Von der Ohnmacht zur Allmacht

Zur Entstehung und zu den Folgen von Hass
Bild des Street-Art-Künstlers „Alias“, aufgenommen in Berlin.
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Bild des Street-Art-Künstlers „Alias“, aufgenommen in Berlin.

Wenn Menschen schon früh und dauerhaft Vernachlässigung, Zurückweisung oder Gewalt erfahren, erwächst daraus häufig ein intensives Hassgefühl, das sich gegen sie selbst oder gegen andere richten kann. Wie die Entwicklung von Hass erfolgt und welche Funktionen er für das psychische Gleichgewicht hat, erklärt die Sozialpsychologin und Gruppenanalytikerin Angela Moré,  Professorin an der Leibniz Universität Hannover.

In der Alltagspsychologie wird Hass als das Gegenstück zur Liebe verstanden. Tatsächlich gibt es einen elementaren Zusammenhang zwischen diesen beiden Gefühlen. Es genügt jedoch nicht, sie als schlichte Polarität zu interpretieren. Denn beide Gefühle beruhen auf zum Teil voneinander unabhängigen komplexen psychischen Vorgängen. Hass ist zunächst etwas sehr Universelles, wenn wir ihn in seinen verschiedenen Ausprägungen gerade auch im Alltag betrachten. So kennen wir freundliche und liebevolle Menschen, die von sich sagen, dass sie Lärm hassen oder Stechmücken hassen, putzen oder langes Warten. Diese auf den ersten Blick belanglosen Äußerungen von Hass sind gleichwohl gut geeignet, uns an Grundphänomene des Hasses heranzutasten. Alle ablehnenden Emotionen wie Gereiztheit, Ärger oder das Nichtmögen bestimmter Situationen und Aufgaben haben miteinander gemein, dass sie Reaktionen sind auf Dinge, die mit Unbehagen und Unlust zu tun haben. In Abgrenzung davon stellen wir bei Wut fest, dass sie eine heftige Reaktion auf eine Einschränkung, Versagung, Enttäuschung oder Kränkung ist. Aber Wut „verraucht“ mit der Zeit, entspricht einem heftigen negativen Gefühlsausbruch, der bewältigt wird, wenn die provozierende Situation vorüber ist. Unter ähnlichen Bedingungen tritt sie aber wieder auf, falls die betroffene Person sich nicht anders zu helfen weiß – zum Beispiel mit Gelassenheit oder Humor.

Hass im eigentlichen Sinn, der in der Regel andere Menschen(gruppen), seltener Tiere, betrifft, unterscheidet sich von Ärger oder Wut durch mehrere Merkmale: Erstens handelt es sich um einen dauerhaften Gefühlszustand, zweitens ist der/die Hassende an das gehasste Objekt gebunden und mit diesem innerlich ununterbrochen beschäftigt, drittens ist Hass verbunden mit dem Wunsch, das Objekt desselben zu beschädigen oder gar zu vernichten. Die Quelle des Hasses liegt in frühen und dauerhaft empfundenen Gefühlen der Benachteiligung, des Ausschlusses oder der Missachtung. Daraus entstehen Empfindungen wie Neid, Eifersucht und Missgunst. Hass entwickelt sich aus einem beständigen Gefühl eines nicht befriedigten Verlangens, verbunden mit dem Gefühl der Zurückweisung. Dies führt allerdings nicht zwingend zu Hass, sondern kann sich in Selbstunsicherheit und Selbstzweifeln oder einem melancholischen Sehnsuchtsgefühl zeigen.

„Primitiver Hass“ ist eine normale Erscheinung in der frühen Entwicklung des Kindes, wie die Psychoanalytikerin Melanie Klein bei ihrer Beobachtung von Säuglingen und kleinen Kindern feststellte. Denn alle unangenehmen Empfindungen versucht das kleine Kind aus sich hinauszustoßen und benützt dafür unbewusst den Abwehrmechanismus der Projektion. So ist die Mutter oder ihre Brust „schuld“ am schmerzhaften Hungergefühl des Kindes, weil sie nicht schnell genug da ist. Das im Deutschen gebräuchliche Wort des Stillens veranschaulicht nicht nur, dass das Kind beim Gestilltwerden Sättigung erfährt, es wird auch „still“ im Sinne der Beruhigung. Wenn es heranreift, erkennt das Kind, dass die „bösen“ Mächte, die an seinem Leiden schuld zu sein scheinen, und die Quellen der Befriedigung zusammengehören, von ein und derselben Person ausgehen und in der Regel so verfügbar sind, dass sich Vertrauen in das Gute beziehungsweise die Eltern entwickelt.

