Die Zeit drängt

Warum mehr Gemeinsamkeit in Europa allen nützt
EU-Luftballons
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Wie steht es aktuell um die Europäische Union, und was sind die dringendsten Herausforderungen europäischer Politik? Die EU muss endlich gemeinsam politisch laufen lernen, meint die Politikwissenschaftlerin Anna-Lena Kirch, die im Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen das Projekt „Ideenwerkstatt Deutsche Außenpolitik“ koordiniert.

Nach beinahe zwei Jahren Corona-Pandemie mit weitreichenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen steht für Europa einiges auf dem Spiel. Im politischen Diskurs wird immer wieder der mal mehr und mal weniger direkte Vergleich mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs bemüht, im Versuch, Worte zu finden für die Tragweite der Krise und die scheinbar unmögliche Aufgabe des Wiederaufbaus.

Doch es geht in den nächsten Monaten und Jahren nicht nur darum, die Pandemie zu überwinden, die Wirtschaft zu stärken und Existenzen zu sichern. Gleichzeitig steht die EU auch vor weiteren drängenden Aufgaben: schnellstmöglich das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen, die Digitalisierung zu beschleunigen, die transatlantische Agenda wieder mit Leben zu füllen, den Multilateralismus und die liberale internationale Ordnung zu verteidigen und im Systemwettbewerb mit China zu bestehen. Die Liste ließe sich seitenlang weiterführen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, muss die EU handlungsfähiger werden. Das erfordert neben einer geteilten Problemanalyse und den nötigen Ressourcen politischen Willen und die gemeinsame Überzeugung, dass die EU Teil der Lösung ist und nicht Teil des Problems, dass sie Probleme löst und Chancen generiert.

Eurobarometer-Umfragen von April 2021 zeigen ein geteiltes Bild der aktuellen Stimmungslage. Immerhin 46 Prozent der EU-Befragten gaben an, der EU zu vertrauen, mehr als den nationalen Regierungen. Insgesamt befördert die Krise jedoch Fragmentierung und Spaltungstendenzen innerhalb der EU. Der europäische Zusammenhalt scheint heute so fragil wie lange nicht mehr. In vielen EU-Mitgliedstaaten führt die eigene wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Notlage, ausgelöst oder verschärft durch die Covid-19-Krise, zu verstärkten Schuldzuweisungen in Richtung Brüssel.

Lautstark war beispielsweise die Kritik aus Deutschland, die EU habe beim Impfstoffkauf versagt. Die Europäische Kommission habe die Mitgliedstaaten gegenüber den USA und Großbritannien in ihren Impfkampagnen ausgebremst. Nicht erwähnt wurde dabei allzu häufig, dass ärmere Länder in Süd-Ost-Europa ohne EU-einheitliche Verhandlungen erst deutlich später überhaupt Impfstoffe erhalten hatten, auf Grund ihrer schwächeren Verhandlungsposition.

In ganz Europa wird zudem mit Spannung beobachtet, ob es Brüssel gelingen wird, den europäischen Wiederaufbau schnell und nachhaltig voranzutreiben und dabei sparsam mit den Beiträgen der EU-Mitgliedstaaten umzugehen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen feierte die Verabschiedung des Wiederaufbau-Fonds „NextGenerationEU“ in Höhe von 750 Milliarden Euro zu Recht als großen politischen Erfolg und potenziellen Durchbruch im Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie. Der Widerstand aus der EU heraus, insbesondere von Seiten der „Sparsamen Vier“ – einer Allianz der Niederlande, Finnland, Österreich und Dänemark –, war vehement. Zu groß war die Angst, man schaffe mit der gemeinsamen Aufnahme europäischer Anleihen am Kapitalmarkt einen gefährlichen Präzedenzfall hin zu einer ständigen Schuldenunion durch die Hintertür.

Ringen um Konsequenz

In dieser Diskussion vorgebrachte Argumente – Eigenverantwortung und Konditionalität versus Solidarität – erinnern stark an das Nord-Süd-Gefälle, das bereits während der Finanz- und Wirtschaftskrise Ende der 2000er-Jahre deutlich sichtbar wurde. Entsprechend droht der Streit ums Geld auch jetzt den innereuropäischen Zusammenhalt zu schwächen. Zusätzlich befeuert wird der Diskurs durch das Ringen um die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und den konsequenten Umgang mit Verstößen gegen ebendiese Prinzipien durch Polen und Ungarn.

Trotz aller Risiken und Unwägbarkeiten bietet die gegenwärtige Situation jedoch auch eine große Chance. Gelingt es der EU, ihr Versprechen eines transparenten und effizienten Wiederaufbaus zumindest in Teilen einzulösen und das Momentum zu nutzen, um die eigenen ehrgeizigen Klimaziele voranzutreiben, Digitalisierung zu fördern und dabei gemeinsame europäische Mindeststandards wie Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, stärkt sie zusätzlich ihr zuweilen angekratztes Image als zukunftsorientierte Problemlöserin.

