Kein Patent gegen Hass

Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin Martina Wagner-Egelhaaf über die Bedeutung des Wortes „Hass“, über literarische Hassfiguren und warum der Begriff in der Gegenwart neue Konjunktur erfährt
Wolfgang Mattheuer (1927 – 2004): „Kain“, 1965.
Foto: akg/VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Wolfgang Mattheuer (1927 – 2004): „Kain“, 1965.

zeitzeichen: Frau Professorin Wagner-Egelhaaf, die Literaturwissenschaft hat ja ein besonderes Verhältnis zur Sprache. Woher kommt das Wort „Hass“?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Das Wort „Hass“ kommt aus dem Indogermanischen und geht auf die Wurzel: *k̑ad-, *k̑əd- zurück, die „seelische Verstimmung, Kummer, Hass, Sorge, Leid“ bezeichnet. Sie steckt auch im griechischem kēdos, welches „Sorge, Trauer, Leichenbestattung“ bedeutet. Das heißt, dieser Wortstamm hat ursprünglich gar nicht die Bedeutung eines gegen andere gerichteten feind­lichen Gefühls. Im Lauf der Jahrhunderte ist eine Bedeutungsverschiebung eingetreten. Im Mittelhochdeutschen gibt es schon das Wort „hassen“; es bedeutet „verfolgen“ und ist mit unserem „hetzen“ verwandt. Wenn man die Medienberichterstattung aufmerksam verfolgt, fällt auf, dass immer wieder in einem Atemzug von „Hass“ und „Hetze“ die Rede ist. Aus beiden Wörtern ist eine geradezu topische Verbindung geworden, also eine
stereotypische Redewendung. Das liegt wahrscheinlich an der semantischen Nähe, die offensichtlich im kulturellen beziehungsweise im sprachkulturellen Gedächtnis angelegt ist.

Hat das auch damit zu tun, dass Hass eine Emotion ist und Hetze eine Tat?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Ja, in der Fachwelt wird darüber diskutiert, inwiefern Emotionen nur etwas Innerliches sind. Es gibt auch eine kultur­wissenschaftliche Emotionsforschung, die davon abgekommen ist, im engeren psychologischen Sinn von inneren Emotionen auszugehen, vielmehr richtet sie heute eher den Blick auf die soziale Dimension von Emotionen. Es wird danach gefragt, in welchen Emotionsbeziehungen Subjekte zueinander stehen, oder tatsächlich auch danach, in welchen Handlungszusammen­hängen Emotionen eine Rolle spielen.

Hassmails, Hassprediger, Hasskommentare. Es sind sehr viele Publikationen zum Hass erschienen. Wenn man den öffentlichen Diskurs betrachtet, gewinnt man den Eindruck, als habe er in der Gegenwart eine neue Konjunktur erfahren. Teilen Sie diesen Eindruck?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Ich habe festgestellt, dass in den vergangenen Jahren das Wort eine Bedeutungs­verengung erfahren hat und politisiert worden ist. Ja, wir können davon ausgehen, dass Spannungen, Aggressivität, verbale Gewalt und auch tätliche Gewalt in der Gesellschaft zugenommen haben. Aber das als Hass zu bezeichnen, muss man zunächst einmal hinterfragen.

Warum?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Das alles sind Phänomene, die noch vor zwanzig Jahren nicht als „Hass“ beschrieben worden wären. Man hätte das Attentat von Hanau oder den Mord an dem Regierungspräsidenten Walter Lübcke nicht „Hassdelikte“, sondern neutraler „Anschläge“ genannt. Die Bezeichnung als „Hass“ nimmt eine Bewertung vor. Vielleicht nutzt man einfach den Begriff, um das, was sich in der Gesellschaft abspielt und virulent wird, auf einen eingängigen Begriff zu bringen. Die Frage ist natürlich, ob dieser so bezeichnete Hass noch etwas mit dem zu tun hat, was etwa die Psychologie unter der Emotion Hass versteht. Oft handelt es sich ja um Nachahmertaten, und sie richten sich gegen Menschen, die man gar nicht gut genug kennt, um sie zu „hassen“.

