„Aus Erinnerung für die Zukunft lernen“

Eine engagierte Pfarrerin blickt auf reiche Dienstjahrzehnte im Gemeindedienst zurück
Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup vor einem Bildnis des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer.
Foto: Peter Braczko
Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup vor einem Bildnis des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer.

Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup kann auf ein bewegtes und vielschichtiges Pfarrerinnenleben blicken. Die längste Zeit war die 2017 pensionierte, heute 69-jährige Pfarrerin in Gladbeck in Nordrhein-Westfalen tätig, einer Stadt, die überregional immer wieder mit trauriger Berühmtheit zu kämpfen hat. Fünfter und letzter Teil der zeitzeichen-Pfarrer:innen-Serie.

"Aus Gladbeck kommen Sie? War da nicht einmal ein Geiseldrama?“ Der, die Gesprächspartner:in zögert. „Ja, genau, vor vielen Jahren“, ist die Antwort – „schon sehr lange her.“ (1988)

So beginnen die meisten Gespräche über die Stadt, in der ich fast 30 Jahre Pfarrerin war: von 1989 bis 2017. Die Erinnerung an dieses schreckliche und zugleich medienwirksame Ereignis hat die Stadt nie verloren, obgleich es auch noch so vieles anderes zu berichten gäbe: über den Bergbau, die Schließung der Zechen, die die Stadt geprägt und einen Strukturwandel eingeläutet haben, der bis heute anhält.

Viele, die zum ersten Mal in die Stadt kommen, sind erstaunt über die zahlreichen großen Grünflächen und über die Vielfalt der Nationalitäten, die hier zusammen­leben, über die katholische Kirche, in deren Schatten die Evangelisch-lutherische Kirche ihr Profil gewinnt. Sie ist jung: erst 110 Jahre alt und im Rahmen des Zuzuges von vielen Bergleuten aus dem Osten Anfang des vergangenen Jahrhunderts entstanden. Nicht zu vergessen ist, dass Solidarität, füreinander Einstehen und füreinander Dasein große Worte sind, die in den Gesprächen immer wieder auftauchen, aber es sind nicht nur Worte. Sie wollen gelebt sein und werden beurteilt in der Praxis. Damit verbunden ist die Würdigung der ehrenamtlichen Arbeit. Sie wird von vielen selbstverständlich und ohne viel Aufhebens geleistet. Naja, und zum Schluss vielleicht die große Offenheit, die jedem, der „nicht von hier“ ist, entgegengebracht wird. Eigentlich sollten es fünf Jahre sein, die wir in dieser Region verbringen wollten. Gerne wäre ich zurückgegangen zu unseren Wurzeln nach Ostwestfalen. Aber es kam eben alles anders. Dieser neue Abschnitt im Leben bedurfte vieler Entscheidungen: Wo werden wir wohnen? Bleiben wir in Gladbeck oder ziehen wir jetzt nach Ostwestfalen? Wie gestalten wir den Alltag nach einem langen und erfüllten Berufsleben? Wird uns noch Gesundheit geschenkt, und was können wir für sie tun? Werden wir noch gebraucht? Wird die „Kirche“ uns noch brauchen? Wo werden wir unsere spirituelle Heimat finden? Wie können wir Freundschaften auch in der Ferne pflegen und unseren Hobbys nachgehen? Ich denke, dass dies Fragen sind, die sich jeder oder jede stellt, der/die aus dem aktiven Berufsleben ausscheidet.

Für uns haben sich viele Fragen beantwortet durch die Frage unserer älteren Tochter und die Zustimmung der anderen Kinder: Wollt ihr nicht mit uns gemeinsam alt werden? Wollt ihr nicht mit uns gemeinsam leben? Ich brauchte eine Nacht, um mich endgültig von meinem alten Wunsch zu verabschieden, um freudig und mit vollem Herzen diese Frage zu bejahen. So sind wir auch nach der Pensionierung im Ruhrgebiet geblieben. Was für ein Geschenk, und es ist bis heute noch ein Geschenk: das Leben mit den Enkelkindern, die täglich um uns sind, die Gespräche mit dem Schwiegersohn, der in der Wirtschaft arbeitet und weit von den Fragen, die uns beschäftigen, entfernt ist, ganz zu schweigen von kirchlichen Fragen, und das Leben in einem offenen Haus für die Kinder, Freunde und Großfamilie; der große Garten, der noch bepflanzt und gestaltet werden will; das Interesse an Kunst und Musik.

