa 30 mal, ein Auto anzuhalten, das die Eltern mitnähme. Indessen geht Mama an Papas Arm beharrlich vorwärts, ein Junge hilft mir die Autos anbrüllen, keines hält, obwohl viele nur halbvoll waren. Panikstimmung. So erreichen wir zu Fuß, voller Ruß und Mörtel in Haaren und Kleidern, den Bahnhof Tiergarten. – Hier geht – o Wunder – eine Stadtbahn, Leute fahren in saubern Kleidern und sehen auf ihre Armbanduhren, wieviel Zeit sie durch den dummen Alarm wieder verloren haben. Die Eltern steigen in einen Zug nach Heerstraße, ich entgegengesetzt zu Klaus zum Lehrter Bahnhof. Ich gebe Kaffee ab und Zettel: »Gib Hoffnung nicht auf. Volksgerichtshof brennt!« Antwort: »Dank und herzlichste Grüße. Bin ganz ruhig, sei es auch. Dein Klaus.«

         Dann fuhr ich zu den Eltern. Mama lag zu Bett, müde aber nicht krank, Papa putzte noch an seinen Kleidern. Nachricht von Rolf Schleicher, dass Freisler tot. Er hat dann die Leiche in die Wilhelmstraße ins Justizministerium gebracht, hat sie dort auf dem Teppich niedergelegt und[120] zu den umstehenden Herren, die sich nicht vorgestellt hatten, gesagt: »Hier liegt der Mann, der gestern meinen Bruder unschuldig zum Tode verurteilt hat!« Einer der Herren war der Justizminister Thierack[121] gewesen. Es hat ihm offenbar einen Schock versetzt, denn er hat dann den Fall Schleicher aus dem Komplex Bonhoeffer herausgelöst [und] von einem Sonderreferenten bearbeiten lassen.

         Es war nun lange unklar, ob die Akten mitverbrannt waren oder nicht. Jedenfalls war Zeit gewonnen.

         Ursula Schleicher war vor dem Alarm bei Görisch gewiesen. Obwohl Weimann uns an ihn zu offizieller Auskunft verwiesen hatte, hat er nichts gesagt. »Geheime Reichssache.« Sie wurde rasend: »Nicht genug, dass Sie unschuldiges Blut an den Galgen bringen (Schleicher war tatsächlich unschuldig), Sie foltern auch noch die Frau, die 22 Jahre in glücklichster Ehe mit diesem Mann gelebt hat, durch unklare Auskünfte?« – »Gnädige Frau, in diesen Räumen darf ich mir das nicht anhören!« – »Lassen Sie sich von Gott vorschreiben, was sie dürfen, erbärmliche Puppe!«[122] sagt sie (Dorothee war dabei), darauf Sirene, Görisch bietet ihr den Luftschutzkeller des Volksgerichtshofs an, sie verzichtet, geht ins Institut ihres Mannes,[123] wo dann auch das halbe Haus weggerissen wurde. –

4. Februar 1945

Am 4. Februar [1945] suchte Frau v[on] Dohnanyi Herrn Franzki[124] auf, den sie noch von Leipzig her kannte und der jetzt Oberstaatsanwalt am Volksgerichtshof war. Franzki war im Grunde ein anständiger Mann. Er riet, mit den Herren Lämmle[125] und Lautz[126] Fühlung zu nehmen. Das wurde aber aus Gründen, die ich vergessen habe, wieder fallen gelassen.

5. Februar 1945

Am 5. [Februar 1945] hatte Ursula Schleicher Sprecherlaubnis. Sie fand ihren Mann ruhig und gefasst, ohne Bitterkeit, getragen von dem Gefühl, gemeinsam für eine große und gute Sache zu sterben und zu zeugen.

6. Februar 1945

Am 6. [Februar 1945] sprach ich meinen Mann. Das Gespräch zeichne ich für die Kinder auf.[127] Zum Schluss gab er mir einige Ratschläge zur Verschleppung des Verfahrens.

         Unter anderem sagte er: »So viel lieber möchte ich jetzt einfach den graden Weg zu Ende gehn wie die alten Christen in Rom. Aber was soll aus Euch werden in den wahnsinnigen Zeiten, die jetzt kommen – « Um uns sollte er sich nicht sorgen, aber er müsse den schwereren, innerlich schwereren Weg gehn und sich noch zu retten versuchen, auch wenn es ihn anwidert, ich wüsste es zu würdigen, mir zuliebe solle ers bitte tun. Und um Thomas willen. – «[128]

         Er entschloss sich dann, noch eine Selbstverteidigung zu schreiben, da die Verhandlung tatsächlich nichts Stichhaltiges ergeben hatte und auch Professor Kohlrausch,[129] der Strafrechtler, der sich rührend der Sache annahm und sich ein Blick in die Akten verschafft hatte, sagte, wenn ihm ein Kandidat eine solche Urteilsbegründung vorlege, fiele er durch.

7. Februar 1945

Am 7. Februar [1945] war ich in der Lufthansa bei Herrn Bongers. (Bei Lutz war ich früher, bald nach der Verhaftung, einmal gewiesen. Der ganze Mann bestand nur aus Angst und Taktlosigkeit. Er distanzierte sich in jeder Weise, behauptete, mein Mann sei überhaupt der Typ eines kleinen Winkelkonsulenten und er habe für die Lufthansa nicht viel geleistet. »Wissen Sie, Herr Lutz« – sagte ich ihm –, »wenn ein kleiner Spießer so von meinem Mann spricht, wundere ich mich nicht, denn jeder begreift immer nur den Geist, dem er gleicht, aber dass Sie, Direktor einer Weltfirma, nicht mehr Gefühl dafür hatten, mit wem Sie es zu tun hatten, das wundert mich in der Tat. Ich sehe, Sie fühlen ihre Pflichten woanders und will sie nicht länger inkommodieren.« Frau Birk[130] hat mir nachher erzählt, er habe zu ihr gesagt, er habe mich gar nicht zu trösten brauchen, ich sei gar nicht niedergeschlagen gewesen. Wenn er an seine Frau dächte, wenn der so was passierte…).

         Bongers war sehr nett. Er zog noch Stussel und einen dritten Herrn, dessen Namen ich vergessen habe, zu. Ich sagte, wie es stünde, und was sie etwa tun oder nicht tun wollten zu seiner Rettung. Bongers entwarf dann ein Gnadengesuch mit der Begründung seiner Unentbehrlichkeit für die Lufthansa.

         Von Tempelhof ging ich zu Fuß zu Frau Freisler nach Dahlem, wenn die Bahnen waren kaputt. Ich gab ihr, einer hübschen, dunklen, gepflegten, nicht unsympathischen Frau, ein Gnadengesuch ab, das wir gemeinsam entworfen hatten und von dem wir uns vorstellten, sie könne bis beim Staatsbegräbnis ihres Mannes dem Führer selbst vortragen, »für die Letztverurteilten ihres Mannes«. Sie war nicht ganz ablehnend, wollte es mit Lautz besprechen, glaubte aber nicht, dass der Führer zum Begräbnis ihres Mannes kommen würde. In der Tat war von Staatsbegräbnis keine Rede. Die Zeitung brachte nur eine ganz kleine Notiz mit der Todesnachricht. Man rechnete nicht mehr auf ein großes Klageleid der Volksseele.

         Ich übernachtete bei meiner Schwester Lene Hobe im Dahlem und ging am nächsten Morgen wieder hin, um mir Bescheid zu holen. Sie empfing mich nicht. Hingegen hatte ich folgende aufschlussreiche Unterhaltung mit dem Dienstmädchen Emmi. »Ihr Mann ist wohl auch…?« – »Ja, mein Mann ist auch.« – »Wissen Sie, es kommen jetzt öfter feine Herrschaften wegen sowas. Ich denke manchmal, wenn der… früher… wäre… da wäre mancher gute Deutsche… na, ich will nüscht gesagt haben…« – »Oh, genieren Sie sich gar nicht. Wissen Sie, unsre gnädige Frau ist ja nicht so, die würde schon was tun, bloß wissen Sie, es ist eben wegen der Rente…« Leider war ich so erschüttert über diesen Gesichtspunkt, dass mir die einzige vernünftige Antwort »Die Rente lassen sie unsre Sorge sein, wenn mein Mann lebend herauskommt, da setzen sie mit ihrer gnädigen Frau auf eine bessere Karte« nicht einfiel. Ich ging völlig niedergeschlagen davon. Was für Gesichtspunkte entscheiden über Menschenleben, und was für Menschenleben. –

8. Februar 1945

8. Februar [1945]. Als Stellvertreter für Freisler, bei dessen Beerdigung sich Frau Freisler nicht einmal durchzusetzen getraute, dass ein Geistlicher spricht (wahrscheinlich auch aus Angst um ihre Rente), wird Herr Crohne[131] ernannt. Ein Telephongespräch mit meiner Schwägerin Dohnanyi, die alle diese Leute gut kennt,[132] informiert mich, dass Crohne relativ anständig sei. Also nochmals zu Frau Freisler. Inzwischen hat sie sich aber entschlossen, den Fall nicht mit Crohne, sondern mit Oberstaatsanwalt Lautz (Vollstreckungsinstanz beim Volksgerichtshofs) zu besprechen. Von Dahlem Fußmarsch nach Heerstraße, den Eltern Bericht erstattet, dann Essen zu Klaus ins Gefängnis gebracht und chiffrierten Bescheid, anschließend zu Herrn Prost ins Justizministerium. Ich beantrage Vollstreckungsaufschub wegen technischer Unmöglichkeit, die Unterlagen für Gnadengesuche rasch genug beizubringen.

         Am Freitag, den 8. Februar [1945] um 10 Uhr vormittags sind die Eltern mit mir an den Trümmern des Volksgerichtshofs, wo Sekretärinnen eifrig mehr oder weniger verkohlte Aktenbündel sortieren, bergen und verladen. Der Volksgerichtshof wird nach Potsdam verlegt. Zwischen den Trümmern promenieren Crohne, Görisch und Lautz. Papa spricht Crone an, ich stehe daneben, Mama sitzt auf einem Stuhl in einer geschützten Ruinenecke. Crone meint, dass die Akten wahrscheinlich »gerettet« seien, dass aber über diese letzte Verhandlung das Protokoll noch nicht ausgearbeitet sein könne, was dem Herrn Staatsanwalt Köhler obliege. Mit diesen wollte Crone sprechen. Ich frage Görisch noch, ob es einen Sinn habe, wenn mein Mann noch eine Selbstverteidigung schriebe. »Das ist jedenfalls nicht zweckwidrig«, meint er. Dann gehen wir zu dritt zu Fuß über das Schlachtfeld Potsdamer Platz. Meine Schwiegermutter trennt sich grundsätzlich nicht mehr von ihrem Mann. Papa spricht im Justizministerium ausführlich mit Prost. Er ist Vormann vom Minister Thierack, der über die Gnadengesuche zu entscheiden hat, d.h. alle die ausscheidet, die dem ›Führer‹ gar nicht erst vorgelegt werden. Papas Eindruck von Prost: »Nicht bösartig, aber ängstlich und in der Ideologie des Völkischen Beobachters befangen.« Um 12 Uhr sind wir, da von der Friedrichstraße wieder ein Zug ging, relativ rasch zu Hause. Um 1/2 1 Uhr Alarm. Um 3 [Uhr] endlich kann ich auf die Straße, um Klaus sein Essen zu bringen. Die Brücke beim Bahnhof Bellevue kaputt. Man läuft eine Station zu Fuß. Die Körbe mit den dick verpackten Töpfen sind eigentlich ziemlich schwer, aber das haben wir nie empfunden. An der Gefängnispforte treffe ich Frau Perels. Ihr Schwager war auch bei Prost gewesen. Er hatte als Junge mit Prost auf der gleichen Schulbank gesessen. Welche Konsequenz aber zieht Herr Prost aus diesem Spiel des Zufalls? Er gibt den ganzen Komplex Bonhoeffer – John – Perels lieber an einen andern Referenten! – Er gab ihn an Pippert.[133] Mit diesem gewann ich guten Kontakt. Aber erst später.

         Frau Freisler lehnt die Unterzeichnung unseres schönen Gnadengesuchs definitiv ab, da sie für ihre Pensionsrente fürchtet. »Das müssten wir verstehen…«

10. Februar 1945

Sonnabend, der 10. Februar [1945] lässt mich zum ersten Mal ganz versagen. Ich bleibe im Bett. Dorchen Teichmann bringt das Essen zu Klaus.

11. Februar 1945

Auch Sonntag, den 11. [Februar] bleibe ich im Bett, entwerfe aber ein Gnadengesuch für Frau Teichmann, da ich gehört habe, dass die Gnadengesuche einfacher Leute vielmehr Chancen haben. Es lautete etwa: »Ich, die Unterzeichnete, Frau Elsa Teichmann, bitte hiermit, Herrn Dr. Klaus Bonhoeffer nicht zu töten. Herr Bonhoeffer hat mich, meine Tochter, sowie den Malern Herrn Lahonge in seinem Hause aufgenommen, nachdem wir in Köpenick ausgebombt wurden, ohne einen Pfennig Miete von uns zu nehmen. Er hat uns seine Zimmer, seinen Garten mit allem, was darin wächst, zur Verfügung gestellt, als ob wir hier zu Hause wären. Sein Grammophon, seinen Liegestühle, sein Telephon, seinen Bücher dürfen wir benutzen. Dafür mache ich ihm bloß Frühstück und Abendbrot. Wenn er etwas extra zu Essen besorgen konnte, teilte er uns davon ab. Bei Alarm ging er als Letzter in den Keller. Einmal ist er, als die Scheiben schon flogen, nochmal nach oben gegangen, um mir einen Mantel zu holen, weil ich gebadet hatte und er meinte, ich würde mich erkälten. Nach Alarmen, wenn wir alle todmüde in die Betten krochen, setzte er sich aufs Rad und fuhr zu seinen Verwandten in die Marienburger Allee und Kunz-Buntschuh-Straße, um zu sehen, ob Hilfe nötig wäre. Wenn er auch kein Parteigenosse war, so hat er doch wahre Volksgemeinschaft an uns bewiesen. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der gleichzeitig so freundlich zu uns sein konnte und doch von solcher selbstverständlichen Unnahbarkeit, was die sittliche Hinsicht anbelangt. Wozu arbeiten und kämpfen wir noch, frage ich mich, wenn solche deutschen Männer umgebracht werden? Gez[eichnet] Elsa Teichmann.«

         Das unterschrieb sie tatsächlich, obwohl es ihr recht übel hätte bekommen können. Ein ähnliches Gnadengesuch verfasste Frau Schulz. Sie haben Herrn Pippert beeindruckt.

         An jenem Sonntag kam auch Frau Gisela Hauss aus Dahlem, mit der ich das Gnadengesuch für Hans John besprach. Tatsächlich sind alle diese Männer nicht offiziell ›vollstreckt‹ worden, sondern einem wilden letzten Befehl Himmlers zum Opfer gefallen, welcher lautete »die Kriminellen zu entlassen und die Politischen zu liquidieren«.

         Am Montag Vormittag wusch ich einen Haufen Wäsche, brachte das Essen wieder selbst zu ihm und erfuhr unterwegs durch eine Frau Neuber, die auch einen guten Freund im Gefängnis betreute, dass die Offensive auf Berlin begonnen habe. Sie frug, ob ich nicht doch jetzt lieber zu den Kindern fahren wolle, ehe es zu spät sei. Es kam aus innern Gründen gar nicht in Betracht.

13. Februar 1945

Am 13. Febr[uar] holte ich mir zum ersten Mal im neuen Domizil des Volksgerichtshofs in Potsdam eine Sprecherlaubnis bei Görisch. Dort schien gottlob noch chaotischer Zustand zu sein. Man hatte nicht den Eindruck, dass gearbeitet würde. Gesandtschaften reisten ab, übervölkerte Straßen, alles lief aufgeregt durcheinander, Barrikaden, Flüchtlingstrecks, Militär.