Das Wort „Hassprediger“ hat nun Eingang in den Duden gefunden. Was sagt das über unseren gesellschaftlichen Umgang mit Hass aus? Heißt das, dass wir als Gesellschaft stärker emotionalisiert sind?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Ja. Die Emotionalisierung in der Gesellschaft hat zugenommen. Und man sieht das nicht nur am Beispiel des Hasses. Ein anderes Wort, das in den vergangenen Jahren Konjunktur hat, ist „Wut“. Die „Wutbürger“ sind wütend, weil sie bei der Politik kein Gehör finden. Diese Bezeichnung weist darauf hin, dass wir in unserer Gesellschaft eine neue Emotionalität wahrnehmen und sie auch als solche bezeichnen.

Woher kommt diese Emotionalisierung der Gesellschaft?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Darüber kann ich nur spekulieren, ich bin ja keine Sozialpsychologin. Das ist wie bei so vielem ein multifaktorielles Phänomen. Sicherlich spielt die Schere in der Gesellschaft, die zunehmend auseinanderklafft zwischen denen, denen es gutgeht, und denjenigen, denen es schlecht geht, eine große Rolle. Und dann kommen die globalen Migrations- und Wanderungsbewegungen hinzu. Aber man muss sicherlich auch die Rolle der neuen Medien betrachten. Gerade das Internet ist ein bevorzugtes Hassforum geworden, zum einem, weil hier der Hass anonymisiert auftreten kann, und zum anderen, weil die Diskussionsangebote, die das Netz bietet, sehr niedrigschwellig sind. Das fördert natürlich Partizipation, aber es führt auch dazu, dass ständig alles von allen kommentiert werden muss.

Hass gewinnt also an Attraktivität, stiftet er doch eine emotionale Gemeinschaft. Schließlich befindet man sich in Foren, in Gruppen oder in Blasen, die alle dieselbe Meinung haben und sich womöglich gegenseitig übertreffen.

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Das ist ein wichtiger Punkt. Wir beschäftigen uns in unserem Projekt „Figuren des Hasses“ im Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“ auch mit der Rhetorik des Hasses. Die Überbietung ist dabei ein wichtiger Gesichtspunkt. Der Kommentator will immer noch einen Ton schärfer sein als das, was andere schon im Netz hinterlassen haben.

Und trotzdem: Ist Hass ein Phänomen in der Realität oder ein Wort, mit dessen Hilfe versucht wird, ein gesellschaftliches Phänomen zu beschreiben?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Das ist die zentrale Frage unseres Projekts. Untersuchen wir das reale Phänomen Hass oder die Redeweisen, den Diskurs? Es gibt den öffentlichen Diskurs, aber als Literaturwissenschaftlerin schaut man sich eben auch den literarischen Diskurs an, die sprachlichen Formen von Hass. Wir gehen davon aus, dass die Sprache Wirklichkeit prägt. Allerdings würde ich nicht so weit gehen, wie man das im Zuge des linguistic turn teilweise getan hat, nämlich zu sagen, dass alles sprachlich konstruiert sei und es keine Wirklichkeit jenseits der Sprache gibt. So ist es natürlich nicht. Wir können die Wirklichkeit nur nicht ohne die Sprache adressieren. Wir brauchen die Sprache, um uns die Welt begreifbar zu machen, wohlwissend, dass die Sprache die Phänomene nur sehr unvollständig erfassen kann. Sprache entwirft Bilder von der Welt, und die sind immer auch bestimmt von Kultur und Ideologie – Weltbilder sozusagen. Wenn ich vom Hass spreche, nehme ich natürlich gewisse Vorstellungsbilder mit und projiziere diese in ein Phänomen hinein, das ich als „Hass“ beschreibe.

In unserem Forschungsprojekt „Figuren des Hasses“ untersuchen wir deshalb das Wechselverhältnis zwischen Sprache und dem, was die Sprache beschreiben möchte, im Bewusstsein, dass die sich gegenseitig konstituieren. Wir setzen also weder allein beim Wort noch beim Phänomen an, sondern zwischen „res“ und „verbum“. Und ich benutze als Denkfigur für das Wechselverhältnis von beiden gern die Figur des strange loop, der „seltsamen Schleife“, die Innen- und Außenseite in einer unabschließbaren Bewegung ineinander verschränkt.

Kann man sagen, dass unter dem Stichwort „Hass“ eine besorgniserregende Entwicklung gesehen werden kann?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Besorgniserregend finde ich diese Entwicklungen schon. Auch wenn wir jetzt an den Fall in Idar-Oberstein denken, wo aus einem sprachlichen Wortwechsel heraus so schnell eine tödliche Tat entstanden ist. Das wird als ein Hassdelikt dargestellt und verhandelt. Jemand, der mit den Corona-Maß­nahmen unzufrieden ist, offensichtlich der Querdenkerfraktion angehört, erschießt sein Gegenüber, einfach so. Während früher vielleicht aus Habgier die Kasse an der Tankstelle ausgeraubt wurde, tötet heute jemand, weil ihm etwas nicht passt und weil in unserer Gesellschaft Weltanschauungen unvermittelt aufeinanderprallen.