Zusätzlich gilt: Die immense Aufgabe des Wiederaufbaus kann die EU nur dann nachhaltig meistern, wenn sie ihren Blick nach innen immer auch um den Blick nach außen ergänzt – auf die eigene Rolle und Verantwortung in der Welt. Diese Maxime ist keine rein normative, moralisch begründete. In einer vernetzten, globalisierten Welt liegt das bewusste Zusammendenken von Innen- und Außenpolitik in Europas ureigenem Interesse. Eine Strategie des sich Zurückziehens und Abkoppelns ist schon lange keine Option mehr. Die Verbreitungslogik und Folgen der Pandemie zeigen das sehr anschaulich. Anders als bei der Finanz- und Staatsschuldenkrise, die 2009/2010 vor allem Südeuropa traf, ist Covid-19 nicht nur eine Krise gesamteuropäischer, sondern globaler Tragweite. Lieferengpässe in China wirken sich unmittelbar auf die Handlungsfähigkeit europäischer Unternehmen aus; daher der Ruf nach mehr europäischer Souveränität und diversifizierten Lieferketten. Neue Virus-Varianten, die erstmals im globalen Süden entdeckt werden, machen nicht an Europas Grenzen halt, sondern beeinflussen unmittelbar auch vor unserer eigenen Haustür das Infektionsgeschehen.

Entsprechend kann die EU bei dem Versuch, die Corona-Pandemie zu überwinden, nur erfolgreich sein, wenn sie nicht nur die eigenen Mitgliedstaaten in den Blick nimmt, sondern mindestens auch ihre erweiterte Nachbarschaft. Auf dem Papier haben die zentralen Entscheider in Brüssel das längst erkannt. Es mangelt jedoch an der konsequenten Umsetzung. Während in der EU Ende August in großen Teilen siebzig Prozent aller Erwachsenen vollständig geimpft waren, haben viele Staaten in der erweiterten EU-Nachbarschaft und ärmere Staaten im globalen Süden kaum mit dem Impfen begonnen.

Die Europäische Kommission hat versprochen, die EU werde sich im Rahmen der globalen Impfallianz COVAX solidarisch mit den ärmeren Staaten der Welt zeigen und eine wesentliche Rolle bei der globalen Bereitstellung von Impfstoffen leisten. An diesem Versprechen wird sich die EU messen lassen müssen. Bislang bleiben EU-Mitgliedstaaten bei der Auslieferung von Impfdosen deutlich hinter ihren Zusagen zurück. Die EU macht zudem keine gute Figur, was die eigene Kommunikationsstrategie angeht. Während China und Russland bereits seit Monaten eine aktive Impfstoffdiplomatie betreiben, agiert und kommuniziert die EU immer noch zu sehr nach innen gekehrt. So droht im nicht-europäischen Ausland der Eindruck zu entstehen, man könne sich eher auf Russland oder China verlassen als auf die reiche EU. Ein Kreisen um sich selbst ist auch im Dialog mit der Bevölkerung deutlich sichtbar. Nationale Debatten um nationale Impfstrategien oder deren Abwesenheit dominieren den politischen Diskurs. Die Frage, wie man etwa die Staaten Afrikas best- und schnellstmöglich mit Impfstoffen versorgen kann, um deren politische, soziale und wirtschaftliche Destabilisierung zu verhindern und gleichzeitig die immer neue Entstehung potenziell noch infektiöserer Corona-Viren zu unterbinden, kommt zu kurz.

So bringt das Beispiel der Pandemie sehr anschaulich eine zentrale Erkenntnis zu Tage: Adäquate europäische Antworten auf europäische und globale Krisen müssen unterschiedliche Herausforderungen gleichzeitig adressieren. Im Fall der Pandemie heißt das: sichere und erschwingliche Impfstoffe zu produzieren und fair innerhalb der EU zu verteilen; Impfquoten in die Höhe zu treiben; ärmere Länder zu unterstützen; für die nächste Gesundheitskrise besser vorbereitet zu sein und der Bevölkerung (mehr) politische Komplexität zuzumuten.

Parallele Krisen meistern

Komplexität und wechselseitige Abhängigkeiten sind charakteristisch für die Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist. Die Zeit einfacher Antworten, isolierter Stellschrauben, ist lange vorbei. Die Corona-Krise ist – wie die lange Liste zu Anfang zeigt – bei weitem nicht die einzige Krise, mit der die EU umgehen muss. Die Klimakrise, der Systemwettbewerb zwischen den USA und China, die stetige Zunahme von Desinformation und hybriden Bedrohungen – um nur einige Beispiele zu nennen – sind zu drängend, um hinten angestellt zu werden, bis die Pandemie beendet und wirtschaftlich überwunden ist. Europa muss zukünftig noch besser darin werden, mit unterschiedlichen, parallelen Krisen fertig zu werden. Ein Ansatz, der versucht, eine Krise nach der anderen abzuarbeiten, ist nicht zeitgemäß. Die Frage lautet also, was jetzt? Wie kann es weitergehen?