         Zu Hause schnell ein Essen gekocht, die Zutaten stammten meist von Frau Schulz – und rasch zum Gefängnis. Nachdem der Korb abgegeben ist und nach ein paar Minuten mit dem gestrigen leeren Geschirr zurückkommt, wartete ich noch etwa eine Viertelstunde und bitte, unter Vorweisung meines Erlaubnisscheins, um Sprecherlaubnis. Die Zeit ist günstig. Niemand anderes hat heute den gleichen Wunsch. Wir sprechen uns über eine Stunde, der Posten verlässt zeitweise die Sprechzelle. Ich erfahre zum ersten Mal, dass er die ersten 14 Tage, nach schauderhafter Misshandlung, die Hände auf dem Rücken verkettet hatte. – Die jetzige Verkettung vorn sei dagegen ein Kinderspiel, bis auf die ersten Tage, bis sich die rasend schmerzende Muskulatur umgewöhnt hatte. Durch Cigaretten ist jetzt gelegentliches Aufschließen zu erzielen. Schleicher, dieses Agnus Dei,[134] aber verzichtet völlig auf jedes Aufschließen, selbst wenn der Posten es ihm zur Nacht anbietet. »Ach nein, es kann eine Kontrolle kommen, und das kann für sie unangenehm sein«, meint er. Klaus erzählt mir vom Haupttermin. Freisler hat alle andern (Schleicher, John, Perels) vor ihm vernommen, so dass ihm nach deren Aussage nur noch wenig Bewegungsfreiheit blieb. Dann brüllte er Klaus als erstes an »Was haben Sie eigentlich für Gehalt bezogen?« Klaus nennt die Summe. »Was, so viel?«, brüllt Freisler, »Sie sind doch überhaupt bloß ’ne halbe Portion!« Das war der Umgangston des obersten Richters von Deutschland mit seinen Angeklagten. General von Hammerstein[135] hat er angebrüllt: »Ich habe gehört, Sie haben sich beschwert, dass sie neben ihrem Klosetteimer schlafen müssen? Ich kann nur sagen: Kot gehört zu Kot!«

         Die Begründung selbst für Klaus’ Urteil – von den andern ganz zu schweigen – war so dünn, so unsubstantiiert, dass jeder auch nur mittelmäßige Anwalt Freispruch erzielt hätte. Schleichers Urteil war reiner Justizmord. Neubert, der an sich guten Willens war, Schleicher zu verteidigen, muss so gelähmt gewesen sein von Freislers offensichtlicher Böswilligkeit, dass er kaum etwas zu Schleichers Verteidigung gesagt hat. Klaus nahm an, dass nun Weimann gründlich loslegen würde, und überließ ihm deshalb das Wort. Stattdessen sagte dieser nur: »Ich habe nicht viel hinzuzufügen, höchstens könnte man die Tatsache, dass der Angeklagte Bonhoeffer am Abend des 20. Juli mit seinen Freunden ein Glas Sekt getrunken hat, etwas weniger schwer bewerten, als dass hier geschehen ist.« Das war die ganze Verteidigung. Das Wort wurde Klaus nicht mehr erteilt, die Verhandlung abgeschlossen.

         Seine seelische und nervliche Verfassung an jenem 13. Feb[ruar 1945] war ausgezeichnet. Es war genau die, die sich in seinem Brief an die Eltern spiegelt. Er schreibt: »Ich wollte ja nicht nur leben, sondern mich eigentlich erst einmal auswirken. Da dies nun anscheinend durch meinen Tod geschehen soll, habe ich mich auch mit ihm befreundet. –«[136]

         Nun begann die Zeit des täglichen Wechsels zwischen Abgeschlossenhaben [mit dem Leben] und neuer Hoffnung, für ihn und für uns. Ernst Ludwig Heuss[137] beriet mich in meinem Konflikt, ob man versuchen solle, eine Wiederaufnahme in Gang zu bringen, oder ob man einen Verlauf wie bei Kiep[138] nicht riskieren dürfe. (Kiep war nach der Wiederaufnahme zurück in die Vorvernehmung durch die Gestapo gebracht worden, fast zu Tode gefoltert und dann gehängt worden.) Heuss meint, ich solle es doch riskieren. Bei Kiep seien ganz besonders unglückliche Umstände zusammengefallen, die diesen Verlauf bewirkt hätten. Klaus schreibt mir: »Ich möchte lieber geköpft werden, als noch einmal in die Hände der Gestapo zu kommen.«

         Nach ziemlich schlafloser Nacht beschloss ich, die Wiederaufnahme zu versuchen, indem ich gleichzeitig versuchen wollte, mit den entsprechenden Leuten zu guten Kontakt zu pflegen, dass sie ihn nicht der Gestapo zurücküberweisen würden.

         Auf meinem Herd stand ein großer 20 Pfund-Eimer mit Sirup, den Klaus noch irgendwie ›organisiert‹ hatte. In diesen tunkte ich immer mein Brot. Davon habe ich im Wesentlichen gelebt in den Monaten. Mittags aß ich meist in irgendeiner Kantine ein markenfreies Stammgericht, abends meist bei den Eltern, die damals auch fast immer nur ganz fettarme Eintöpfe kochen konnten. Da häufige Postsperren den Verkehr mit den Kindern unterbrachen, ist fast in jedem Brief die Bitte oder Frage nach meinen ›Marken‹,[139] ohne die ich aufsaß. Immer wieder war Frau Schulz rettender Engel. Meine Schwester hatte die Betreuung unseres Bruders Justus übernommen, aber manchmal hatte sie auch nichts. Einmal brachte ich ihm eine heiße Suppe. Da schrieb er: »Vielen Dank! Ich habe mir erst die Hände dran gewärmt, dann die Füße, und sie dann mit Genuss verspeist.«

         Ich versuchte nun, Weimann, dem Offizialverteidiger, die Wiederaufnahme des Verfahrens nahe zu legen. Er lehnte zunächst glatt ab, da er sie nicht begründen könne. Ich ging zu Wergin, der mich immer wieder in rührendster Weise beraten hat, ohne je eine Liquidation zu schicken. Er meinte, man müsse begründen mit Unzurechnungsfähigkeit durch geschwächtem Zustand nach der Folter. Aber da wollte Weimann nicht heran, wenn diese Dinge sollten offiziell nie zugegeben werden. Wir berieten mit dem Psychiater Zutt,[140] der den zuständigen Gefängnisarzt kannte. Ich ging nochmals zu Weimann. Als ich das Wort ›Halluzinationen‹ fallen ließ, wurde er plötzlich lebendig. Er rief seine Sekretärin und diktierte ihr sofort einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. »Warum nun nicht gleich?«, frug ich ihn. »Ja, wenn Sie mir Material bringen…«, sagt er. »Entschuldigen Sie, ich bin auch Anwaltsfrau, ich hatte immer den Eindruck, dass der Anwalt die Anregungen gibt, was für Material zu beschaffen sei – « Er lächelt, steht auf und sagt: »Na, wir wollen mal sehn. Ich würde ihnen ja gerne helfen, Sie kämpfen wie eine Löwin um ihr Junges, aber wissen Sie, gegen die Vitalität eines Freisler ist schwer anzukommen.« Vitalität nannte er das. Mehr und mehr bekam ich den Eindruck, dass, wenn überhaupt in der Verteidigung etwas geschah, so nur aus einer Art sportlichem Ehrgeiz.

         Denselben Eindruck, vielleicht in noch höherem Maße, hatte ich bei einem Besuch bei dem Verteidiger von Hans John, dem Rechtsanwalt v[on] B.[141] Er wohnte in einer Querstraße vom Kurfürstendamm. Ich ging zu ihm, und das Gnadengesuch für Hans John zu besprechen, dessen Eltern in Wiesbaden lebten und nicht kommen konnten. Er empfing mich sehr hochmütig, nahm die Cigarette kaum aus dem Mund, sprach in schnöseligem Ton. »Wissen Sie, das war ja ein jammervoller Termin! Der einzige, um den es schade ist, ist der Perels!« – »Ach nein, wie ungemein taktvoll, mir das zu sagen! Da sitzen Sie nun mit der Cigarette im Mund, haben gut gegessen und getrunken und erlauben sich, abfällig über Männer zu reden, denen Sie nicht wert sind, das Wasser zu reichen.« Dann sprang ich auf, warf meine Handtasche auf seinen Schreibtisch und – ich fürchte, schrie ihn an: »Erst sehen Sie zu, wie diese Männer halbtot gefoltert werden, und dann zerreißen Sie sich das Maul darüber, dass sie beim Termin völlig gebrochne Menschen sind! Das ist doch wirklich fabelhaft!«[142] Die Sekretärin kam von nebenan hereingestürzt, dachte wohl, sie müsse ihren Chef vor einer Hysterischen bewahren. Ich beruhigte sie und sagte: »Bitte machen Sie sich keine Sorgen, wir verstehen uns ganz ausgezeichnet, Herr B. wird Ihnen wahrscheinlich gleich ein Gnadengesuch für Herrn Dr. Hans John diktieren.« Herr B. war etwas perplex, fasste sich aber schnell, entschuldigte sich, er habe es nicht so gemeint, und wir kamen überein, ein ärztliches Attest von Sauerbruch[143] zu beschaffen, der Hans John nach seiner schweren Kopfverwundung behandelt hatte. –

         Frau Hauss ging deswegen zu Sauerbruch. Dieser benahm sich aber leider sehr flau und wenig hilfsbereit. Ich glaube, er hat überhaupt kein Attest geschrieben. Wir (Frau Schleicher und ich) telegraphierten an die Eltern John, dass ihr Kommen dringend erwünscht sei, wir konnten zu wenig ausrichten.

         Wie anders Wergin! Trotz Grippe-Fiebers stand er aus dem Bett auf, ging zu Fuß trotz schauderhaften Wetters von Woyrsch-Straße[144] bis zum Knie,[145] wo Weimann wohnte, und bearbeitete ihm, unbedingt auf der Wiederaufnahme zu bestehen zwecks Zeitgewinnung, auf die alles ankam (anzukommen schien –).

28. März 1945

Am 28. März [1945] schreibe ich an meine Freundin in Haffkrug, die Malerin Elke Wulk: »Die Wiederaufnahme ist abgelehnt. Der letzte Hoffnungsschimmer. Bringt nur nichts an die Kinder heran. Thomas hat lange nicht geschrieben und Lotta[146] deutete an, das er ihr Sorgen mache. Es wäre Unrecht, die Kinder an dem Hangen und Bangen teilnehmen zu lassen. Es kann immer noch ein Wunder geschehen. Ich bin heute bei einem Mann in der Reichskanzlei gewesen (es war ein Regierungsrat Hölscher, der mir durch Frau Diem empfohlen war. Er war vom Volksgerichtshof weggegangen, weil er das Mordurteile schreiben nicht mehr aushalten konnte, war nun in der Abteilung von Meissner in der Reichskanzlei tätig, weil er glaubte, von dort aus helfen zu können, diesen oder jenen Wahnsinn aufzuhalten), der die Akten anfordern will. Damit ist wieder Zeit gewonnen und Zeitgewinn ist jetzt alles. Das Urteil steht nicht auf 20. Juli, sondern nur auf Mitwissen von Umsturzplänen und Nichtanzeige. Es ist sehr dünn begründet und je näher die Russen kommen, um so ängstlicher werden sie mit ihren Vollstreckungen an Leuten, von denen sie ganz genau wissen, dass es keine Verbrecher, sondern Patrioten sind. ›Nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen, rufet die Arme der Götter herbei.‹[147] – Aber – ›Dein Wille geschehe‹[148] – Wie lange kann eine Seele in dieser Spannweite aushalten? Bitte die Kinder nur selbstverständliche Zuversicht fühlen lassen und Geduld zusprechen, nicht etwa ›vorbereiten‹.«[149]

         Hölscher hatte sich tatsächlich von Staatsanwalt Pippert, den ich öfter besuchte, und mit dem ich gutes Einvernehmen hatte, die Akten geben lassen, und ließ sie in der Reichskanzlei schmoren. Wer etwas versteht von Bürokratie, weiß, dass ein fehlender Schlusspunkt ein Leben retten kann. So war es hier. Die Akten schmorten in der Reichskanzlei, so konnte Pippert das Todesurteil, das formell vom Justizminister gegengezeichnet werden musste, nicht gegenzeichnen lassen, und so lange konnte auch Herr Lautz seinen Stempel nicht darunter setzen und so lange konnte eben nicht vollstreckt werden. So ruhte der Komplex Bonhoeffer – John – Perels (Schleicher war herausgenommen worden auf Thieracks Wunsch) sicher und gut bei Hölscher im Schreibtisch.

         Ich glaube in der 1. Aprilwoche – oder etwas später – erfuhr ich, dass Hölscher, wie viele andere gefährdete Leute, vorgezogen hatte, das Weite zu suchen. Aber sein Nachfolger, dessen Namen ich vergessen habe, war uns ebenso wohlgesonnen, da die Russen näher und näher rückten, und ich konnte mich vergewissern, dass die Akten auch unter seiner Ägide in jenem Schreibtisch begraben blieben. So lange konnten wir ruhig schlafen, glaubten wir, ruhig schlafen zu können.

18. April 1945

Am 18. April [1945] sah ich meinen Mann zum letzten Mal. Im Gefängnis waren erste Symptome eines gewissen Auflösungszustandes. Auffallend viele Häftlinge liefen in den Gängen spazieren, wie im Foyer eines gespenstischen Theaters. Klaus stellte mir Salviati[150] vor, ich sah Guttenberg,[151] Eberhard Bethge,[152] andere Ehefrauen kamen, man sah Handkuss und zuversichtliches Winken. Die Sprechzelle war besetzt, ich konnte – was bisher undenkbar gewesen wäre – Klaus ungeniert und unbewacht auf den Gang beliebig lange sprechen. Zwischen uns stand die Messingschale mit blühenden Veilchen und Schneeglöckchen, die ich mitgebracht hatte, auf der Brüstung des Geländers. –

19. April 1945

Am 19. April fuhr keine Stadtbahn mehr.

20. April 1945

Am 20. [April 1945] floh Minister Thierack, nachdem er sein Auto mit Schnäpsen und Zigarren aus der Kantine des Ministeriums vollgeladen hatte.

21. April 1945

Am 21. [April 1945] folgten Pippert und Prost seinem Beispiel.

22. April 1945

Am 22. April hält Pfarrer Gürtler einen sehr schönen Gottesdienst und Abendmahlsfeier im Eichkamper Gemeindehaus, die ich nie vergessen werde. Abends fährt Lutz Heuss mit dem ersten Befreiten, Walter Bauer,[153] vor, dessen Namen er, glaube ich, einfach mit auf eine Liste hatte einfügen lassen. Er hatte ganz vorzügliche Verbindungen, war äußerst gewandt, hatte seine eigne Akte, die bei der Gestapo lief, bei einem Alarm ins Feuer werfen lassen. Er machte uns starke Hoffnungen.

         In der Nacht wurden Klaus und Rüdiger, John und Perels erschossen – und ich träumte von Wiedersehn mit ihm und den Kindern –

23. April 1945

Am 23. [April 1945] schmückte ich das Haus mit Blumen und weißen Tüchern, backte vom letzten Mehl einen Kuchen und harkte die […].[154]

24. April 1945

Am 24. [April 1945] ist Dauerbeschuss, aber wir achten es nicht. Ich arbeite im Garten. Da knattert plötzlich die Flak[155] auf dem Messeberg hinter uns rasend los. Ich renne ins Haus und komme gleichzeitig mit einer kleinen russischen Fliegerbombe an, die die Fassade wegreißt und mich, im Treppenhaus stehend, mit Schutt überschüttet. Aus der Küche kommt Frau Teichmann und einer der Holländer gestürzt: »Raus, es brennt! Der Ausgang ist verschüttet, wir sind in der Falle.« Ich habe nur den einen Gedanken: Es darf nicht passieren, dass Klaus heute Abend heimkommt und mich hier tot findet. Mit letzter Kraft reiße ich an dem eingestürzten Tragbalken der Haustür und gewinne einen schmalen Spalt, durch den wir uns alle drei zwängen können. Draußen ist nichts zu sehen vor Rauch und Schuttnebel. Wir stolpern über Balken und Geröll über die Straße in das Erdloch drüben im Garten von Frau Schulz. Da sitzt schon der alte Rentner Scheel, unser Nachbar, mit seiner Frau und weint und weint um seinen neuen Rasierspiegel und seine saubere Küche. Ich kann kaum an mich halten vor Glück, dass es Klaus erspart bleibt, mich heute Abend unter Trümmern hervorziehn zu müssen.

         Das Kellergeschoss ist erhalten geblieben. Ich ziehe zu meinen Schwiegereltern, während die übrigen Hausbewohner den Keller wohnlich einzurichten beginnen.