In meinem jetzigen Alltag nehmen im Moment drei Themen, ja drei Fragen, die mich schon in der Fülle des Berufes beschäftigt haben, eine große Zeitspanne ein. Wir entdeckten in Gladbeck, dass es keine oder kaum jüdische Mitbürger/innen gibt: jetzt zehn an der Zahl. Was war passiert? Wo waren sie? Diese Zehn treten wenig auf in der Öffentlichkeit. Wir entdeckten, dass das jüdische Leben in der Öffentlichkeit verschwunden ist.

Bis heute empfinde ich die Ausrottung der Juden durch die Faschisten als eine große Wunde in Bezug auf die Menschen, die deportiert und vernichtet wurden, aber auch in Bezug auf die Leere für den christlichen Glauben, der ohne den jüdischen nicht zu verstehen und nicht vollständig ist. Es gab ein lebendiges jüdisches Leben in dem Betsaal in dem seit 2018 nach einer jüdischen Familie benannten Haus: Ida und Max Kaufmann. Ihre Enkelin in Holland, zu der ein enger Austausch besteht, nennt sie liebevoll Jitte und Meschulam. Sie war von Anfang an dabei, als ich mit vielen anderen, besonders mit den Schulen, also Gymnasien, Real-, Haupt- und Förderschulen, die Erinnerungsarbeit 2008 begann.

Das Projekt von Gunther Demnig, der seit 1992 in Europa in über 22 Ländern über 75 000 Stolpersteine zur Erinnerung der Deportierten und Ermordeten gelegt hat, hat uns überzeugt. Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist, sagt der Talmud. Und so haben wir recherchiert mit den Schülern:innen und Lehrern:innen in dem Archiv der Stadt, in den Meldeunterlagen, Wiedergutmachungsakten, Personenstandsunterlagen, Büchern, in dem Landesarchiv, in dem Bundesarchiv: Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Deutschland 1933 – 1945, bei dem Internationalen Suchdienst, Yad Vashem.

Fünf Stolpersteinverlegungen (2009/2010/2012/2015/2019) unter Beteiligung einer großen kirchlichen, politischen, bürgerschaftlichen Öffentlichkeit folgten. 118 Steine erinnern im Moment an Menschen, ein großer Teil jüdischen Glaubens, die in dieser Stadt gelebt haben, fliehen mussten, vernichtet wurden. Fünf Stolpersteinbücher mit ihren Biografien, Dokumenten, Bildern zeugen von einem lebendigen jüdischen Leben, das in wenigen Jahren vernichtet wurde. Bei einem Drittel der Namen, für die ein Stein gelegt wurde, entstand ein Kontakt zu den Kindern und Enkelkindern, die zu Besuch kamen. Das ist und war ein besonderer Austausch – ein Austausch, der nach den schmerzhaften Wurzeln fragt und eine Brücke schafft. Vieles haben wir gemeinsam gelernt. Im Moment schreibe ich in verkürzter Form die Biografien neu für ein Projekt des Westdeutschen Rundfunks. Dieses Projekt will in Zusammenarbeit mit der Stiftung Stolpersteine alle 13 000 Stolpersteinen in den 250 Kommunen in Nordrhein-Westfalen erfassen und eine innovative App, die moderne Formen des Erinnerns und Erzählens anbietet, gestalten. Ein wunderbares Projekt.

Furchtbarer Balkankrieg

Aus der Erinnerung lernen für die Zukunft – für mich, für uns wurde dieser Satz, der viele Reden zum Gedenken an den Nationalsozialismus durchzieht, im Jahre 1992 sehr konkret, als mitten in Europa ein furchtbarer Krieg auf dem Balkan ausbrach. Hunderte von Geflüchteten aus Bosnien, aus dem Kosovo, Mazedonien wurden der Stadt Gladbeck zugewiesen, und es entstand eine Arbeit mit vielen ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen, die bis heute anhält. Die Hauptfragen, die Geflüchtete immer wieder stellen, sind: Kann ich bleiben? Kann ich hier Heimat finden? Was passiert, wenn das Bundesamt für Flüchtlinge einen negativen Bescheid schreibt oder der Einzelrichter beim Verwaltungsgericht negativ urteilt? Wo bleibe ich, wenn die Abschiebung ansteht? Wo bleiben die Kinder, die in der Schule einen Platz mit ihren Freunden und Freundinnen gefunden haben? Was passiert mit mir, wenn ich am Flughafen meines Heimatlandes ankomme? Wohin dann? „Politisch Verfolgte genießen Asyl.“ Dieser Grundgesetzartikel 16a ist aus den bitteren Erfahrungen des Faschismus – hart umrungen – entstanden und oft verändert und eingeengt worden.

