Einander Raum geben

Kirchengedanken aus dem Kleiderhaufen
Foto: Christian Lademann

Eine neue Aufgabe an einem neuen Ort mit Umzug und allem Drum und Dran: Das erlebt gerade zeitzeichen-Kolumnistin Katharina Scholl. Aber die Pfarrerin genießt es und stellt by the way fest: Mit unserer Kirche ist es eigentlich auch so …

Kartons stapeln sich. Der Flur sieht aus wie ein Möbellager und das Umzugsunternehmen ist schon bestellt. Aus dem Augenwinkel kann ich die 5 Exemplare meiner Doktorarbeit sehen, die heute früh noch im Copyshop lagen und übermorgen eingereicht werden. Diese Zeilen kommen direkt aus dem Chaos. Mitten aus einer dieser Transformationsphasen im Leben, die einem alles abverlangen und in der jeder Gegenstand, den man besitzt, nochmal durch die eigene Hand wandert.

Die Zukunft liegt im Halbdunkel. Das Pfarrhaus ist noch ein fremder Ort. Neue Menschen sind Namen ohne Gesichter. Man sinnt nach über die vergangenen Jahre, was war und was nicht hat sollen sein und versucht dabei krampfhaft sich zwischen Kisten und gestapeltem Kram die letzten Versorgungsgänge durch die vertrauten Zimmer zu erhalten. Es fühlt sich alles an wie eine sehr lang gezogenes Schwellenritual.

Solche Verwandlungen sind anstrengend und kosten Kraft. Aber für mich haben sie immer auch eine andere Seite und darüber staune ich in diesen Tagen einmal mehr. Solche Transformationsphasen wecken in mir ungeahnte Kräfte. Das Chaos hat geradezu energetisierende Wirkung auf mich. Eigentlich fühle ich mich selten so lebendig wie mitten im größten Tohuwabohu, mitten im Übergang.

Energetisierende Wirkung

Als ich gestern Abend in einem Haufen alter Kleider wühlte, da fragte ich mich, ob vielleicht genau dies der Grund ist, dass ich so leidenschaftlich gern in dieser Zeit Pfarrerin bin. Diese große Lust daran, sich eine Zeit lang im Chaos zu beheimaten. Diese energetisierende Wirkung von Situationen, bei denen noch nicht klar ist, wohin sie genau führen.

Selbst wenn strukturierte Reformprozesse und EKD-Z-Teams etwas anderes suggerieren wollten, am Ende ist es gegenwärtig mit der Kirche doch so ähnlich wie in meinem aktuellen Tohuwabohu-Leben. Sie wird sich grundlegend verändern. Eine großangelegte Transformation, bei der noch niemand so genau weiß, wohin sie führt. Für kirchlich Aktive bedeutet das, sich eine (geraume) Zeit lang im Übergang zu beheimaten.

Altes nochmal in die Hand nehmen, es aufbewahren oder sich verabschieden. Damit leben, dass sich zwar Vorbereitungen treffen lassen für das Bevorstehende, dass aber die wirkliche zukünftige Gestalt der Kirche nicht antizipierbar ist. Mein Kollege Thomas Hirsch-Hüffel hat es kürzlich klug gesagt: Es ist aus geistlichen Gründen geboten, nicht zu wissen, wie es werden wird...

Mitten im Übergang

Mich beschäftigen im Hinblick auf diese Umbildungsprozesse vor allem die unterschiedlichen Emotionen, die damit einhergehen. Die einen, die in energetisierten Überschwang geraten und experimentieren und die anderen, die trauern und so viel wie es geht von den langsam bröckelnden Ordnungen erhalten wollen. Keine von beiden Haltungen ist per se die bessere. Beides gehört mitten hinein in diese Veränderungen.

Die letzten eineinhalb Jahre haben deutlich gezeigt, mit wie vielen verschiedenen Kirchenbildern kirchlich Aktive schon seit langem nebeneinander agieren. Die Transformationsprozesse einer kleiner werdenden Kirche werden diese Kontraste noch verschärfen. Mich bewegt die Frage, wie wir mitten im Übergang einander Raum geben können für all diese unterschiedlichen Resonanzen auf das was geschieht, wie wir in all dem miteinander Kirche bleiben können.

Wenn ich gleich den letzten Punkt gesetzt habe, werde ich wieder in meinen Kleiderhaufen kriechen. Ausrangieren, Häufchen bilden, Geliebtes sorgsam zusammenfalten. Solche Tätigkeiten haben ja etwas zutiefst meditatives. Ein guter Ort zum Beten: für die Übermütigen, für die Trauernden, für unsere Kirche.

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Foto: Christian Lademann

Katharina Scholl

Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.


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