25. April 1945

Am 25. [April 1945] abends bei Schleichers erscheinen Justus, Eberhard, ein russisch sprechender Pole namens Meinemer – aber nicht Klaus und nicht Rüdiger. –

         Justus verbirgt schwer seine Enttäuschung, Ursel gar nicht. Justus meint, sie werden sicher auch bald kommen. Sie sind angeblich noch nach Plötzensee abgeholt worden, aber dort ist das Gerüst[156] schon abgebaut, der Henker fort. Es kann eigentlich nichts mehr passiert sein. Vielleicht verbergen sie sich noch nirgendwo, der Marsch hierher war etwas leichtsinnig bei dem starken Beschuss.

         Telephone aus Dahlem von Lene[157] und Susi.[158] Die Russen sind da. Es ist fürchterlich, über jede Vorstellung.[159] Ursel und ich fangen an, uns zu vermummen zu alten Frauen. Frau Dr. Korn kommt zu Fuß aus Fronau. Sie ist Ärztin, Schülerin von Papa, spricht russisch und wirkt sehr beruhigend. Wir können Fliegerbeschuss vom Artilleriebeschuss nicht mehr unterscheiden.

27. April 1945

Am 27. April [1945] fährt ein Geschoss einer ›Stalin-Orgel‹[160] in Schleichers Haus.[161] Wir waren alle im Luftschutzkeller, nur Eberhard Bethge zufällig im ersten Stock. Wie er lebendig herausgekommen ist, bleibt ein Wunder. Als wir aus dem Keller stürzen wollten, um nach ihm zu rufen, drang so dicker Rauch und Schuttnebel herein, dass wir [die Tür] sofort wieder zuziehn mussten. Er ist irgendwie mit Hechtsprung heraus und ins Nachbarhaus zu den Eltern gestolpert. Abends hielt er, der zweimal Gerettete,[162] uns eine Andacht, die ich nicht vergessen werde. Wir lagen nun genau zwischen den Fronten, und abwechselnd fielen deutsche und russische Geschosse in unsere Gärten.

28. April 1945

Am 28. [April] behaupten die Russen unser Gelände, abends sehen wir große Feuer am Funkturm vom Bahnhof Westkreuz. Unglückliche deutsche Volkssturm-Männer[163] suchen Schutz in unsern Kellern. Wir geben Ihnen Civilkleidung und verlangen, dass sie ihre Waffen wegschmeißen, wenn sie uns nicht alle in sinnloses Unglück bringen wollten. Das Kellerleben dauert an unter andauerndem Beschuss, der nun etwas weiter abrückt, aber noch ist nicht an ein Herausgehen zu denken.

30. April 1945

Am [30. April 1945] kommt die Familie Diem aus Eichkamp (5 Mann) hoch und bittet um Aufnahme in Schleichers Keller, da es in Eichkamp nicht mehr auszuhalten sei. Ganze Familien vergiften sich, Männer, die sich schützend vor Frauen stellen, werden über den Haufen geschossen. Mein Schwiegervater ist Arzt, und vor Ärzten scheinen sie etwas Respekt zu haben. Außerdem hofft man, dass unsere Häuser überhaupt etwas geschont werden würden. Nun waren wir 17 Personen[164] in dem einen mäßig großen Keller und aßen unsere letzten Vorräte. In der Waschküche hatten wir einen notdürftigen Herd gebaut (die Küche oben war in Trümmern), und ich sehe mich noch große Mengen Mehlkuchen auf der Pfanne herumwerfen, derweil es so knattert, dass ich immer zwischendurch in den benachbarten Luftschutzkeller husche, dann rasch die Kuchen wendete und wieder Deckung nahm. Nachmittags belegte ein russischer Stab mit 40 Mann das Haus der Großeltern. Der ›Kommandant‹ verlangt, dass die ganze Kolonie binnen einer Stunde geräumt werde. Irgend ein blöder ›Werwolf‹[165] hatte aus irgend einem Fenster auf irgend einen russischen Soldaten nochmal geschossen aus ›Heldentum‹ wie es Goebbels bis zu seinem letzten Atemzug uns gepredigt hatte. Nun sollten wir alle fort hier, alle, Säuglingen und Greise, Kranke und Gesunde, wohin, wusste kein Mensch. Wir rafften also jeder das Seine in größter Eile zusammen, Eberhard zerrte aus dem Schutt im Oberstock den Rollstuhl, auf den wir Christine Schleicher, die die ganze Zeit mit ihrem verwundeten Knie im Keller gelegen hatte und gepflegt worden war, packen wollten. Verschiedene Versuche, den Kommandanten umzustimmen, waren misslungen. Da ging, als schon alles startbereit auf der Straße stand, und dem Mädchen Alma ihr Köfferchen von einem russischen Soldaten gestohlen worden war, worüber sie begreiflicherweise laut weinte, mein Schwiegervater noch einmal zum Kommandanten und frug, ob nicht wenigstens wir bleiben dürften; er verbürgte sich dafür, dass aus diesen Häusern nichts passierte. Das half. Wir konnten wieder abladen, auspacken. Die andern bekamen wenigstens Frist bis zum nächsten Morgen.

         Am nächsten Tag zog der ganze russische Stab wieder ab, und alle konnten bleiben. Das Haus hatten sie in der einen Nacht so beispiellos versaut, dass sich zunächst keiner herantraute. Wir blieben in Schleichers Keller wohnen, immer möglichst alle beisammen bleibend, da viel Besuch von russischen Soldaten kam, die nach Waffen suchten [und nach] Offizieren (Justus hielten sie immer wieder dafür, auch Steltzer,[166] so dass der russisch sprechende Meinemer eine Rettung war, der immer gleich vom Gefängnis erzählen konnte). Wir Frauen schützten uns auf verschiedenste Weise. Einmal war Ursula Schleicher mit ihren Töchtern Christine und Dorothee und mir allein im Keller, als drei Russen die Treppe herab kamen. Sie warf ihrer Christine ein schwarzes Tuch über das Gesicht und kniete sich weinend neben das Bett. Dorothee stand schluchzend an den Stützbalken gelehnt, das Gesicht im Arm versteckt. Ich spielte Schwachsinnige und ging ihnen entgegen mit verzerrt blöder Fratze in schauerlichem Kleid meiner Schwiegermutter, mit Stehkragen und lang bis an die Fesseln. Sie schauten sich nur kurz um und drehten verlegen ab. Da nahm ich noch den Klosetteimer und goss ihn ihnen mit großem Bogen nach über die Straße, blöde lallend »immer die niedrigsten Arbeiten für unsereins arme Irre!« Zurückgekehrt reagierten wir unsere wahnsinnige Angst in einem schüttelnden Gelächter ab.

1. Mai 1945

Den 1. Mai [1945] feierten die Russen mit einem Siegesfest,[167] dass eines Gorki oder Tolstoi würdig war, um es zu beschreiben. Das Haus bebte dermaßen von den Freudenschüssen, dass ich mehr Angst hatte als bei Fliegerbomben. Sie tanzten und tranken die ganze Nacht, wunderschön waren die entsattelten vielen Pferde in dem Waldgelände hinter unsern Häusern, deren Felle in der schrägen Sonne glänzten.

2. Mai 1945

Am 2. Mai räumte ich mit Frau Korn das Haus der Eltern auf, so dass es wieder beziehbar war. Die Eltern schliefen zum ersten Mal wieder in ihren Betten.

3. Mai 1945

Am 3. Mai wage ich mich mit Justus zum ersten Mal auf die Straße. Wir gehn nach Dahlem hinüber um, um nach unserer Schwester Lene Hobe zu sehn, und sind glücklich sie, ebenso wie die Familie Dreß, unversehrt wiederzufinden. Es war das erste Wiedersehn zwischen Justus und Lene seit seiner Gestapohaft.–

         Nachmittags gingen wir weiter zu Lutz Heuss nach Lichterfelde. Bei ihm saß Eggensperger,[168] sein Freund aus dem Justizministerium mit dessen Sekretärin, und suchte Schutz bei ihm. E[ggensperger] versuchte, uns über Klaus und Rüdiger Schleicher zu beruhigen. Er meinte, sie seien auf einen letzten Befehl von Thierack noch nach Plötzensee verbracht worden, aber es könne dort nichts mehr passiert sein, da der Scharfrichter schon geflohen sei.

4. Mai 1945

Am 4. Mai, Dorothees Geburtstag,[169] Waldemars Todestag,[170] machte ich mit Justus unsere lange Wanderung nach Plötzensee, um nach Klaus und Rüdiger zu forschen. Dabei erzählte er mir von seinen Vernehmungen durch die Gestapobeamten und was für sonderbare Zufälle ihn gerettet hätten. So konnte er u.a. nachweisen, dass er an einem bestimmten Tage, an dem eine bestimmte Zusammenkunft sehr ›belasteter‹ Leute stattgefunden hatte, bei der er, wie Foltererpressung herausgebracht hatte, auch dabei war, nicht in Berlin, sondern in Sommerfeld[171] gewesen sei. Der Stichtag war bei dem Gestapo-Protokoll falsch. Ob es ein Schreibfehler war oder ob der Erpresste, um ihn zu retten, einen falschen Tag benannt hat, wusste er nicht. Noch ein ähnliches ›Wunder‹ war passiert, das ich vergessen habe. Ganz merkwürdig sei auch das Verhalten von seinem Kommissar Sonderegger gewesen, der viele persönlich misshandelt habe, ihn aber mit einer rätselhaften Höflichkeit behandelt habe, die so weit ging, dass er, S[onderegger], sein Essen, das ihm während der Vernehmung gebracht wurde, kalt werden ließ, da er Justus nichts anbieten konnte.

         Unterwegs gerieten wir in eine Russen-Falle. Wir wurden abgeführt, mussten mit etwa 100 andern harmlosen Passanten vor einer Baracke am Kanal bei Plötzensee vier Stunden warten, wurden nach unsern Papieren gefragt und wieder entlassen, während manche abgeführt wurden. Wohin und wofür wussten wir nicht.

         In Plötzensee erfuhren wir, dass die Russen hier keine Häftlinge mehr vorgefunden hätte, nur 4 alte kranke Männer, die nicht mehr transportfähig waren.

         Justus sagt, wie immer, kein Wort. Als wir am Wasser sind, will ich eine Pause machen und setze mich an die Böschung. »Dann wäre es besser gewesen, ich hätte gar nichts unternommen.«[172] – »Das würde Klaus nie gesagt haben.«

         Wir gehen noch zu Poelchau,[173] ob der etwas weiß. Er war nicht da. In seiner Wohnung eine sehr liebe junge Mutter, die sich vor den Russen versteckt hält, da sie sehr hinter ihr her sind. Sie flüstert nur mit uns. Poelchau ist zu seiner Familie in den Harz gefahren.

         Ich lege mich dort auf ein Sofa, während Justus noch zu Pfarrer Reymann (oder Nerzmann?)[174] weiter wandert. Über dem Sofa hängt der Spruch von Claudius ›Was ist der Mensch…‹[175]

         Justus kommt nach etwa einer Stunde ergebnislos zurück. Die Russen sollen Tausende von Civilisten gefangen genommen haben, darunter könnten sie sein und würden dann wohl bald auftauchen. – Vom Gefängniswärtern, die genauere Auskünfte geben könnten, sei keiner mehr da, alle erschossen oder in Haft.

         Auf dem Heimweg kommen wir in Charlottenburg an einen toten Pferd vorbei, an dem viele Menschen herumschneiden. Wir gehen schaudernd vorbei. Dann drehen wir um und nehmen auch ein Taschentuch voll Gulasch mit.

         Diese ganze Zeit lebten wir nur vom Raube. Sobald ein russischer Trupp abzog, stürzten wir aus unsern Häusern und grasten die verlassnen Biwaks ab nach zurückgelassnen Büchsen, Säcken oder Tonnen. Einmal fanden wir ein ganzes Butterfass, das sie vom Wagen verloren hatten, mit Händen und Spaten war bald einen Haufen Menschen dabei, es auszuleeren und heimzuschleppen. Nicht anders, als Ameisen über einem Wurm. Auch die verlassenen Lager der O[rganisation] T[odt] räumten wir auf diese Weise aus, vor allem Kartoffeln fanden wir dort reichlich, auch Seife und Maggiwürze. Solche Raubzüge machten mir ausgesprochenen Spaß, ich unternahm sie manchmal allein, manchmal mit Schleichers Mädchen Anna oder der Alma der Großeltern, die aber nicht so schön schleppen konnte. Nur moralisch Gefestigte machten halt vor verlassenen Privathäusern, die meisten dachten »Was ich nicht nehme, holt sich der nächste« und stahlen sich hemmungslos ihren Lebensbedarf zusammen. Besonders Ausgebombte hatten jedes Bedenken verloren.

5. Mai 1945

Am 5. Mai zog Justus nach Dahlem zu unserer Schwester Lene und ich zu den Eltern in ihr so genanntes ›kleines Frühstückszimmer‹, unmittelbar vor ihrem Schlafzimmer.

6. Mai 1945

Am 6. Mai hörten wir, dass Deutschland kapituliert habe. –

7. Mai 1945

Am 7. [Mai 1945] will Justus zu Pater Rösch[176] gehen, wird aber von Russen festgehalten und muss Schippen und Schienenlegen bis zum Abend ohne Essen zu kriegen. Im Dämmer verdrückt er sich.

8. Mai 1945

Am 8. Mai belegt zum 2. Mal ein russischer Stab das Großelternhaus, aber wir dürfen im 1. Stock bleiben. Nachts poltern sie an meiner Türe, sodass ich zu den Großeltern fliehe. Auch bei den Mädchen nebenan, bei denen auch Frau Schulz aus Eichkamp Zuflucht gesucht hatte, versuchen sie, sich Eintritt zu verschaffen. Diese haben aber ein großes Messingtablett vor die Tür gestellt. Als dieses mit Krach umfällt, drehen sie um. Die Mädchen rückten dann eine schwere Kommode vor die Tür. Die arme Frau Schulz hatte schon in Eichkamp das Schlimmste durchmachen müssen[177] und verlor total die Nerven. In Eichkamp hatte ihr großer treuer Hund und sich zwischen sie und den Russen geworfen und diesen gebissen. Darauf hatte der Russe [auf] ihn geschossen mit seinem Revolver, und der Hund hatte seine Herrin noch gebissen – was weiß man, aus Verzweiflung, Schmerz, Missverständnis. –

9. Mai 1945

Am 9. [Mai 1945] kommt Justus aus Dahlem mit der Todesbotschaft von Georg Hobe,[178] dem Vater der drei besonders lieben Kinder. Er war glücklich dem Volkssturm entronnen, konnte nur noch nicht zu seiner Familie, weil zwischen ihm in Wannsee und seiner Familie im Dahlem noch ›gekämpft‹ wurde, hatte der Unterschlupf in Wannsee bei seinen Bankchef Jörger gefunden. Eines Abends kommen ein paar betrunkene Russen und fragen nach Schnaps. Jörger sagt: »Kein Schnaps mehr da, Eure Freunde alles ausgetrunken. Sie verlangen, den Weinkeller zu sehn, Hobe geht aus Ritterlichkeit mit, die Russen finden keinen Schnaps und schießen beide über den Haufen. –

         Abends kommt Justus mit der sehr wahrscheinlichen Todesnachricht von Hans Dohnanyi, genaues ist bis heute nicht ermittelt. –

         Erst an diesem Abend, nicht am 1. Mai, war das tolle Siegesfest der Russen.[179]

         Justus übernachtet bei Schleichers, geht am nächsten Tag zu Hermes,[180] der eine provisorische Verwaltung aufzuziehen versucht, um die Ernährung von Berlin zu regeln.

         Lisbeth Harnack[181] bringt Kleider und Wäsche einer befreundeten Familie, die sich sämtlich mit Zyankali umgebracht haben. –

11. Mai 1945

Am 11. Mai taucht die Nachricht auf, Klaus und Rüdiger seien wahrscheinlich mit einem Gestapokommissar nach Mecklenburg verbracht worden, Frau Rosenberg[182] wollte dorthin mit dem Auto eines Russen und sie, sowie Hans John, suchen.

         Tante Toni Volkmann[183] kommt zu Fuß aus Nikolassee, nimmt mir einen Brief an die Kinder ab, den sie einem Holländer mitgeben will, von dem sie gehört hat, dass er nach Norden fährt. Der Brief hat die Kinder tatsächlich erreicht.