Und die Bibel? Sie liest sich in vielen Passagen als ein Buch der Flucht, in der Menschen aufgenommen, beschützt und behütet worden sind. Seit 1992 geben wir den oben gestellten Fragen unser Ohr und unsere Stimme. Geflüchtete berichten uns von ihren Erfahrungen, die sie gezwungen haben zu fliehen, als letzter Ausweg: Frauen von ihrem Verkauf an irgendwelche Männer, von ihren Vergewaltigungen besonders auf ihrer Flucht nach Europa, Jugendliche von ihrer Rekrutierung für die Taliban, von ihren entsetzlichen Erfahrungen als bacha bazi, das heißt als Kinderprostituierte, von den Foltergefängnissen, Männer und Frauen von ihrer Konversion zum Christentum, die auf dem Hintergrund ihrer Erfahrung im Islam unausweichlich war …

Ein großes Vertrauen wird uns entgegengebracht, das uns eine andere Sicht eröffnet, als wie sie sich bei den Behörden darstellt. Nicht immer können wir das Blatt wenden, aber oft durch medizinische und psychologische Gutachten, durch gute Rechtsanwälte, durch eine kompetente, geschulte Beratung und durch eine konsequente Begleitung lindern und beeinflussen. Es ist, als ob ein Stück Himmel auf die Erde fällt, wenn einem Geflüchteten ein Bleiberecht zugesprochen wird. Dann folgen ein opulentes Mahl und eine große Feier. Wir singen und musizieren zusammen: ein Internationaler Freundschafts­chor aus Menschen aus dem Iran, Irak, Libanon, Afghanistan, Guinea, Kosovo, Nigeria, Albanien, Syrien und Deutschland singen und musizieren Lieder aus den jeweiligen Ländern: „Lieder der Windrose“.

Das gemeinsame Singen – wenn es wieder möglich ist – verbindet und eröffnet einen Raum des Verstehens über Grenzen hinweg. Diese Arbeit ist eine sehr lohnende und erfüllende, aber auch sehr anstrengende, weil die politischen Rahmenbedingungen auf Abschreckung setzen und Menschen dieses Land verlassen sollen. So gilt es, immer wieder politisch sich einzumischen und aufzustehen. Seit Jahren mahnt die Evangelische Kirche auf den verschiedenen Ebenen eine menschenfreundliche Flüchtlingspolitik an und bringt sie in das politische Gespräch. Dies kann nicht nachhaltig und scharf genug sein.

Zum Positiven geändert

Am Anfang meiner Berufsjahre stand ein Dienst im Krankenhaus – neun Jahre habe ich seelsorgerlich gearbeitet im Evangelischen Krankenhaus Gelsenkirchen. Damals eine große Herausforderung. Aus dieser Aufgabe ist der wache Blick für ein menschenwürdiges Sterben möglichst zu Hause und ohne Schmerzen geblieben. Seitdem habe ich bis heute bei verschiedenen Trägern als Dozentin für Hospizarbeit gearbeitet und Ehrenamtliche für ihren Dienst in der Hospizarbeit geschult oder Hospizarbeit aufgebaut und supervisiert. Vieles hat sich in diesem Bereich durch die Arbeit der vielen Hospizhelfer:innen und der Hospizbewegung zum Positiven geändert. Solange die Kräfte reichen, möchte ich weiter einen Beitrag für ein gutes, begleitetes, behütetes und menschenfreundliches Sterben leisten.

Was fehlt im Ruhestand? Was fehlt nicht im Ruhestand? Angefangen bei der zweiten Frage: Ich vermisse nicht die vielen Sitzungen und die vielen Gremien, die zu ihrer Zeit notwendig und wichtig waren. Ich vermisse die regelmäßige theologische Auseinandersetzung und den Gottesdienst, den ich gerne gefeiert habe, besonders den Gottesdienst mit den Kindern. Sie können Fragen voller Vertrauen so klar stellen: Warum heilt Jesus den blinden Bartimäus, und kann er nicht die Augen von Greta in unserem Kindergarten heilen? Warum kann der Gelähmte laufen und warum nicht der kleine Benjamin? Warum steht Jesus auf, wenn er tot war? Wie lebendig und voller Überraschungen waren diese Gottesdienste!

Wenn ich doch eine Antwort auf die Fragen nach einem unversehrten und heilen Leben hätte! Und doch leuchtet es jetzt schon, gebrochen, in so vielen Begegnungen auf. Da berührt sich für mich immer wieder der Himmel mit der Erde. 

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