Zweite Haut

Dresscodes im Protestantismus

Der Band FeinStoff konzentriert sich auf die „vestimentäre Praxis in den Kirchen der Reformation“. Das heißt auf die Bekleidungspraxis evangelischer Geistlichkeit, ob nun im Kirchenraum bei der Feier eines Gottesdienstes oder einer Liturgie, im Vollzug von Kasualien oder aber jenseits von Talar und Albe im privaten oder (halb-)offiziellen Rahmen der Berufsausübung. Wer also glaubt, dass allen „Anmutungen und Logiken religiöser Textilien“ Rechnung getragen wird, wie es in der Unterzeile des Buchcovers steht, der irrt. Trotz des anderslautenden Einbandes kommt die „Fülle textiler Artefakte“ des Protestantismus nicht gänzlich zur Sprache. Hier stechen insbesondere die beiden ökumenischen Beiträge von Kirsten Jäger für die reformierte Kirche der Schweiz und von Jörg Müller für die römisch-katholische Kirche heraus. Wo hier Talar keine Pflicht ist, ist dort „Form eben nicht sekundär, sondern wesentlich“: „Ästhetische Schönheit (…) ist gerade für die Liturgie nicht überflüssig.“ Aus diesen Polen heraus verschiebt sich die Bedeutung der schnell als Adiaphoron abgetanen Frage nach der eigenen Bekleidungspraxis. Gerade weil in „kirchlichen Kreisen (…) Eleganz eher klein geschrieben“ wird und Pfarrpersonen das „Schlusslicht im gehobenen Bürgertum“ bilden, lohnt sich ein genaueres Hinsehen – in den Schrank und in den Spiegel.

Vordringlich liegt hier der Gewinn der Lektüre, da der Rezipient automatisch auch die Frage nach dem eigenen Amtsverständnis und der Genese der eigenen vestimentären Praxis stellt, also dem, was mittels Kleidung ausgedrückt werden soll. Die Logik religiöser Textilien erschließt sich als „materielle Religionskultur“ und als „religiöse soziale Praktik“. Kleidung und Sich-Kleiden als Doing Religion sind wesensgemäß zeichenhaft und damit in einen Kommunikationszusammenhang, ein Narrativ, eingebunden. „So lassen sich Mode und Religion in weiter religionstheoretischer Sicht als Organisation von Transzendenzzueignung begreifen.“ Kurz: Da man nicht nicht kommunizieren kann, hat jede Art der Be- und Verkleidung eine hermeneutische Dimension, die es zu bedenken gilt.

Mode und Ästhetik als zweite Haut und Kleidung als soziales Phänomen sind vorangestellte Überlegungen im Band. Auch religiöse Alltagskleidung von Habit bis Turban werden besprochen.

Dann folgen sich teils wiederholende Beiträge, auch ein historischer Abriss zum Wesen und zur Phänomenologie des protestantischen Talars. Ab hier kreisen die Vorträge, der Sammelband vereint Beiträge einer wissenschaftlichen Fachtagung in Rostock aus dem Frühjahr 2019, vor allem um die Pfarrperson und deren „Körper als zentrales Rollenrequisit“. Besonders schön ist daher, wenn auch die Kleidungspraxis der Gemeinde, zum Beispiel an der Konfirmation in Vergangenheit und Gegenwart nicht ausgelassen wird. Religiöse Praxis setzt „allerdings einen gemeinsamen Wissensvorrat über kulturelle Codes und ihre (konventionellen) Bedeutungen voraus“, was im heutigen Individualismus nicht mehr gegeben ist.

Weiterhin kennzeichnet eine gemeinsame berufsständische Kleidung auch eine Gruppe – der Ordinierten – in Abgrenzung zu Anderen oder zu Laien. Hier wird die Herausforderung der eigenen Praxis besonders einprägsam, wenn jenseits anderslautender Verordnungen zur Amtstracht der Talar durch individualästhetische und pastoraltheologische Übergriffe modifiziert wird (Weglassen des Beffchens, Regenbogenstola zum Talar, Basecap zur Albe).

Diskutiert wird auch die religionsästhetische Aufrüstung insbesondere bei Kirchenleitungen im Zeitalter medialer Erkennbarkeit. Überall hier lohnt sich das Nachdenken zwischen dem, was an Beliebigkeit grenzt und dem, was als Vergessenheit protestantischen Amtsverständnisses gelten muss. Denn liturgische Kleidung ist auch ein „ökumenisches Differenztextil“ .

Wo die Beiträge ins Bilderreiche oder Anekdotenhafte abgleiten, sind diese teils mit lachendem, teils mit weinendem Auge zu lesen. Anything goes in der Spätmoderne? Das Buch hilft Anmutungen von Zumutungen zu unterscheiden.

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