12. Mai 1945

Am 12. Mai steht in meinem Notizkalender: »Mit Justus zu Lene gewandert hat. Lene hatte Georg heimgeholt. Gespräche über Luther und Katholizismus.«

         Lene hatte Georg heimgeholt. Mit einem Leiterwagen, den sie sich geborgt hatte und einem Gespann der Domäne.[184] Christoph[185] war mit. An meinem Geburtstag[186] begruben wir ihn auf dem alten Dahlemer Friedhof. Nie werde ich die wunderschöne, leise, anspruchslose Predigt unseres Schwagers Dreß[187] vergessen. »Er war ein guter Mensch. Von wem darf man das sagen?« –

         Justus wandert abermals nach Plötzensee, ermittelt nichts. Er besichtigt die Leichen der inzwischen gefundenen Mithäftlinge Haushofer,[188] Salviati,[189] Munzinger[190] – unsere sind nicht dabei, aber die Wahrscheinlichkeit wird immer größer, dass sie auch tot sind.

16. Mai 1945

Am 16. [Mai 1945] kommt ein geretteter Mithäftling Leon,[191] der uns auch sagt, er glaube nicht mehr, dass sie noch am Leben seien, sonst müssten wir jetzt irgend eine Nachricht haben. Aber Papa spricht uns wieder Mut und Hoffnung zu.[192]

17. Mai 1945

Am 17. [Mai] kommt endlich Christel aus Sacrow, hat um Bärbel[193] und Renate[194] entsetzliche Ängste ausgestanden, hat sie aber mit vielen Tücken heil durchgebracht. Sie erfährt den wahrscheinlichen Tod von Hans.[195] – – –

Da hören die Notizen auf.

25. Mai 1945

Am 25. [Mai 1945] noch »Justus von russ[ischen] GFU[196] abgeholt.« – – –

Auch er ist verschollen.[197]

 

[1]      Geschrieben von Emmi Bonhoeffer im Jahr 1945 (Archiv von Cornelie Großmann, unveröffentlichtes Dokument). Vereinzelte Rechtschreibfehler wurden hier stillschweigend korrigiert und die Orthographie an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst. Da die von Emmi Bonhoeffer benutze Schreibmaschine offensichtlich nicht über den Buchstaben ›ß‹ verfügte, wurde die Schreibweise ›ss‹ an den entsprechenden Stellen durch ›ß‹ ersetzt. Die in diesem Bericht angegebenen Daten wurden zur Strukturierung des Textes als Überschriften (kursiviert) eingefügt.

[2]      Rüdiger Schleicher, der Ehemann von Ursula Schleicher, der gemeinsam mit Klaus Bonhoeffer inhaftiert war und ermordet worden ist.

[3]      Soweit dies durch Marginalien im Typoskript geschieht, werden diese im Folgenden in den Anmerkungen erschlossen.

[4]      Vgl. Bethge, Renate: Bonhoeffers Familie und ihre Bedeutung für seine Theologie (Beiträge zum Widerstand 1933–1945, Bd. 30), Berlin 1987.

[5]      Koslowski, Jutta (Hg.): Aus dem Leben der Familie Bonhoeffer. Die Aufzeichnungen von Dietrich Bonhoeffers jüngster Schwester Susanne Dreß. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Jutta Koslowski, Gütersloh 2018 (im Folgenden zitiert als ADL).

[6]      Koslowski, Jutta (Hg.): »Wir sprechen für unsere Toten«. Christine von Dohnanyis Memorandum an die Alliierten vom August 1945. In: Zeitzeichen, Jg. 21, Ht. 8, 2020, S. 15–18

[7]      Bei Lotta und Paul Carrière. Emmi schreibt über ihre Cousine Carrière in Stawedder bei Haffkrug (die eine Patentante ihres Sohnes Thomas war): »Die wohnte mit ihrem Mann Paul Carrière, einem Geiger und Komponisten, auf dem Lande in Holstein in einem kleinen Schusterhäuschen, das sie für sich und die drei Kinder ausgebaut hatten. Sie lebten von dem Unterricht, den sie gaben, er Geige, sie Klavier, materiell sehr ärmlich, aber es war ein so unglaublich reiches Haus an Güte, Humor, Menschlichkeit. Stawedder war unser zweites Zuhause.« (Grabner, Sigrid/Röder, Hendrik (Hg.): Emmi Bonhoeffer. Bewegende Zeugnisse eines mutigen Lebens, Reinbek 2006, S. 71).

[8]      Der älteste Sohn von Klaus und Emmi Bonhoeffer (geboren 1931) war damals 12 Jahre alt.

[9]      Emmis Ehemann Klaus Bonhoeffer war seit 1938 aktiv im politischen Widerstand gegen das Nazi-Regime engagiert und an der Verschwörung des 20. Juli beteiligt.

[10]    In der Kunz-Buntschuh-Straße 4 in Berlin-Grunewald befand sich das Elternhaus von Emmi Bonhoeffer (in unmittelbarer Nähe zur Wangenheimstraße 14, wo Klaus Bonhoeffer aufgewachsen ist).

[11]    Die Fahne in den Farben schwarz-weiß-rot war von 1871 bis 1919 die Nationalflagge des Deutschen Kaiserreichs (nachdem sie seit 1867 als Kennzeichen für die Handels- und Kriegsschiffe des Norddeutschen Bundes verwendet worden ist). In den Jahren von 1933 bis 1935 galt sie übergangsweise als zusätzliche Flagge des ›Dritten Reichs‹, ehe die Hakenkreuz-Flagge als alleinige Nationalflagge eingeführt worden ist.

[12]    Hans Delbrück und seine Ehefrau Lina (geborene Thiersch) hatten sieben Kinder: Lore, Waldemar, Hanni, Lene, Justus, Emmi und Max. Waldemar ist als Soldat im Ersten Weltkrieg gefallen; Hanni hat später einen überzeugten Nazi geheiratet und acht Kinder mit ihm bekommen; Justus wurde als Widerstandskämpfer inhaftiert und starb 1945 in russischer Gefangenschaft; Max wurde Physiker und emigrierte 1937 in die USA, wo er den Nobelpreis erhielt.

[13]    Klaus von Wahl (1923–1997) wurde nach dem Abitur zur Wehrmacht eingezogen; nach dem Krieg studierte er Germanistik und wurde Schauspieler, Regisseur und Autor.

[14]    Dietrich von Wahl (1913–1999) war Rechtsanwalt und Notar. Klaus und Dietrich von Wahl waren verwandt mit Ellen Delbrück (geb. von Wahl), Emmis Bonhoeffers Schwägerin, der Ehefrau ihres Bruder Justus.

[15]    An dieser Stelle ist der Text im Typoskript schwer zu entziffern, da mehrere Zeilen übereinander getippt sind.

[16]    Adolf Hitler.

[17]    Friedrich Fromm (1888–1945) war Generaloberst im Zweiten Weltkrieg und bis zum 20. Juli 1944 Befehlshaber des Ersatzheeres. Die Umsturzpläne Stauffenbergs entstanden in seinem unmittelbaren Umfeld; Fromm wusste davon und hat sie stillschweigend geduldet, war jedoch nicht zu einer aktiven Mitwirkung bereit. Nachdem er durch ein Telefonat erfahren hatte, dass Hitler das Attentat überlebte, weigerte er sich, den ›Walküre-Befehl‹ zu unterschreiben, wozu allein er die Berechtigung hatte. Er befahl Stauffenberg, sich zu erschießen (vermutlich, um seinen eigene Beteiligung an den Umsturz-Plänen zu verschleiern). Die Verschwörer nahmen ihn daraufhin fest; er wurde jedoch wenig später bei der Erstürmung des Gebäudes durch regimetreue Truppen befreit und setzte sich an die Spitze derer, die den Aufstand beendeten. Er befahl die Erschießung von Claus von Stauffenberg sowie seiner Mitverschwörer Friedrich Olbricht, Albrecht Merz von Quirnheim, Werner von Haeften und Ludwig Beck. Vom Volksgerichtshof wurde er wegen ›Feigheit vor dem Feind‹ zum Tod verurteilt und am 12. März 1945 im Zuchthaus Brandenburg-Görden durch Erschießen hingerichtet.

[18]    Otto Ernst Remer (1912–1997) war Offizier der Deutschen Wehrmacht, überzeugter Nationalsozialist und maßgeblich an der Niederschlagung des Putschversuchs vom 20. Juli 1944 beteiligt. Er wurde daraufhin zum Kampfkommandant des Führerhauptquartiers ›Wolfsschanze‹ befördert und im Januar 1945 zu einem der jüngsten Generäle der Wehrmacht ernannt. Nach Kriegsende wurde er bis 1947 interniert und anschließend in einem Entnazifizierungsverfahren in die Gruppe V als ›Mitläufer‹ (›von einer Schuld nicht betroffen‹) eingestuft. In der Folgezeit trat er als rechtsextremer Politiker und Publizist hervor und wurde mehrfach verurteilt (u.a. wegen Leugnung des Holocaust und Volksverhetzung). Haftstrafen entzog er sich mehrmals durch Flucht ins Ausland und hielt sich mehrer Jahre in Syrien, später in Spanien auf. Eine Auslieferung nach Deutschland wurde durch die spanischen Behörden abgelehnt; er starb in der Nähe des Urlaubsortes Marbella an der Costa del Sol.

[19]    Otto John (1909–1997) war Jurist und Widerstandskämpfer. Als einziger der hier Genannten hat er die Nazi-Herrschaft überlebt und wurde später der erste Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Von 1937–1944 war er als Syndikus bei der Lufthansa tätig; Klaus Bonhoeffer war während dieser Zeit sein Vorgesetzter. Klaus führte Otto John ebenso wie dessen Bruder Hans John in die Widerstandskreise ein. Nach dem Scheitern des 20. Juli setzte er sich am 24. Juli 1944 mit Klaus Bonhoeffers Unterstützung mit einem Lufthansa Linienflug über Madrid und Lissabon nach England ab. Während Otto John als Assistent von Klaus Bonhoeffer bei der Lufthansa arbeitete, fungierte Hans John als Assistent von Rüdiger Schleicher in der Rechtsabteilung des Ministeriums für Luftfahrt, sodass sich zwischen ihnen eine enge Zusammenarbeit entwickelte. – Otto John hat sich in einer Monographie rückblickend mit dem Attentat vom 20. Juli auseinandergesetzt: John, Otto: ›Falsch und zu spät‹. Der 20. Juli 1944. Epilog, München 1984.

[20]    Paul von Hase (1885–1944) war ein Cousin von Paula Bonhoeffer und damals als Generalleutnant Stadtkommandant von Berlin. Er gehörte zur Widerstandsgruppe des 20. Juli und wurde am 8. August 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Er gehörte zur ersten Gruppe der Angeklagten, die nach einem Schauprozess vor dem Volksgerichtshof durch den Strang ermordet wurden.

[21]    In der Reihenhaussiedlung Eichkamp in Berlin-Charlottenburg hatten Klaus und Emmi Bonhoeffer seit 1937 ein Haus gemietet; sie wohnten dadurch in unmittelbarer Nähe von Karl und Paula Bonhoeffer, die ihren Altersruhesitz in der Marienburger Allee 43 bezogen haben.

[22]    Lotta Carrière; s.o.

[23]    Klaus und Emmi Bonhoeffer hatten drei Kinder: Thomas (geboren am 26. August 1931), Cornelie (geboren am 31. Oktober 1934) und Walter (geboren am 29. September 1938).

[24]    Karl und Paula Bonhoeffer.

[25]    Karl und Paula Bonhoeffer hatten acht Kinder: Karl-Friedrich, Walter (gefallen im Ersten Weltkrieg), Klaus, Ursula, Christine, die Zwillinge Dietrich und Sabine und Susanne.

[26]    Klaus Bonhoeffer hatte Angst vor der gefürchteten Nazi-Praxis der Sippenhaft. Außerdem befanden sich seit dem 5. April 1943 bereits sein Bruder Dietrich Bonhoeffer und sein Schwager Hans von Dohnanyi im Gefängnis, und auch seine Schwester Christine von Dohnanyi war an diesem Tag festgenommen und für dreieinhalb Wochen inhaftiert worden.

[27]    Justus Delbrück (1902–1945) war der ältere Bruder von Emmi Bonhoeffer und der beste Freund von Klaus Bonhoeffer. Er studierte ebenso wie Klaus Jura in Heidelberg und Berlin und absolvierte sein Referendariat (wie Klaus) beim Reichsverband der Deutschen Industrie in Berlin. Danach ging er in den Staatsdienst, den er jedoch 1935 wieder verließ, da er sich weigerte, in die NSDAP einzutreten und sich stattdessen zur Bekennenden Kirche hielt. Dann übernahm er in Sommerfeld in der Niederlausitz die Tuchfabrik von Peter Leibholz (dem Bruder von Klaus Bonhoeffers Schwager Gernhard Leibholz), um dessen Betrieb vor der Arisierung zu bewahren. Zeitweise konnte er durch Hans von Dohnanyi im Amt Ausland/Abwehr des OKW eingesetzt werden (wo auch Dietrich Bonhoeffer tätig war), bis er 1940 in die Wehrmacht eingezogen wurde. Am 17. August 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und in der Lehrter Straße inhaftiert. Dort konvertierte er zum Katholizismus. Er gehörte zu den wenigen Gefangenen, die am 25. April 1945 aus dem Gefängnis befreit wurden. Bereits am 20. Mai 1945 wurde er als ehemaliger Mitarbeiter der militärischen Abwehr von den russischen Besatzern erneut verhaftet und in das Speziallager Jamlitz bei Lieberose verbracht; dort verstarb er am 23. Oktober 1945 an Diphtherie bzw. Dystrophie (Unterernährung).

[28]    Justus Delbrück hat (neben seinem Tagebuch) in der Haft mehrere ausführliche Abschiedsbriefe an seinen ältesten Sohn Klaus geschrieben, in denen er sein Leben Revue passieren lässt und versucht, Lebensweisheiten für seine Nachkommen festzuhalten (Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München, ZS/A-33/4, S. 7–16; ebd. S. 17– 28 auch Auszüge aus den Briefen an seine Frau Ellen und aus seinem Tagebuch aus dem Gefängnis in der Lehrter Straße).

[29]    Ursula Schleicher (1902–1983) war die älteste der vier Bonhoeffer-Töchter und verheiratet mit Rüdiger Schleicher, der ebenfalls inhaftiert und ermordet wurde. Gemeinsam hatten sie vier Kinder; sie wohnten in unmittelbarer Nachbarschaft von Karl und Paula Bonhoeffer in der Marienburger Allee 42 und ihr Haus war ein wichtiger familiärer Treffpunkt.

[30]    Lotta Carrière; s.o.

[31]    Rüdiger Schleicher (1895–1945) war Jurist und mit Klaus Bonhoeffers ältester Schwester Ursula verheiratet. Seit 1933 arbeitete er im neu gegründeten Reichsluftfahrtministerium in Berlin und leitete dort ab 1935 als Ministerialrat die Rechtsabteilung. Er beteiligte sich nicht aktiv am Widerstand, wurde aber als Mitwisser der konspirativen Aktivitäten der Familie Bonhoeffer am 4. Oktober 1945 verhaftet und am 2. Februar 1945 zusammen mit Klaus Bonhoeffer vom Volksgerichtshof zum Tod verteilt; beide wurden am 23. April 1945 erschossen.

[32]    Klaus Bonhoeffer war seit 1935 als Syndikus, seit 1937 als Chef-Syndikus (Rechtsberater) bei der Lufthansa tätig.

[33]    Josef Baumer (Lebensdaten unbekannt) war SS-Untersturmführer und Kriminalkommissar im Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Nach dem Krieg arbeitete er für die Nachrichtenstelle des Hamburger Verfassungsschutzamtes. 1957 wurde er zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, weil ihm im Fall Walter Bauer Körperverletzung im Amt in Tateinheit mit der Erpressung von Aussagen nachgewiesen werden konnten.