Für die nächsten Jahre muss die Devise lauten: vernetzt denken, gemeinsam handeln, um gesellschaftlichen Rückhalt werben. Dazu drei wichtige Punkte:

Erstens: Vernetzt denken. Um auf unterschiedliche Herausforderungen und Chancen in ihrer Gesamtheit zu reagieren, sollte die EU ihren Kurs der vernetzten Planung fortsetzen. Die beginnt bereits bei einer politikfeldübergreifenden strategischen Vorausschau, um neue Herausforderungen und Chancen frühzeitig zu erkennen. Ursula von der Leyen hat einen der Kommissare in ihrem Kabinett bereits mit ebendieser Aufgabe betreut. Gleiche Tendenzen sind auch auf Ebene vieler Mitgliedstaaten – darunter auch Deutschland – zu erkennen. Hier sind insbesondere die nordischen Staaten führend. Nur wenn eine Strategie die bestehenden wechselseitigen Abhängigkeiten berücksichtigt und versucht, Widersprüche und Zielkonflikte aufzulösen, besteht überhaupt erst die Chance, gute politische Resultate hervorzubringen.

Zweitens: Gemeinsam handeln. Eine gute Strategie wiederum, die politische Ziele und Instrumente ausbuchstabiert, macht noch lange keine gute Politik. Das gilt insbesondere für die politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich so heterogene EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten, die bei außen- und sicherheitspolitischen Fragen nach wie vor einstimmig entscheiden. Diese Notwendigkeit erschwert die außen- und sicherheitspolitische Koordinierung und Entscheidungsfindung. Schnelle gesamteuropäische Reaktionen in Krisensituation gelingen häufig nicht, wie jüngst im Falle Afghanistans deutlich wurde. Überrascht von der schnellen Eroberung des Landes durch die Taliban, waren die EU-Staaten auf die USA angewiesen, um die eigenen Staatsbürger zu evakuieren. Das Prinzip der Einstimmigkeit wird auch als Gegenargument bemüht, wenn es um die Frage von EU-Vertragsänderungen geht, aus Angst vor nationalen Veto-Entscheidungen. Die EU wird bis auf Weiteres schwerfälliger reagieren als Nationalstaaten. Umso wichtiger ist das stetige Ringen um politische Kompromisse und das Werben um die nötigen Ressourcen, die erforderlich sind, um Worten Taten folgen zu lassen. Dazu gehören neben der nötigen finanziellen Ausstattung auch Personal, Infrastruktur und technische Fähigkeiten.

Drittens: Um gesellschaftlichen Rückhalt werben. Zu guter Letzt ist das Werben um den Rückhalt der Bevölkerung eine zunehmend drängende Aufgabe. Die von dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron initiierte Konferenz zur Zukunft Europas ist daher das richtige Signal zur richtigen Zeit. Seit Mai 2021 können Bürger und Bürgerinnen aus ganz Europa auf einer Online-Plattform und in nationalen Bürgerforen über die Zukunft der EU und insbesondere Themen wie Migration, Gesundheit und gemeinsame Werte diskutieren. Die entwickelten Ideen werden ab Oktober von einer Plenarversammlung, an der sowohl Bürger:innen als auch Vertreter:innen aus den EU-Institutionen teilnehmen, diskutiert und sollen im Frühjahr 2022 in gemeinsame Schlussfolgerungen münden. Ob die Konferenz tatsächlich zu echter Bürgerbeteiligung führen kann und ihre Schlussfolgerungen Einfluss auf EU-Reformen haben werden, bleibt jedoch fraglich. In jedem Fall gilt auch hier: Mit einer einmaligen Initiative ist es nicht getan.

Bei all diesen To-Dos wird Deutschland als größter, ressourcenreicher EU-Mitgliedstaat eine besondere Rolle spielen müssen. Eine handlungsfähigere EU ist im Interesse Deutschlands. Das zeigten auch im Bundestagswahlkampf die wiederholten Bekenntnisse der politischen Parteien zur EU als dem wichtigsten außenpolitischen Handlungsrahmen Berlins. Es wird daher an der neuen Bundesregierung sein, diese Bekenntnisse mit einer konkreten politischen Agenda und Handlungen zu unterfüttern. Die Zeit drängt. 

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Foto: DGAP

Anna-Lena Kirch

Anna-Lena Kirch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Alfred-Oppenheim Zentrum für europäische Zukunftsfragen und koordiniert das Projekt „Ideenwerkstatt Deutsche Außenpolitik“.


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