Neuere Forschungen seit den 1970er-Jahren haben deutlich gemacht, dass nicht nur die gute Versorgung der körperlichen Bedürfnisse eine entscheidende Rolle für eine psychisch gesunde Entwicklung und ein stabiles Selbstvertrauen des Kindes spielen. Ebenso wichtig sind die emotionalen Bedürfnisse nach Sicherheit und Bindung, aber auch nach emotionaler Bestätigung und Resonanz auf die Impulse des Kindes (Spiegelung, Mentalisierung). Je stabiler solche positiven, das Selbst- und Weltvertrauen des Kindes fördernden Beziehungen in der Familie sind, desto mehr fühlt es sich in seinem Selbstwert bestätigt und entwickelt liebevolle Bindungen an seine Bezugspersonen, aber auch an die es umgebenden Dinge. Es fühlt sich dann zuhause und beheimatet, anerkannt und gefördert. Dies ist nicht zu verwechseln mit übermäßiger Grenzenlosigkeit und einem Gewährenlassen, sondern entspricht einer Begleitung ins Leben, die Anforderungen und Grenzen mit Wohlwollen und Respekt gegenüber der Persönlichkeit des Kindes formuliert. Erfährt ein Kind jedoch häufig Missachtung, Gleichgültigkeit, Unverständnis für seine Bedürfnisse oder gar physische oder psychische Formen der Verletzung und Gewalt, dann entstehen im Kind Gefühle des Mangels, der Hilflosigkeit und Verlorenheit, die sich in Gefühle eigener Wert- und Bedeutungslosigkeit verwandeln. Das eigene Selbstwertgefühl bleibt unsicher, denn das Kind sucht die Ursache für die empfundene Ablehnung bei sich selbst: Es erlebt sich als unzulänglich und darum nicht liebenswert. Diese Kinder passen sich häufig sehr den Wünschen der Eltern und auch anderer Erwachsener an, trauen sich nicht viel zu und wagen nicht, etwas für sich zu verlangen. In diesen so aufgewachsenen Menschen sammeln sich viel Groll und negative Stimmungen an, die sie in Form von Gleichgültigkeit, Lethargie oder Depression gegen sich selbst richten. Derselbe Groll kann aber auch nach außen drängen und sich gegen andere richten. Dies finden wir insbesondere bei Menschen, die sich in ihrem Selbstwertgefühl verletzt fühlen und auf diese Kränkung reagieren, indem sie den Spieß umdrehen. Sie richten nun ihre Enttäuschungswut und den Hass gegen andere Menschen. Bestenfalls sind dies jene Menschen, durch die sie enttäuscht, entwertet oder misshandelt wurden. Der Hass kann sich aber ebenso auf Dritte verschieben, die auch dem nahen Kreis der Familie angehören, zum Beispiel auf ein beneidetes Geschwister.

Verschiebung ist einer der wichtigsten psychischen Abwehrmechanismen. Er macht es möglich, dass diejenigen Personen, die das Leid zugefügt haben, aber emotional weiterhin bedeutungsvoll für die Betroffenen sind (wie Eltern und andere nahe Personen), als „gute Objekte“ bewahrt werden können. So hat die Bindungsforschung festgestellt, dass vernachlässigende Eltern nicht selten nachträglich von den erwachsenen Kindern idealisiert werden. Für diese ist es oft zu schmerzlich, sich bewusst einzugestehen, dass die Eltern sie nicht wahrgenommen oder sogar abgelehnt, vielleicht auch für ihre eigenen Bedürfnisse emotional oder physisch missbraucht haben. Verschiebung kann einzelne Personen im engeren Umfeld betreffen, wenn zum Beispiel statt der Mutter die Schwester, Tante oder eine Frau aus der Umgebung abgelehnt und gehasst wird. Verschiebung kann aber auch eine ganze Gruppe betreffen: Aus der Enttäuschung über die eigene Mutter kann sich ein universeller Hass gegen Frauen entwickeln.