[34]    Rolf Günther (1913–1945) war SS-Sturmbannführer und ab 1941 Stellvertreter von Adolf Eichmann im RSHA (in der Abteilung für ›Auswanderung und Judenangelegenheiten‹). Er war aktiv beteiligt an dem Massenmord von Juden durch den Einsatz von Zyklon B in Vernichtungslagern. Nach Aussage eines Mittäters soll er im August 1945 in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager Selbstmord begangen haben; es gibt jedoch auch Vermutungen, dass er untergetaucht ist und sich nach Argentinien abgesetzt hat. Er arbeitete eng zusammen mit seinem Bruder Hans (1910–1945), ebenfalls SS-Sturmbannführer und beim RSHA tätig; Hans Günther war für die Deportationen von Juden in das Ghetto Theresienstadt verantwortlich und wurde am 5. Mai 1945 auf der Flucht von tschechischen Partisanen erschossen.

[35]    Hans Friedrich Karl Günther (1891–1968) stammte aus Freiburg, studierte Sprachwissenschaften und betätigte sich publizistisch; 1922 erschien sein Hauptwerk ›Rassenkunde des deutschen Volkes‹, ein Grundlagenwerk der nationalsozialistischen Rassenideologie. 1935 wurde er (ohne Habilitation) zum Professor für Rassenkunde an der Universität Berlin ernannt. Nach dem Krieg floh er nach Baden-Württemberg und wurde dort bis 1948 interniert. In einem Entnazifizierungsverfahren wurde er zunächst als ›Minderbelasteter‹, nach der Revision nur noch als ›Mitläufer‹ eingestuft. Bis zu seinem Lebensende veröffentlichte er Schriften mit nationalsozialistischem Gedankengut (unter seinem eigenen Namen sowie pseudonym). Er ist jedoch nicht (wie Emmi Bonhoeffer glaubt) der Vater von Rolf Günther bzw. von dessen Bruder Hans Günther (der ebenfalls als SS-Sturmbannführer beim RSHA tätig war).

[36]    Louis Ferdinand von Preußen (1907–1994) war Kronprinz von Preußen und dem Deutschen Reich, nachdem sein älterer Bruder zunächst aufgrund seiner Eheschließung die Thronanwartschaft verloren hatte und 1940 im Frankreich-Feldzug fiel. Dies veranlasste Hitler zum sogenannten ›Prinzen-Erlass‹, aufgrund dessen Louis Ferdinand (der in der Luftwaffe kämpfte) der Kriegsdienst untersagt wurde. Deshalb bewirtschaftete er seitdem ein Gut seiner Familie in Ostpreußen. In den konservativen Widerstandskreisen gab es viele Befürworter der Monarchie, bei denen Prinz Louis Ferdinand für den Fall eines Gelingens des Staatsstreichs als Prätendent für den Königs- und Kaiserthron galt. Seit 1935 war er in der verkehrspolitischen Abteilung der Lufthansa tätig und war somit ein Kollege von Otto John und Klaus Bonhoeffer, die in der Rechtsabteilung der Lufthansa arbeiteten. – Vgl. Louis Ferdinand Prinz von Preußen: Im Strom der Geschichte, München 41989.

[37]    Hans John (1911–1945) war der jüngere Bruder von Otto John und ebenfalls Jurist. Seit 1939 war er als Assistent von Rüdiger Schleicher in der Rechtsabteilung des Reichsluftfahrtministeriums tätig. Auch er war aktiv im Widerstand gegen Hitler. Deshalb wurde er am 18. August 1944 verhaftet, im Gefängnis Lehrter Straße inhaftiert und gemeinsam mit Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher zum Tod verurteilt; am 23. April 1945 wurden sie erschossen.

[38]    Roland Freisler (1893–1945) war in der NS-Zeit Vorsitzender des Volksgerichtshofs und der bekannteste Strafrichter des Nazi-Regimes – gefürchtet wegen seiner Schauprozesse und notorischen Todesurteile (von denen er etwa 2600 fällte). Als Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz war er einer der Hauptverantwortlichen für die ›Endlösung der Judenfrage‹. Die Todesurteile für Klaus Bonhoeffer, Rüdiger Schleicher und Justus Perels, die er am 2. Februar 1945 aussprach, waren seine letzten, bevor er am 3. Februar auf dem Weg zum Luftschutzkeller des Volksgerichtshofs starb.

[39]    Am 4. Oktober 1944. Er kam ebenso wie Klaus Bonhoeffer in das Gefängnis in der Lehrter Straße 3 und war für die folgenden sieben Monate sein Zellennachbar.

[40]    Handschriftliche Anmerkung am Rand des Typoskripts (vermutlich von Ursula Schleicher): »nicht wörtlich!«

[41]    Handschriftliche Anmerkung am Rand des Typoskripts: »weil er P.G. war«.

[42]    Arthur Knuth (Lebensdaten unbekannt) war SS-Untersturmführer und bis zum März 1945 Kommandant im Gefängnis Lehrter Straße 3. Er wird von Zeitzeugen als »überaus anständig« bezeichnet.

[43]    Die Ehefrau von Rüdiger Schleicher.

[44]    Die Worte »Schleicher ließ sich dupieren […] überschüttete ihn mit Vorwürfen.« sind im Typskript handschriftlich durchgestrichen.

[45]    Hans Kloss (1905–1986) wurde in Wien geboren, war Jurist und zwischen 1939 und 1945 für die Deutsche Lufthansa tätig. Als Mitarbeiter von Klaus Bonhoeffer und Hans John wurde er inhaftiert und verhört; bei der Verhandlung vor dem Volksgerichtshof erhielt er als einziger der fünf Angeklagten lediglich eine Freiheitsstrafe, da ihm keine Verbindung zum Widerstand nachgewiesen werden konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Beamter im Bundesministerium für Finanzen und später als Generaldirektor bzw. Präsident der Oesterreichischen Nationalbank.

[46]    Nicht identifiziert (im Folgenden abgekürzt N.i.).

[47]    Friedrich Justus Perels (1910–1945) war wie Klaus Bonhoeffer Jurist, der an der Universität Heidelberg studierte und in Berlin sein Referendariat und Assessorexamen absolvierte. Er gehörte der Bekennenden Kirche an und fungierte für sie und den Pfarrernotbund als Rechtsberater. Er gehörte gemeinsam mit Klaus und Dietrich Bonhoeffer zum Widerstandskreis um Hans von Dohnanyi und wurde am 5. Oktober 1944 gemeinsam mit Rüdiger Schleicher wegen Nichtanzeige ihm bekannter Umsturzpläne verhaftet. Am 2. Februar 1945 wurde er vom Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler zusammen mit Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher zum Tod verurteilt. Am 23. April 1945 wurde er gemeinsam mit ihnen erschossen.

[48]    Tatsächlich wurden Klaus und Dietrich Bonhoeffer sowie Rüdiger Schleicher und Hans von Dohnanyi am 7. März 1945 auf ihren Wunsch hin von Familienangehörigen mit Diphtherie-Bazillen (nach anderer Darstellung: Typhus) absichtlich infiziert, um sie vernehmungsunfähig zu machen und einen Aufschub für die Vollstreckung der Todesurteile zu erwirken (da das Kriegsende unmittelbar bevorstand). Der Plan schlug jedoch fehl; niemand ist erkrankt. Eine anschauliche Schilderung der mit dieser Verzweiflungstat verbundenen Gewissenkonflikte findet sich in ADL, S. 600 f. Vgl. auch Smid, Marikje: Hans von Dohnanyi, Christine Bonhoeffer. Eine Ehe im Widerstand gegen Hitler, Gütersloh 2002, S. 444–448.

[49]    Am 30. Oktober 1944 wurde Cornelie 10 Jahre alt.

[50]    Der Dichter Matthias Claudius (1740–1815) schrieb in seinem Text ›Valet an meine Leser‹: »Was wird es denn sein mit einem, der ewigen unvergänglichen Dingen vertraut, der an einen allgegenwärtigen souveränen Tröster, einen Stiller alles Haders, glaubt, und eines neuen Himmels und einer neuen Erde wartet? – Der wird, auf dieser Erde, den Fuß in Ungewittern und das Haupt in Sonnenstrahlen haben, wird hier unverlegen und immer größer sein als was ihm begegnet, der hat immer genug, vergibt und vergißt, liebt seine Feinde und segnet die ihm fluchen; denn er trägt in diesem Glauben die beßre Welt, die ihn über alles tröstet und wo solche Gesinnungen gelten, verborgen in seinem Herzen, bis die rechten Schätze zum Vorschein kommen.« (Claudius, Matthias: Werke in einem Band, München 1976, S. 603).

[51]    Ein Zitat aus dem Gedicht ›Ännchen von Tharau‹ des Dichters Simon Dach (1605–1659), das von Heinrich Albert (1604–1651) vertont worden ist.

[52]    Die Galerie (auch bezeichnet als Kunsthandlung bzw. Kunstsalon) Fritz Gurlitt wurde 1880 in Berlin eröffnet und befand sich in der Behrendstraße 29; sie war auf zeitgenössische Kunst spezialisiert. Nach dem Tod von Fritz Gurlitt wurde sie von dessen Sohn Wolfgang Gurlitt weitergeführt, der sie bis 1943 erhalten konnte. Offenbar hatte Klaus Bonhoeffer sein Picasso-Bild einer Absinth-Trinkerin, das er 1928 von seiner Reise nach Spanien mitgebracht hatte, dort ausgestellt.

[53]    N.i.

[54]    N.i.

[55]    Paramilitärische Bautruppe im Dritten Reich, benannt nach ihrem Führer Fritz Todt (1891–1942). Die Organisation Todt wurde im Zweiten Weltkrieg vor allem für Baumaßnahmen in besetzten Gebieten eingesetzt, z.B. Westwall und Atlantikwall, U-Bootstützpunkte, Abschussrampen für Raketen usw.

[56]    Maria von Wedemeyer (1924–1977) war eine Enkeltochter von Ruth von Kleist-Retzow und seit 1943 mit Dietrich Bonhoeffer verlobt. Im Wintersemester 1945 begann sie ein Mathematik-Studium an der Universität Göttingen. 1948 erhielt sie ein Stipendium und ging in die USA, wo sie in der neuartigen Computer-Branche Karriere machte.

[57]    Fabian von Schlabrendorff (1907–1980) war Jurist, Reserveoffizier und Widerstandskämpfer. Er beteiligte sich aktiv am Hitler-Attentat vom 13. März 1943. Nach dem 20. Juli wurde er verhaftet; sein für Februar 1945 vor dem Volksgerichtshof in Berlin angesetzter Prozess fand nicht statt, weil dessen Vorsitzender Roland Freisler am 3. Februar durch einen Bombenangriff getötet worden ist. Stattdessen erreichte er im März 1945 einen Freispruch und wurde in den letzten Kriegstagen in verschiedenen Konzentrationslager verlegt, bevor er von amerikanischen Soldaten befreit wurde. Später wirkte er als Berater bei den Nürnberger Prozessen mit und wurde Richter am Bundesverfassungsgericht. –Vgl. Schlabrendorff, Fabian von: Offiziere gegen Hitler. Nach einem Erlebnisbericht, Hg. Schulze-Gävernitz, Gero von, Zürich 1946.

[58]    Dietrich von Truchseß (Lebensdaten unbekannt) war verheiratet mit Maria von Wedemeyers Cousine Hedwig von Truchseß aus Bundorf in Unterfranken. Wegen Mitwisserschaft des Attentats vom 20. Juli wurde er im August 1945 inhaftiert und konnte im April 1945 befreit werden.

[59]    D.i. eine verschlüsselte schriftliche Mitteilung von Gefangenen untereinander bzw. mit der Außenwelt.

[60]    Abkürzung für: Oberkommando der Wehrmacht.

[61]    Ludwig Beck (1880–1944) war General in der Deutschen Wehrmacht. Hitlers Kriegsplänen stand er kritische gegenüber, da er sie für militärisch nicht durchführbar hielt. Angesichts der Tschechien-Krise versuchte er 1938, die Generalität zum geschlossenen Rücktritt zu bewegen; als dies misslang, reichte er seine Demission ein. Seitdem engagierte er sich in Berlin im militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, wobei er vor allem mit Carl Friedrich Goerdeler und dem Kreisauer Kreis zusammenarbeitet. Nach dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli wurde Beck erschossen.

[62]    Werner Schrader (1895–1944) war ausgebildeter Lehrer und seit 1939 im OKH (Oberkommando des Heeres) eingesetzt. Er war Verbindungsoffizier der Abwehr unter Admiral Canaris und führte dessen geheimes Tagebuch, in dem er die Gräueltaten der Nazis dokumentierte. Acht Tage nach dem Scheitern des Attentats beendete er sein Leben durch Suizid.

[63]    Franz Xaver Sonderegger (geboren 1898, Todesdatum unbekannt) war zunächst Kriminalsekretär, dann Kriminalkommissar. Seit 1930 war er Mitglied in der NSDAP, seit 1939 bei der Gestapo. 1943 wurde er Manfred Roeder zugeteilt für die Vernehmungen von Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer; ab 1944 war er in der Sonderkommission 20. Juli des RSHA tätig. Am 1. Januar 1945 wurde er Mitglied der Waffen-SS. Im August 1945 wurde er interniert und 1949 zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt.

[64]    Handschriftliche Anmerkung am Rand des Typoskripts: »18. Dez«.

[65]    Gerhard Görisch (Lebensdaten unbekannt) war Mitglied der NSDAP und Oberstaatsanwalt im Dritten Reich.

[66]    Kurt Wergin (1900–1973) war promovierter Jurist und arbeitete als Rechtsanwalt und Notar in Berlin, wo er in der NS-Zeit zahlreiche Fälle von rassisch oder politisch Verfolgten übernahm; am 16. September 1943 wurde er zum Verteidiger Dietrich Bonhoeffers bestellt.

[67]    Arno Weimann (Lebensdaten unbekannt) war als Rechtsanwalt beim Volksgerichtshof tätig und wurde zum Pflichtverteidiger im Verfahren gegen Klaus Bonhoeffer bestimmt.

[68]    Das Wort »ihn« ist im Typoskript durchgestrichen und handschriftlich am Rand vermerkt: »Görisch«.

[69]    N.i.

[70]    Ludwig Gehre (1895–1945) war Berufsoffizier im Ersten Weltkrieg. Er sympathisierte anfangs mit dem Nationalsozialismus, beteiligte sich dann aber am Widerstand im Amt Ausland/Abwehr unter Admiral Canaris, wo er mit Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer zusammenarbeitete. Im März 1944 wurde er von der Gestapo gefasst, konnte jedoch fliehen und tauchte für mehrere Monate unter – unter anderem bei Auguste und Ludwig Münz in Kleinmachnow und bei Bernhard Lösener in Berlin (der daraufhin selbst festgenommen wurde). Auch Hans und Otto John hielten ihn längere Zeit versteckt. Seine Versorgung wurde zunehmend zum Problem, zumal er sich weigerte, seine Ehefrau Hannah zurückzulassen. Nach dem 20. Juli 1944 wurde die Fahndung nach ihm verschärft. Schließlich wurde ihr Versteck in einer Villenruine verraten: Hannah Gehre wurde beim Schusswechsel mit der Gestapo am 2. November 1944 getötet; Ludwig Gehre versuchte, sich durch einen Kopfschuss das Leben zu nehmen und wurde mit schwereren Verletzungen verhaftet. Bei den anschließenden Verhören hat er unter Folter zahlreiche Mitverschwörer belastet. Seine letzten Lebenswochen verbrachte er zusammen mit Dietrich Bonhoeffer: zunächst im Keller des Gestapo-Sondergefängnisses in der Prinz-Albrecht-Straße 8 in Berlin, dann im Konzentrationslager Buchenwald und im oberbayrischen Schönberg, schließlich im Konzentrationslager Flossenbürg, wo beide am 9. April 1945 hingerichtet wurden.

[71]    Ernst von Harnack (1888–1945) war ein Sohn des Theologen Adolf von Harnack (1851–1930), der in der Nachbarschaft der Bonhoeffers im Grunewald wohnte und mit der Familie befreundet war. Ernst war ebenso wie Klaus Jurist; als ehemaliger Regierungspräsident beteiligte er sich in Berlin am Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Sein Todesurteil wurde von Roland Freisler (1893–1945) am 1. Februar 1945 verhängt (einen Tag vor demjenigen von Klaus) und am 5. März 1945 im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee durch den Strang vollstreckt.

[72]    Hier versucht Emmi Bonhoeffer, ihren Kindern möglichst Mut zu machen. Tatsächlich hatte sich über die Weihnachtstage 1944 für die Gefangenen an ihren verschiedenen Orten vorübergehend eine gewisse Erleichterung ergeben: Klaus Bonhoeffer, Rüdiger Schleicher, Eberhard Bethge und Justus Delbrück konnten sich im Gefängnis Lehrter Straße etwas freier bewegen; von Dietrich Bonhoeffer war aus dem Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße ein Brief vom 19. Dezember eingetroffen (nachdem der Kontakt ansonsten fast ganz abgebrochen war) und Hans von Dohnanyi befand sich in der Krankenbaracke des Konzentrationslagers Sachsenhausen in freundschaftlichem Kontakt mit seinen Pflegern und Mithäftlingen. In dieser Lage von schönen Weihnachtstagen, Sorglosigkeit und Heiterkeit zu sprechen, war freilich reiner Zweckoptimismus.

[73]    N.i.

[74]    Dort befand sich das gemietete Wohnhaus von Klaus und Emmi Bonhoeffer.

[75]    Emmi Bonhoeffer nimmt hier (wie bei manchen anderen Gelegenheiten) kritisch Stellung zu Entnazifizierungsverfahren, bei denen (ehemalige) Parteigenossen pauschal verurteilt wurden, ohne auf ihre persönliche Einstellung und spezifischen Umstände Rücksicht zu nehmen. Mit der moralischen Autorität der Witwe eines Widerstandskämpfers versuchte sie – ebenso wie andere Mitglieder der Familie Bonhoeffer –, solchen Tendenzen entgegen zu wirken.

[76]    Handschriftliche Anmerkung am Rand des Typoskripts: »nicht Knuth sondern Gutsche« (n.i.).

[77]    Otto Vaterott (geboren 1907, Todesdatum unbekannt) war Mitarbeiter der Gestapo und Kriminaloberassistent. Nach dem 20. Juli war er im Gefängnis Lehrter Straße 3 tätig, bevor er in der Nacht vom 22. auf dem 23. April 1945 von dort floh. 1947 wurde er interniert und von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt; am 24. Dezember 1955 kam er aus dem Speziallager Bautzen frei. Später war er Hannover als Kriminalobermeister tätig – ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen der Morde in der Lehrter Straße wurde 1969 aus Mangel an Beweisen eingestellt.

[78]    Ursula Schleicher kommentiert dazu in einem Brief an Emmi Bonhoeffer vom 11. April 1949: »Vaterott nahm übrigens gern von mir eine Flasche Wein.« (Archiv von Cornelie Großmann, unveröffentlichtes Dokument). Auch aus anderen Zeugenberichten geht hervor, dass Otto Vaterott durchaus bestechlich war.

[79]    Dies ist nicht zutreffend; er hat das Nazi-Regime überlebt. Handschriftliche Anmerkung am Rand des Typoskripts: »lebt in Schwerin [durchgestrichen für: Stettin] (Juli 1947)«.

[80]    Handschriftliche Anmerkung am Rand des Typoskripts: »nicht Frau Vaterott sondern Gutsche«.

[81]    N.i.

[82]    Gessler (in Schillers Drama ›Wilhelm Tell‹ mit dem Vornamen Hermann) war ein legendärer Reichsvogt in Schwyz und Uri im 13. Jahrhundert. Gessler hatte Wilhelm Tell zum Schuss auf den Apfel gezwungen und wurde daraufhin selbst von ihm mit seiner Armbrust erschossen. Dieser Tyrannenmord an Gessler war der Anlass für den Aufstand der heimlich Verbündeten und die Entstehung der Eidgenossenschaft.

[83]    Mt 12, 30 und Lk 11, 23: »Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.«

[84]    Am 31. März 1943 feierte Karl Bonhoeffer seinen 75. Geburtstag in seinem Haus in der Marienburger Allee im Kreis der Familie. Dies war das letzte Zusammentreffen mit allen Kindern, Schwiegerkindern und Enkelkindern (mit Ausnahme von Familie Leibholz, die damals in England lebte), kurz vor der Verhaftung von Dietrich Bonhoeffer sowie Hans und Christine von Dohnanyi; ein Foto davon findet sich in Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Sein Leben in Bildern und Texten, S. 196.

[85]    Ernst von Harnack; s.o.

[86]    Ulrich von Hassell (1881–1944) war Jurist und Diplomat. 1932 wurde er zum deutschen Botschafter in Rom ernannt. 1933 trat er der NSDAP bei. Aus Anlass des Beginns des Zweiten Weltkriegs schloss er sich dem Widerstand gegen Hitler an. Für eine Übergangsregierung war er als Außenminister vorgesehen. Am 29. Juli 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und am und am 8. September 1944 vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt; das Urteil wurde noch am gleichen Tag vollstreckt. – Vgl. von Hassell, Ulrich: Der Kreis schließt sich. Aufzeichnungen in der Haft 1944, Berlin 1994; Ders.: Vom anderen Deutschland. Aus den nachgelassenen Tagebüchern 1938–1944, Zürich 1946.

[87]    Jakob Kaiser (1888–1961) gehörte als Politiker der Zentrumspartei und später der CDU an. Er beteiligte sich seit 1934 an der Widerstandsbewegung und war führendes Mitglied im Kölner Kreis. Einer Verhaftung konnte er sich durch Flucht entziehen und überlebte in einem Kellerversteck als einer der wenigen Vertreter des gewerkschaftlichen Widerstands. Nach dem Krieg wurde er einer der Mitbegründer der CDU in der Sowjetischen Besatzungszone und später Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen.

[88]    Wilhelm Leuschner (1890–1944) war Gewerkschafter, Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer. Nach dem Anschluss seiner Lehre als Holzbildhauer trat er 1907 in die Gewerkschaft und 1913 in die SPD ein. Nach dem Wahlsieg der SPD im Jahr 1928 wurde Leuschner zum Hessischen Innenminister ernannt. Am 1. April 1933 wurde er von den Nazis zum Rücktritt gezwungen und in verschiedenen Konzentrationslagern interniert. Nach seiner Entlassung 1934 engagierte er sich im politischen Widerstand gegen Hitler und hatte dabei auch Verbindungen zum Kreisauer Kreis, zu Carl Friedrich Goerdeler, Klaus Bonhoeffer und zu Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli wurde Leuschner denunziert, festgenommen, unter Freisler zum Tod verurteilt und am 29. September 1944 in Plötzensee hingerichtet.

[89]    Julius Leber (1891–1945) war SPD-Politiker, Reichstagsabgeordneter und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Bereits als Schüler trat er der SPD bei und studierte nach dem Abitur Volkswirtschaft und Geschichte. Er kämpfte als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg und stellte sich beim Kapp-Putsch 1920 auf die Seite der Republik. 1921 wurde er Chefredakteur des sozialdemokratischen Lübecker Volksboten und Mitglied der Lübecker Bürgerschaft. Bereits 1933 kam es zum Konflikt mit den Nationalsozialisten, und Leber kam ins Gefängnis und in verschiedenen KZs. Nach seiner Entlassung 1937 arbeitete er als Kohlenhändler getarnt in Berlin im sozialdemokratischen Widerstand. In den Umsturzplänen des 20. Juli wurde Leber als zukünftiger Innenminister oder sogar als Reichkanzler vorgesehen. Doch er wurde bereits vor dem Attentat, am 5. Juli 1944, verhaftet, da er von einem Gestapo-Spitzel verraten worden war. Am 20. Oktober 1944 wurde er bei einem Schauprozess vor dem Volksgerichtshof zum Tod verurteilt; das Urteil wurde am 5. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee vollstreckt.

[90]    Ein Zitat von Friedrich Schiller aus dem Drama ›Die Braut von Messina‹ im 4. Akt, 10. Auftritt (Chor).

[91]    1. Kor 7, 23.

[92]    Diese Hoffnung hat sich nicht ganz erfüllt: Tatsächlich hat in der Folgezeit vor allem Dietrich Bonhoeffer Berühmtheit erlangt, während die Namen seiner Mitstreiter weitgehend in Vergessenheit geraten sind.

[93]    N.i.

[94]    Korrektur; im Original: Azalie.

[95]    Korrektur; im Original: Azalie.

[96]    Theodor Haubach (1896–1945) war SPD-Politiker und wurde als Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime am 23. Januar 1945 zusammen mit Erwin Planck und Helmuth James Graf von Moltke in Berlin-Plötzensee erhängt.

[97]    Dieser Zusatz weist darauf hin, dass Moltke der Begründer des nach seinem Gut Kreisau in Niederschlesien benannten sogenannten ›Kreisauer Kreises (einer bürgerlich-christlichen Widerstandsgruppe) war.

[98]    Johannes Popitz wurde am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee erhängt.

[99]    Wie zutreffend diese Einschätzung der Lage der Dinge war, erwies sich bald darauf: Nur einen Tag nach der Verhängung des Todesurteils über Klaus Bonhoeffer fiel Roland Freisler einem Bombenangriff auf Berlin zum Opfer und starb.

[100]   Wilhelm Furtwängler (1886–1954) war Komponist und einer der bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit. Ab 1922 war er Chefdirigent bei den Berliner Philharmonikern. Zu Beginn der Nazi-Zeit unterstützte er jüdische Musiker, ging jedoch Kompromisse mit den neuen Machthabern ein und wurde zum Vizepräsidenten der Reichsmusikkammer ernannt, die dem Propaganda-Ministerium von Josef Goebbels unterstand. 1936 schlug er das Angebot aus, die Leitung der New Yorker Philharmoniker zu übernehmen und blieb in Deutschland. Vor der Eroberung Berlins durch die sowjetischen Truppen konnte sich mit Billigung der deutschen Behörden in die Schweiz absetzen. Er wurde nicht nur auf der ›Gottbegnadeten-Liste‹ von Hitler und Goebbels geführt, sondern auch auf der dazugehörigen Sonderliste der drei wichtigsten Musiker.

[101]   Emmi Bonhoeffer scheint Wert darauf gelegt zu haben, dass sie während ihrer Besuche bei Funktionären nach Möglichkeit so saß, dass das Licht in ihrem Rücken war; bereits anlässlich ihres Besuchs bei Herrn Günther hatte sie davon berichtet.

[102]   Tatsächlich ist es im Fall von Fabian von Schlabrendorff (am 16. März 1945) und von Hans Lukaschek (am 19. April 1945) vor dem Volksgerichtshof zu einem Freispruch gekommen, da beide sich erfolgreich darauf berufen hatten, dass ihre Geständnisse unter Folter erpresst wurden; diese Fälle haben sich jedoch erst nach Freislers Tod ereignet. (Vgl. Keyserlingk-Rehbein: Nur eine »ganz kleine Clique«?, S. 148 f.).

[103]   Dass Klaus Bonhoeffer mit dem Attentat vom 20. Juli »nichts zu tun« hatte, ist formal betrachtet natürlich eine Lüge, wie Emmi Bonhoeffer genau weiß. Doch war man in der Familie Bonhoeffer davon überzeugt, dass es in ethischen Grenzsituationen höhere Werte gibt, als ›die Wahrheit zu sagen‹ – z.B. um das Leben oder die Ehre eines zu Unrecht Verfolgten zu schützen. Vgl. hierzu Dietrich Bonhoeffers Ausführungen über ›Was heißt die Wahrheit sagen?‹. In: Bonhoeffer, Dietrich: Werke, Hg. Bethge, Eberhard u.a., 17 Bde., Gütersloh 2015, Bd. 16, S. 619–629 (im Folgenden zitiert als DBW).

[104]   Susanne berichtet über Paula Bonhoeffer aus dieser Zeit: »Meiner Mutter ging es sehr schlecht. Sie hatte immer wieder kurze Absenzen; wenn sie wieder klar wurde, hatte sie zunächst alles vergessen, was geschehen ist, und es war für sie und uns qualvoll, wenn sie sich mühsam an alles zu erinnern suchte. Dann kamen langsam die Worte: ›Und Klaus auch? Und Rüdiger auch?‹ « (ADL, S. 602).

[105]   Rudolf Pechel (1882–1961) war Journalist und engagierte sich im Widerstand gegen das Nazi-Regime. Nachdem er im Januar 1942 in der Deutschen Rundschau einen kritischen Artikel über Josef Goebbels veröffentlicht hatte, der auch im Ausland nachgedruckt wurde, hat ihn die Gestapo am 8. April 1942 verhaftet; kurz darauf wurde die Deutsche Rundschau verboten. Pechel kam zunächst ins Hausgefängnis des RSHA, dann ins KZ Sachsenhausen (mit Einzel- und Dunkelhaft) und anschließend ins KZ Ravensbrück. Ab September 1944 wurde er wieder in verschiedenen Berliner Gefängnissen (Prinz-Albrecht-Straße, Tegel und Moabit) inhaftiert. Bei seiner Verhandlung vor dem Volksgerichtshof am 1. Februar 1945 (einen Tag vor der Verhandlung von Klaus Bonhoeffer) wurde Pechel überraschend freigesprochen – ›aus Mangel an Beweisen‹, da man ihm eine Kenntnis der Umsturzpläne Goerdelers nicht nachweisen konnte. Allerdings musste er zurück ins Gefängnis Moabit und wurde von dort wieder nach Sachsenhausen überstellt. Auf Betreiben seines Sohnes wurde er am 11. April 1945 entlassen. Er kehrte nach Berlin zurück und gehörte dort am 26. Mai 1945 zu den Begründern der CDU. Er war seitdem wieder als Journalist tätig und wurde später Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie Mitglied im Rundfunkrat in Stuttgart.

[106]   Es ist nicht klar, welches der Bücher von Rudolf Pechel hier gemeint ist – vielleicht Pechel, Rudolf (Hg.): Deutscher Widerstand, Erlenbach-Zürich 1947 oder Ders.: Deutsche Gegenwart. Aufsätze und Vorträge 1945–1952, Darmstadt 1953.

[107]   Abkürzung für: Nationalpolitische Erziehungsanstalt.

[108]   Dieser Abschiedsbrief ging verloren; was Emmi Bonhoeffer daraus wörtlich in Erinnerung behielt, hat sie später notiert.

[109]   Reinhard Neubert (1896–1945) war promovierter Jurist, Rechtanwalt und Notar. Er gehörte der NSDAP an. Seit 1933 war er Vorstandsvorsitzender der Berliner Anwaltskammer und Präsident der Reichsrechtsanwaltskammer in Berlin.

[110]   Am Rand korrigiert zu: »Sei guten Muts«.

[111]   Der ›Igel‹ ist eine nicht-schlagende und nicht-farbentragende Studentenverbindung an der Universität in Tübingen, der sowohl Karl Bonhoeffer als auch seine Söhne Karl-Friedrich und Dietrich Bonhoeffer (nicht jedoch Klaus Bonhoeffer) angehörten – ebenso wie Rüdiger Schleicher. Dieser kam in Kotakt mit Familie Bonhoeffer und seiner zukünftigen Ehefrau Ursula, als er Karl Bonhoeffer als einem ›alten Herren‹ dieser Studentenverbindung in Berlin einen Besuch abstattete. Neben einer Igelmütze ist eine bestimmte Melodie das Erkennungszeichen für die Angehörigen dieser Verbindung.

[112]   Dorothee und Christine Schleicher sind die beiden jüngsten der vier Kinder von Rüdiger und Ursula Schleicher; sie waren damals sechzehn und vierzehn Jahre alt.

[113]   Ein Bruder von Rüdiger Schleicher.

[114]   Das Wort »schönes« ist im Typoskript handschriftlich durchgestrichen.

[115]   Nicht erhalten.

[116]   Dorothee Schleicher.

[117]   Dietrich Bonhoeffer befand sich vom 8. Oktober 1944 bis zum 7. Februar 1945 im Keller des Gestapo-Sondergefängnisses in der Prinz-Albrecht-Straße 8 in Berlin, bevor er in das Konzentrationslager Buchenwald verlegt wurde. Die Eltern versuchten an diesem Tag vergeblich, ihrem Sohn Dietrich zu seinem 39. Geburtstag am 4. Februar 1945 einen Gruß zukommen zu lassen.

[118]   Gemeint ist: auf einen Sack, der Flüchtlingen gehörte.

[119]   D.h. am Boden liegende Drähte der Straßenbahn, die auch als ›Elektrische‹ bezeichnet wurde.

[120]   Die Worte »dann die Leiche… niedergelegt, und« sind im Typoskript durchgestrichen; am Rand befindet sich die handschriftliche Anmerkung: »Unrichtig siehe Ursel Schleichers Berichtigung«. Vgl. zu diesem denkwürdigen Ereignis auch die Schilderung von Susanne Dreß in ADL, S. 605–607.