Hass kann sich ferner gegen andere, völlig fremde Gruppierungen richten. Die Irrationalität solcher verschobener Hassgefühle wird daran ersichtlich, dass zum Beispiel antisemitisch oder fremdenfeindlich empfindende Menschen häufig nie persönlichen Kontakt zu Juden oder Menschen aus anderen Kulturen hatten. Sie bedienen sich vielmehr vorhandener Vorurteile und Ressentiments, um ihre angestauten Gefühle von Unzufriedenheit mit sich und ihrem Leben auf eine andere Gruppe zu projizieren, von der sie sich angeblich bedroht fühlen. Faktisch aber sind sie selbst es, die jene Gruppen bedrohen. Das innere Gefühl von Angst und Bedrohtheit ist zwar da, aber kann nicht mehr in Verbindung gebracht werden mit jenen elementaren frühen Kränkungen und Irritationen der Ablehnung und der fehlenden Empathie. Denn frühe Verletzungen sind der Erinnerung nicht zugänglich, spätere Kränkungen werden im Erwachsenenalter oft verharmlost, um den damit verbundenen Schmerz nicht wahrnehmen zu müssen. Zugleich werden die eigenen Gefühle von Wertlosigkeit nun in das gehasste Objekt (Frauen, Muslime, Ausländer und andere) verschoben.

Daraus ergeben sich für jene Menschen, die ihre eigenen Verletzungen psychisch durch Hass verarbeiten, Vorteile für ihre psychische Ökonomie: Zum einen können sie ihr Selbstwertgefühl erhöhen durch die Entwertung des oder der Anderen. Häufig erfüllte dieser Mechanismus schon bei den ablehnenden Eltern eine Schutzfunktion und wurde durch das Ausagieren ihrer eigenen Unzufriedenheit im Verhalten gegenüber ihren Kindern zwischen den Generationen weitergegeben.

Wenn Hassgefühle generalisiert werden in Verbindung mit Vorurteilen gegen bestimmte Menschengruppen, hat dies zudem den Vorteil, dass sich die Hassenden dabei oft in eine Gruppe Gleichgesinnter integrieren können und dadurch zusätzliche Bestätigung erfahren, da sie sich hier zugehörig fühlen können. Diese Gruppen geben ihren Mitgliedern Bestätigung, auf der richtigen Seite zu sein, zu den „Guten“ zu gehören. So erhöhen sie ihr – in Wahrheit beschädigtes – Selbstwertgefühl, indem sie die gehasste Gruppe abwerten und ihr all jene negativen Attribute zuschreiben, die sie von sich selbst abstreifen möchten. Dies ist der Kern der Projektion. Melanie Klein sprach von einer projektiven Identifikation, da die Verschiebung der am eigenen Selbst abgelehnten Merkmale in andere Personen oder Gruppen dazu führt, diese anderen ständig kontrollieren zu müssen, damit die dorthin ausgelagerten negativen Selbstanteile nicht in das eigene Selbst zurückkehren. Daher die Unerbittlichkeit, mit welcher der oder die Hassende sein Objekt verfolgt, bedrängt und letztlich vernichten möchte.

All diese hier beschriebenen Merkmale lassen sich sehr gut an der Fremdenfeindlichkeit, an sexistischen Einstellungen und am Antisemitismus studieren. Diese gesellschaftlichen Phänomene weisen zugleich darauf hin, dass massive, zu Hass führende Verletzungen des Selbst und der Persönlichkeit nicht nur individuelle Vorkommnisse sind, sondern auch die Folge gesellschaftlicher und soziokultureller Benachteiligungen. Sowohl individueller wie generalisierter Hass zeigt sich in Formen unkritischer Selbstgerechtigkeit, in der letztlich nur noch das eigene Wohl und „Recht“ zu zählen scheinen. Die Anderen werden dabei entrechtet, entwertet und in irrationaler Weise alle zu einer Masse verschmolzen, die alles Negative und Gehasste in sich vereint. Dass dieser Hass sich auch wieder gegen das eigene Selbst richten kann, zeigen die Suizide vieler Menschen, die ihr Hassobjekt verloren haben.

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