[121]   Otto Thierack (1889–1946) war von 1936 bis 1942 Präsident des Volksgerichtshofs und anschließend bis zum Ende des Nazi-Regimes Reichsjustizminister. Am 20. April 1945 floh er aus Berlin und begab sich nach Eutin, wo er zuletzt Anfang Mai gesehen wurde. Möglicherweise hat er sich vorn dort mit dem Regierungstross nach Flensburg begeben. Er wurde schließlich vom britischen Militär in Neumünster inhaftiert und gelangte in das Internierungslager Eselheide, wo er sich am 26. Oktober 1946 das Leben nahm, sodass er in den Nürnberger Prozessen nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden konnte.

[122]   Die Worte »erbärmliche Puppe« sind im Typoskript durchgestrichen. Der Hinweis in Klammern, dass Ursula Schleichers Tochter Dorothee bei diesem Gespräch anwesend war, bedeutet wohl, dass es im Kreis der Familie schon bald darauf verschiedene Überlieferungen über den genauen Wortlaut gab. Vermutlich hat Ursula zunächst von ihrem Zorn berichtet und diese Erzählung später etwas abgeschwächt.

[123]   Rüdiger Schleicher war seit 1939 Honorarprofessor am Institut für Luftrecht der Technischen Universität Berlin; seit 1940 zusätzlich Direktor des Instituts für Luftrecht an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität.

[124]   Paul Franzki (geboren 1891, Todesdatum unbekannt) war Reichsanwalt beim Volksgerichtshof.

[125]   Paul Lämmle (1892–1945) war Volksgerichtsrat am Volksgerichtshof.

[126]   Ernst Lautz (1887–1979) war Oberreichsanwalt am Volksgerichtshof und hatte die Anklageschrift gegen Klaus Bonhoeffer und seine Mitangeklagten aufgesetzt.

[127]   Nicht erhalten.

[128]   Warum hier nicht alle Kinder genannt werden, sondern nur der älteste Sohn, ist nicht bekannt.

[129]   Eduard Kohlrausch (1874–1948) war Professor für Rechtswissenschaften in Königsberg, Freiburg und ab 1919 in Berlin. 1932 wurde er zum Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität gewählt, trat jedoch 1934 nach Konflikten mit Angehörigen des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes zurück. Bei der Wiedereröffnung der Berliner Universität 1946 wurde er zum kommissarischen Dekan der Juristischen Fakultät ernannt.

[130]   Die Sekretärin von Klaus Bonhoeffer, zu der er und Emmi ein gutes Verhältnis hatten.

[131]   Wilhelm Crohne (1880–1945) war stellvertretender Präsident des Volksgerichtshofs und übernahm nach dem Tod von Roland Freisler für kurze Zeit dessen Amt, bis am 12. März 1945 Harry Haffner von Hitler zum neuen Präsident des VGH ernannt wurde.

[132]   Hans von Dohnanyi war als Jurist unter anderem am Reichsgericht in Leipzig und im Reichsjustizministerium in Berlin tätig gewesen; mit seiner Frau Christine hatte er über alle beruflichen und politischen Belange stets in intensivem Austausch gestanden.

[133]   Pippert (geboren 1904, Todesdatum unbekannt, Vorname unbekannt) war im Dritten Reich und danach als Staatsanwalt tätig.

[134]   Lateinisch für ›Lamm Gottes‹ – eine Bezeichnung für Jesus Christus wegen dessen gewaltfreier Haltung gegenüber seinen Verfolgern (vgl. Joh 1, 29.36; Offb 5, 6).

[135]   Hiermit könnte sowohl Kunrat von Hammerstein-Equord (1918–2007) als auch sein jüngerer Bruder Ludwig (1919–1996) gemeint sein – beides Söhne von General Kurt von Hammerstein-Equord (1878–1943), dem sogenannten ›Roten General‹. Kunrat und Ludwig waren selbst jedoch nicht Generäle, sondern Offiziere und Angehörige des militärischen Widerstands. Ende 1944 wurden sie zusammen mit ihrer Mutter Maria von Hammerstein, ihrem Bruder Franz und ihren Schwestern Maria und Hildur verhaftet und in ein abgeschirmtes Sonderlager des KZ Buchenwald verbracht. Alle Familienangehörigen haben den Zweiten Weltkrieg überlebt.

[136]   Abschiedsbrief von Klaus Bonhoeffer an seine Eltern Karl und Paula Bonhoeffer vom 31. März 1945. In: Bethge: Letzte Briefe im Widerstand, S. 51. Dort heißt es wörtlich: »Aber ich will ja nicht nur leben… Da dies nun wohl…«.

[137]   Ernst Ludwig Heuss, genannt Lutz (1910–1967), war der einzige Sohn des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss und seiner Ehefrau Elly Heuss-Knapp und ein Vetter zweiten Grades von Emmi Bonhoeffer. Er war promovierter Jurist, konnte jedoch in diesem Beruf nicht tätig werden, da seine Eltern den Nationalsozialismus offen ablehnten; deshalb arbeitete er in der Wirtschaft. Er gehörte zur Bekennenden Kirche und zum Widerstand (u.a. zum Solf-Kreis) und unterstützte verfolgte Juden. Nach dem Krieg war er als Unternehmer tätig und gehörte 1964 zu den Mitbegründern der Theodor-Heuss-Stiftung.

[138]   Otto Kiep (1886–1944) war Jurist und in der Weimarer Republik als Beamter im Auswärtigen Amt tätig. Von dort wechselte er in den diplomatischen Dienst und war bis 1933 Generalkonsul in New York. Nachdem er im März 1933 an einem Bankett zu Ehren von Albert Einstein teilgenommen hatte, verlangten die Nationalsozialisten seine Ablösung und Kiep ließ sich in den einstweiligen Ruhestand versetzen. 1937 trat er in die NSDAP ein. Im Zweiten Weltkrieg war er im Amt Ausland/Abwehr tätig und knüpfte dort Kontakte zu Widerstandskreisen, u.a. zum Kreisauer Kreis. Moltke warte Kiep vor einen Gestapo-Spitzel und wurde dafür selbst verhaftet; Kiep wurde am 16. Januar 1944 festgenommen, am 1. Juli 1944 vor dem Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und am 26. August 1944 in Berlin-Plötzensee erhängt.

[139]   Emmi Bonhoeffer war zu dieser Zeit mit offiziellem Wohnort bei ihren Kindern in Stawedder gemeldet, sodass ihre Lebensmittelmarken dort ausgestellt wurden und mit der Post zugeschickt werden mussten.

[140]   Jürg Zutt (1893–1980) war Psychiater und Neurologe. Seit 1923 war er Assistent von Karl Bonhoeffer an der Charité in Berlin. Er habilitierte sich 1932 und erhielt dort 1936 eine außerplanmäßige Professur. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Professor in Würzburg und später in Frankfurt. Gemeinsam mit Karl Bonhoeffer hat er u.a. das Gutachten über den vermeintlichen Reichstagsbrandstifter Marinus van der Lubbe herausgegeben (Bonhoeffer, Karl/Zutt, Jürg: Über den Geisteszustand des Reichstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Jg. 89, 1934, S. 185–213); außerdem hat er einen Nachruf für ihn verfasst (Zutt, Jürg: Karl Bonhoeffer (geb. 1868 in Neresheim, gest. 1948 in Berlin). In: Der Nervenarzt, Jg. 20, 1949, S. 241–244) und dessen Lebenserinnerungen herausgegeben (Zutt, Jürg/Straus, Erwin/Scheller, Heinrich (Hg.): Karl Bonhoeffer. Zum Hundertsten Geburtstag am 31. März 1968, Berlin 1969).

[141]   N.i. Es ist unklar, warum Emmi Bonhoeffer diesen Namen anonymisiert – obwohl sie sonst alle Personen im Klartext nennt (auch wenn sie kritisch über sie berichtet).

[142]   Dies ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Emmi Bonhoeffer nicht nur mutig war, sondern auch recht impulsiv sein konnte und dabei alle Vorsicht außeracht ließ (eine Eigenschaft, wegen der Klaus Bonhoeffer sie aus allen Verabredungen der Konspiration nach Möglichkeit herausgehalten hatte).

[143]   Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) war einer der bedeutendsten Chirurgen des 20. Jahrhunderts und als Arzt für die Familie Bonhoeffer tätig. Zum Nazi-Regime hatte er ein ambivalentes Verhältnis: Einerseits unterstütze er 1933 das ›Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler‹. 1937 wurde er in den Reichsforschungsrat berufen, der die berüchtigten Menschenversuche der SS in Konzentrationslagern unterstützte. Als Generalarzt des Heeres bewilligte Sauerbruch 1942 Mittel für Senfgasversuche an Häftlingen. Andererseits hatte er gegen das Euthanasie-Programm protestiert und hielt Kontakt mit einigen der Verschwörer des 20. Juli, weshalb er selbst mehrfach verhört worden war.

[144]   Die Woyrsch-Straße befand sich in Berlin-Tiergarten (seit 1947 wieder umbenannt in Genthiner Straße).

[145]   ›Knie‹ oder ›Am Knie‹ war bis 1953 die Bezeichnung für den Ernst-Reuter-Platz im Zentrum des Berliner Stadtteils Charlottenburg; die Entfernung zwischen diesen beiden Orten beträgt etwa 4 Kilometer.

[146]   Lotta Carrière, wo die drei Kinder von Klaus und Emmi Bonhoeffer evakuiert waren.

[147]   Dieses Zitat stammt aus dem Singspiel ›Lila‹ von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahr 1777, wo Magus in der 2. Szene im 2. Aufzug sagt: »Feiger Gedanken/ Bängliches Schwanken,/ Weibisches Zagen,/ Ängstliches Klagen/ Wendet kein Elend,/ Macht dich nicht frei.// Allen Gewalten/ Zum Trutz sich erhalten,/ Nimmer sich beugen,/ Kräftig sich zeigen,/ Rufet die Arme/ Der Götter herbei!«

[148]   Vgl. Mt 6, 10 (Vaterunser) und Mt 26, 39 (Jesu Gebet im Garten Gethsemane).

[149]   Gemeint ist: auf eine etwaige Todesnachricht.

[150]   Hans-Viktor von Salviati (1897–1945) war Offizier und Rittmeister beim Springstall der Kavallerieschule in Hannover. Seit 1939 gehörte er zur SS und seit 1940 zur NSDAP; gleichzeitig schloss er sich dem militärischen Widerstand an. Am 6. August 1944 wurde er verhaftet und im Zellengefängnis Lehrter Straße inhaftiert. Am 23. April 1945 wurde er gleichzeitig mit Klaus Bonhoeffer erschossen.

[151]   Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg (1902–1945) war fränkischer Gutsbesitzer, Historiker und Publizist; er gehörte zum monarchistisch-konservativen Flügel des Widerstands. Seit 1934 gab er die Zeitschrift ›Weiße Blätter‹ heraus, in der Klaus Bonhoeffer 1942 seinen Artikel ›Grundformen des Rechts‹ veröffentlichte. Guttenberg arbeitete seit 1941 in der militärischen Abwehr unter Admiral Canaris. Kurz nach dem Scheitern des 20. Juli wurde er verhaftet und in der Nacht vom 23. auf dem 24. April 1945 als einer der letzten Insassen des Zellengefängnisses in der Lehrter Straße ermordet.

[152]   Eberhard Bethge (1909–2000) war Pfarrerssohn und studierte selbst Theologie. Im Predigerseminar in Finkenwalde lernte er Dietrich Bonhoeffer kennen und wurde sein engster Freund und Mitarbeiter. 1943 heiratet er Renate Schleicher, die Tochter von Klaus’ ältester Schwester Ursula; somit gehörte er zum Familienkreis der Bonhoeffers. Danach wurde er zur Wehrmacht eingezogen und als Schreiber in Italien stationiert, bis er 1944 im Zuge des 20. Juli verhaftet wurde. Am 25. April 1945 wurde er (ebenso wie Justus Delbrück) aus dem Gefängnis entlassen. Nach dem Krieg arbeitete er u.a. als Studentenpfarrer, Auslandspfarrer in London und Leiter des Pastoralkollegs der Evangelischen Kirche im Rheinland; außerdem machte er sich in seinem unermüdlichen Einsatz als Nachlassverwalter und Biograph von Dietrich Bonhoeffer verdient.

[153]   Walter Bauer (1901–1968) war Jurist und seit 1924 als Direktionsassistent in der Berliner Verkehrs- und Handels AG tätig. Er war Mitglied in der Bekennenden Kirche und gehörte dort zur vorläufigen Leitung. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli wurde er im Oktober 1944 von der Gestapo festgenommen und in der Haft gefoltert. Vor dem Volksgerichtshof wurde er wegen Hoch- und Landesverrats angeklagt und im April 1945 aus dem Gefängnis befreit. Nach dem Krieg war er als Unternehmer im Wiederaufbau tätig und leitete zahlreiche Organisationen und Verbände (unter anderem als Präsident der Industrie- und Handelskammer).

[154]   Die restlichen Wörter der letzten Zeile sind in der Fotokopie des Typoskripts nicht mehr lesbar.

[155]   Flak ist die Abkürzung für Flugabwehrkanone, die zur Bekämpfung gegnerischer Luftangriffe eingesetzt wurde.

[156]   Für den Galgen.

[157]   Lene Hobe, die Schwester von Emmi Bonhoeffer, die mit ihren drei Kindern im Stadtteil Berlin-Dahlem wohnt.

[158]   Susanne Dreß, die Schwägerin von Emmi Bonhoeffer, wohnte mit ihrem Mann und zwei Kindern ebenfalls in Dahlem.

[159]   Dies bezieht sich auf die systematischen Massenvergewaltigungen von Frauen und Mädchen, die vor allem beim Einmarsch der Roten Armee in der sowjetischen Besatzungszone in den ersten Wochen an der Tagesordnung waren.

[160]   Sowjetischer Mehrfach-Raketenwerfer, auch Garde-Werfer oder russisch ›Katjuscha‹ genannt.

[161]   Dieses Haus befand sich in der Marienburger Allee 42, in unmittelbarer Nachbarschaft des Hauses von Karl und Paula Bonhoeffer.

[162]   Am 25. April 1945 (zwei Tage zuvor) war er aus dem Gefängnis Lehrter Straße von der Roten Armee befreit worden – kurz nachdem sein Schwager Klaus Bonhoeffer und sein Schwiegervater Rüdiger Schleicher dort am 23. April 1945 erschossen worden sind.

[163]   Zum sogenannten ›Volkssturm‹ wurden ab Oktober 1944, als der Sieg der Alliierten bereits deutlich vorhersehbar war, alle waffenfähigen Männer im Alter zwischen 16 und 60 Jahren aufgerufen, sodass in der Endphase des Zweiten Weltkriegs auch Jugendliche und Greise der sinnlosen Gewalt zum Opfer fielen –insgesamt etwa 175 000 Männer.

[164]   Karl und Paula Bonhoeffer sowie ihr Mädchen Alma; Ursel, Dorothee und Christine Schleicher mit ihrem Mädchen Anna; Eberhard Bethge; Emmi Bonhoeffer; Justus Delbrück; Theodor Steltzer; der Pole Herr Meinemer und die fünf Mitglieder der Familie Diem.

[165]   Die Organisation Werwolf wurde im September 1944 von Heinrich Himmler als nationalsozialistische Untergrundbewegung ins Leben gerufen, um hinter den feindlichen Linien Sabotageakte zu verüben. Bei der Bevölkerung und in der Wehrmacht fand sie aber nur wenig Zulauf; nach Hitlers Tod wurde sie noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgelöst.

[166]   Theodor Steltzer (1885–1967) studierte zunächst Staatswissenschaft und schlug dann eine militärische Laufbahn ein; im Ersten Weltkrieg wurde er verwundet und schließlich zum Generalstabsoffizier befördert. In der Weimarer Republik wurde er Landrat, erhielt aber bereits 1933 seine Entlassung, da er sich offen gegen den Nationalsozialismus aussprach. Er wurde wegen Hochverrat angeklagt, jedoch in zweiter Instanz wieder freigesprochen. Danach war er als Sekretär der Evangelischen Michaelsbruderschaft tätig. Im Zweiten Weltkrieg wurde er in die Wehrmacht eingezogen und in den Generalstab nach Oslo versetzt, wo er bei der Massenflucht von Juden aus Norwegen und Dänemark in das neutrale Schweden behilflich war. Er nahm Kontakt zum Kreisauer Kreis auf und wurde nach dem Attentat vom 20. Juli verhaftet. Am 15. Januar 1945 wurde er vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt; die Vollstreckung des Urteils konnte hinausgezögert werden. Am 24. April 1945, einen Tag nach der Ermordung Klaus Bonhoeffers, wurde Steltzer aus der Haft im Gefängnis Lehrter Straße entlassen. Er wurde später Politiker der CDU und Ministerpräsident in Schleswig-Holstein.

[167]   Dieses Siegesfest fand tatsächlich erst am 9. Mai 1945 statt, wie Emmi Bonhoeffer weiter unten berichtigt.

[168]   Eugen Eggensperger (geboren 1901, Todesdatum unbekannt) war Ministerialrat und seit 1933 Mitglied in der NSDAP. Als Staatssekretär für die Umsiedlung war er u.a. im ›Staatskommissariat für die politische Säuberung‹ tätig. Nach dem Krieg wurde er in einem Entnazifizierungsverfahren als ›Mitläufer‹ eingestuft und lebte wieder in seiner schwäbischen Heimat.

[169]   Am 4. Mai 1945 wurde Dorothee Schleicher 17 Jahre alt.

[170]   Waldemar Delbrück war der ältere Bruder von Emmi und Justus, der am 4. Mai 1917 als Soldat im Ersten Weltkrieg in Mazedonien gefallen war.

[171]   Sommerfeld ist eine Kleinstadt in der Niederlausitz, nahe der Oder gelegen. Justus Delbrück hatte dort 1938 treuhändlerisch eine Tuchfabrik übernommen, um den Betrieb von Peter Leibholz (dem Bruder von Gerhard Leibholz) vor der Arisierung zu bewahren.

[172]   Emmi Bonhoeffer macht sich darüber Gedanken, ob die Rettungsversuche, die sie für ihren Mann unternahm, sich im Nachhinein betrachtet für ihn eher zum Schaden oder zum Nutzen ausgewirkt haben.

[173]   Harald Poelchau (1903–1972) stammte aus Potsdam und war evangelischer Pfarrer. 1931 promovierte er bei Paul Tillich in Frankfurt und wandte sich unter seinem Einfluss dem religiösen Sozialismus zu. Am 1. April 1933 trat er als erster vom NS-Regime eingesetzter Gefängnispfarrer seinen Dienst an und war bis 1945 in Berlin tätig – unter anderem in den Gefängnissen Tegel, Moabit und Plötzensee. In dieser Funktion hat er mehr als Tausend Menschen auf ihrem letzten Weg zur Hinrichtung begleitet, darunter zahlreiche Widerstandskämpfer des 20. Juli. Poelchau war von Anfang an gegen das Nazi-Regime eingestellt, trat jedoch nicht der Bekennenden Kirche bei, um seine seelsorgerliche Tätigkeit weiterhin ausüben zu können. Er hielt Kontakt zum Kreisauer Kreis und nahm an der ersten Tagung dieser Widerstandsgruppe teil. Heimlich vermittelte er Briefe und Nachrichten zwischen den Gefangenen und ihren Angehörigen und unterstütze die betroffenen Familien in vielfältiger Weise. Auch war er Juden bei der Flucht behilflich. Seine umfangreiche oppositionelle Tätigkeit blieb bis zum Kriegsende unentdeckt. Seit 1945 baute er in Stuttgart das Hilfswerk der Evangelischen Kirche auf und wurde dessen Generalsekretär, kehrte jedoch bereits 1946 wieder nach Berlin zurück, um sich in der sowjetischen Besatzungszone im Gefängniswesen der Zentralen Justizverwaltung zu engagieren. Außerdem nahm er einen Lehrauftrag für Kriminologie und Gefängniskunde an der Humboldt-Universität wahr. Da er seine Vorstellungen dabei nicht umsetzen konnte, ging er in den Westen und war von 1949 bis 1951 erneut Gefängnispfarrer in Berlin-Tegel. Seine Lebenserinnerungen hat er in mehreren Büchern festgehalten: Poelchau, Harald: Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. Aufgezeichnet von Alexander Graf Stenbock-Fermor, Berlin 31987 [Erstveröffentlichung 1949]; Poelchau, Harald/Maser, Werner: Der Mann, der tausend Tode starb, Rastatt 1986; Dies.: Pfarrer am Schafott der Nazis. Der authentische Bericht des Mannes, der über 1000 Opfer des Hitler-Regimes auf ihrem Gang zum Henker begleitete, Rastatt 1982. Vgl. auch Harpprecht, Klaus: Harald Poelchau. Ein Leben im Widerstand, Hamburg 2004.

[174]   Andreas Reymann (Lebensdaten unbekannt) war Mitarbeiter von Harald Poelchau und war in den Häusern II und IV von Berlin-Tegel für die Gefängnisseelsorge zuständig.

[175]   Vermutlich ist hier das bekannte Gedicht ›Der Mensch‹ von Matthias Claudius aus dem Jahr 1783 gemeint: » Empfangen und genähret/ vom Weibe wunderbar,/ kömmt er und sieht und höret/ und nimmt des Trugs nicht wahr;/ gelüstet und begehret/ und bringt sein Tränlein dar;/ verachtet und verehret;/ hat Freude und Gefahr;/ glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,/ hält nichts und alles wahr;/ erbauet und zerstöret/ und quält sich immerdar;/ schläft, wachet, wächst und zehret;/ trägt braun und graues Haar,/ und alles dieses währet,/ wenn’s hoch kommt, achtzig Jahr./ Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder,/ und er kömmt nimmer wieder.«

[176]   Augustin Rösch (1893–1961) stammte aus Schwandorf in Oberbayern und war als Jesuitenpater seit 1941 im Kreisauer Kreis aktiv. Nach dem 20. Juli 1944 tauchte er unter und wurde im Januar 1945 verhaftet. Im Zellengefängnis Lehrter Straße wurde er schwer misshandelt, bevor er am 25. Januar 1945 freigelassen worden ist. Danach wurde der Landesdirektor der Caritas in Bayern und Mitglied des Bayrischen Senats. – Justus Delbrück war während seiner Haft im Gefängnis Lehrter Straße (nach der Ermordung seines Cousins Ernst von Harnack) zum Katholizismus konvertiert. Schon lange hatte er mit dieser Glaubensrichtung sympathisiert – er wird von Emmi als »eine ausgesprochene Mönchsnatur« beschrieben.

[177]   D.h. sie fiel einer Vergewaltigung zum Opfer.

[178]   Georg Hobe (1886–1945) war der Ehemann von Emmi Bonhoeffers älterer Schwester Lene; seine drei Kinder Hans Christoph, Sibylle und Konrad waren damals 18, 17 und 12 Jahre alt.

[179]   Hier korrigiert Emmi Bonhoeffer ihre Darstellung, die sie oben unter dem Datum des 1. Mai 1945 vermerkt hatte. Das deutet darauf hin, dass sie ihren Text auf der Grundlage von chronologischen Notizen erstellte, die sie nach Art eines Tagebuchs bzw. Notizkalenders festgehalten hat und die als Grundlage für ihren späteren ausführlichen Erlebnisbericht dienten.

[180]   Andreas Hermes (1878–1964) war als Zentrums-Politiker Landwirtschafts- und Finanzminister in der Weimarer Republik gewesen. Aus Protest gegen das Nazi-Regime legte er seine öffentlichen Ämter noch vor dem Ermächtigungsgesetz nieder und wurde im März 1933 zu vier Monaten Haft verurteilt. 1936 ging er ins Exil nach Kolumbien; als er 1939 nach Deutschland zurückkehrte, um seine Familie nachzuholen, wurde er durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an der Ausreise gehindert. Er engagierte sich im Widerstand und hatte Kontakte sowohl zum Kölner Kreis als auch zum Kreisauer Kreis. Nach dem Attentat vom 20. Juli wurde er verhaftet und am 11. Januar 1945 zum Tod verurteilt; seine Frau konnte die Vollstreckung des Urteils jedoch mehrfach verzögern, bis Berlin befreit und Hermes aus der Haft entlassen wurde. Nach dem Krieg wurde Hermes Mitbegründer und Gründungsvorsitzender der CDU in der sowjetischen Besatzungszone. Wegen seiner Kritik an der entschädigungslosen Bodenreform wurde er von der Sowjetischen Militäradministration zum Rücktritt gezwungen und siedelte in den Westen über, wo er unter anderem als Präsident des Deutschen Bauernverbandes tätig war und den ›Godesberger Kreis‹ ins Leben rief.

[181]   Elisabeth von Harnack (1892–1976) war eine Tochter von Emmi Bonhoeffers Onkel Adolf von Harnack und die Schwester des ermordeten Widerstandskämpfers Ernst von Harnack.

[182]   Sie hatte den Widerstandskämpfer Ludwig Gehre als Untermieter beherbergt und Hans John im Gefängnis versorgt, bis sie selbst verhaftet worden ist (wie von Emmi Bonhoeffer weiter oben berichtet).

[183]   Toni Volkmann (Lebensdaten unbekannt) war eine besonders verehrte, humorvolle und unternehmungslustige ›wahlverwandte‹ Tante der Bonhoeffer-Kinder gewesen, als unehelich geborenes Kind vom Ehemann ihrer Mutter adoptiert. Sie lebte mit ihrer Freundin Fräulein Böse in einer Dachwohnung in Berlin und war kinderlos, hatte jedoch ein großes Vermögen geerbt, von dem sie einige Neffen und Nichten hatte studieren lassen. Sie war ausgebildete Klavier- und Gesangslehrerin. Die Bonhoeffer-Töchter begleitete sie in ihrer Jugend als Anstandsdame und hütete das Haus, wenn die Eltern verreist waren (vgl. ADL, S. 63 f.)

[184]   Das historische Rittergut des ehemaligen Dorfes Dahlem war 1841 an den preußischen Staat verkauft worden und seitdem Staatsdomäne. Ab 1901 wurden die landwirtschaftlichen Flächen in Bauland umgewandelt, und zahlreiche Villengrundstücke wurden an Privatpersonen verkauft. Nur ein kleiner Teil der Fläche wurde als Stadtgut (›Domäne Dahlem‹) weiterhin landwirtschaftlich genutzt.

[185]   Der Sohn von Lene und Georg Hobe.

[186]   Die Beerdigung fand also am 13. Mai 1945 statt; an diesem Tag war Emmi Bonhoeffers 40. Geburtstag.

[187]   Walter Dreß, der Ehemann von Emmis Schwägerin Susanne Dreß, war evangelischer Pfarrer in Berlin-Dahlem und Vertreter des im Konzentrationslager inhaftierten Widerstandskämpfers Martin Niemöller.

[188]   Albrecht Haushofer (1903–1945) war Geograph, Publizist und Widerstandskämpfer. Geboren und aufgewachsen in München, studierte er an der dortigen Universität Geographie und promovierte 1924. Von 1924–1940 war er Generalsekretär der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin und Herausgeber ihrer Zeitschrift. In Berlin freundete er sich u.a. mit Carl Friedrich von Weizsäcker an und beschäftigte sich zunehmend mit Politik. Durch die Vermittlung seines Vaters konnte er 1933 eine Dozentur an der Hochschule für Politik in Berlin übernehmen; außerdem fungierte er als Berliner Stellvertreter seines Vaters im Vorsitz des ›Volksdeutschen Rates‹, einem beratenden Gremium, das Rudolf Heß unterstellt war. Dadurch kam er in Kontakt mit Joachim von Ribbentrop, der zu dieser Zeit persönlicher Berater von Adolf Hitler in außenpolitischen Fragen war. Als freier Mitarbeiter Ribbentrops unternahm Haushofer in geheimer Mission zahlreiche Auslandsreisen. Dabei war er stets darum bemüht, einen Angriffskrieg Deutschlands abzuwenden; seine regimekritischen Schriften publizierte er pseudonym. Ab 1941 knüpfte er Beziehungen zu Widerstandskreisen und beteiligte sich an verschwörerischen Aktivitäten. In diesem Jahr wurde er für sechs Wochen im Gestapo-Gefängnis Prinz-Albrecht-Straße inhaftiert, jedoch wieder freigelassen und unter Beobachtung gestellt. Das Attentat vom 20. Juli unterstützte er nicht, weil er der Ansicht war, dass es dafür nun zu spät sei und die Verantwortung Hitlers für die Niederlage im Zweiten Weltkrieg nicht verschleiert werden solle. Nach dem gescheiterten Attentat tauchte er in der Nähe des elterlichen Anwesens in Bayern unter, wurde jedoch entdeckt und in das Zellengefängnis Lehrter Straße in Berlin verbracht. Am 23. April wurde er zusammen mit anderen Mitgefangenen erschossen; sein Bruder Heinz Haushofer, der im gleichen Gefängnis inhaftiert war und entlassen wurde, hat seinen Leichnam später identifiziert.

[189]   Hans-Viktor von Salviati; s.o.

[190]   Ernst Munzinger (1887–1945) war Offizier der Deutschen Wehrmacht und stand mit dem militärischen Widerstand in Verbindung, ohne dass Genaueres über seine Aktivitäten bekannt ist. Nach dem Scheitern des 20. Juli wurde er als Mitwisser der Attentatspläne in Salzburg festgenommen und am 23. April 1945 zusammen mit anderen Gefangenen aus dem Gefängnis Lehrter Straße erschossen.

[191]   Friedrich Leon (Lebensdaten unbekannt).

[192]   Erst am 31. Mai 1945 erhielten die Angehörigen Gewissheit über den Tod von Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher, da Herbert Kosney (ein Mitgefangener, der das Erschießungskommando überlebt hatte) ihnen Nachricht gab und Eberhard Bethge das Massengrab gefunden und die Toten identifiziert hatte (vgl. Bethge: In Zitz gab es keine Juden, S. 210).

[193]   Ihre Tochter, die damals 18 Jahre alt und somit besonders gefährdet durch Vergewaltigung russischer Soldaten war.

[194]   Renate Schleicher, die älteste Tochter von Ursula und Rüdiger Schleicher, war damals 19 Jahre alt, seit zwei Jahren mit Eberhard Bethge verheiratet und seit einem Jahr Mutter des kleinen Dietrich. Seit der Zeit kurz Dietrichs Geburt hatte sie im Haus ihrer Schwägerin Christine Bonhoeffer in Sacrow bei Potsdam gewohnt, um vor den schweren Luftangriffen auf Berlin etwas geschützt zu sein; nun war sie von dort zu ihrem Ehemann nach Charlottenburg zurückgekehrt.

[195]   Hans von Dohnanyi wurde am 9. April 1945 (am gleichen Tag wie Dietrich Bonhoeffer) im Konzentrationslager Sachsenhausen erhängt; wegen seiner starken Lähmungen musste er auf einer Bahre zum Galgen getragen werden. Über seinen Tod und dessen nähere Umstände blieb die Familie besonders lange im Unklaren – Ende 1945 ließ Christine von Dohnanyi ihren Mann für tot erklären und veröffentlichte eine Todesanzeige: »Wir müssen es nun als eine Gewißheit hinnehmen, daß mein lieber Mann, unser guter Vater Hans von Dohnanyi im April 1945 nach zweijähriger Haft im Konzentrationslager Sachsenhausen den Tod gefunden hat. Er gab sein Leben im Glauben an Gott und das Recht in großer Liebe zu Deutschland. […] Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben, von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen sollen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach. (Offenb. Joh. V. 13)«. In: Smid: Hans von Dohnanyi, Christine Bonhoeffer, S. 473.

[196]   Abkürzung unbekannt.

[197]   Hieraus lässt sich ein terminus ante quem für die Abfassung dieses Berichtes ableiten, denn Justus Delbrück ist am 23. Oktober 1945 im russischen ›Speziallager‹ Jamlitz bei Lieberose an Diphtherie infolge von Unterernährung verstorben. Als Mitglied des Widerstands hatte er (ebenso wie Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi) zur Tarnung bei der militärischen Abwehr gearbeitet und wurde deshalb nach seiner Befreiung aus dem Gefängnis am 25. April 1945 bereits am 20. Mai 1945 von den sowjetischen Besatzern erneut verhaftet.

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