Welches sind die frühesten literarischen Zeugnisse des Hasses?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Man findet Hass überall. Wenn man in die antike Tragödie schaut, sind die Texte voller Hass und Gewalttaten. Aber auch in der Bibel begegnet man Hass. Denken Sie beispielsweise an die Geschichte von Kain und Abel, den Brudermord. Gott nimmt das Opfer von Abel an, das von Kain aber nicht. Da könnte man auf den Gedanken kommen, dass das extrem ungerecht ist, denn im biblischen Text steht nichts davon, dass Kain etwa ein schlechter Mensch war oder nicht gottgefällig gelebt hat. In Luthers Übersetzung heißt es „Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick“ (Genesis 4,6). Und wir lesen, dass er seinen Bruder aufs Feld führte und ihn erschlug. Das kann man als eine Hassgeschichte lesen. Bruderhass ist ja ein Motiv, das sich durch die Literaturgeschichte zieht. Im Sturm und Drang finden wir es etwa im Drama Die Zwillinge von Friedrich Maximilian von Klinger (1752 – 1832) oder auch in Friedrich Schillers (1759 – 1805) Die Räuber, wo Karl und Franz Moor einander nicht grün sind.

Allerdings fällt in der biblischen Geschichte das Wort „Hass“ nicht. Dürfen wir Kain also Hass auf seinen Bruder Abel unterstellen? Oder projizieren wir damit das, was wir uns heute unter Hass vorstellen, in diesen Text hinein? Ist das Hass? In jedem Fall ist es eine Gewalttat. Kain ergrimmt, er wird wütend, aber er handelt trotzdem nicht im Affekt, sondern er lockt Abel ja planvoll aufs Feld. Ich habe diese Geschichte oft gelesen, weil ich sie beunruhigend finde. Wenn im biblischen Text davon die Rede ist, dass Kain „ergrimmte“, stoßen wir auf ein Phänomen, das wir häufiger finden. Hass tritt oft in Verbindung mit anderen  Emotionsbezeichnungen auf. Mal ist es „Zorn“, „Wut“, „Grimm“, auch von Rache ist die Rede. Das weist darauf hin, dass man Emotionen und eben auch Hass gar nicht so klar abgrenzen kann.

„Hass ist pure, ungezügelte Leidenschaft, die sich bei genügender Stärke auch in Haltung und Miene ausdrückt“, sagt zum Beispiel Meyers Lexikon von 1926. Oder der Brockhaus bezeichnet in den 1950er-Jahren Hass als einen Vernichtungsaffekt von hoher destruktiver Intensität.

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Wut und Zorn entladen sich plötzlich. Wut kann auch wieder verrauschen, während Hass eher eine dauerhafte Emotion ist, die man in sich trägt und nährt. Hass entlädt sich nicht einfach und ist dann vorbei.

Die Literatur ist ja in ihrer je spezifischen Gegenwart verortet und reagiert auch wie diese. Wie ist das denn mit Politisierungen oder Instrumentalisierungen von Hass in der Literaturgeschichte?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Ich denke da zum Beispiel an das frühe 19. Jahrhundert, an die Zeit der Befreiungskriege. In dieser Zeit war in der Literatur sehr viel von Hass die Rede, und er wurde als legitimes politisches Kampfmittel eingesetzt. Man muss nur an die Texte von Ernst Moritz Arndt (1769 – 1860) denken oder an „Das Lied vom Hasse“ von Georg Herwegh (1817 – 1875). Diese Texte richteten sich gegen die französische Besetzung. Bei Herwegh heißt es: „Wir haben lang genug geliebt, / Und wollen endlich hassen!“ Selbst bei einem so kanonischen Autor wie Heinrich von Kleist (1777 – 1811) findet man den politischen Hass, in seinem Drama Die Hermannsschlacht zum Beispiel. Kleist zeigt am Beispiel der Hermannfigur, wie Hass politisch instrumentalisiert wird und wie Hermann seine Leute aufhetzt, um sie kampfbereit zu machen. Hier zeigt sich der Übergang zur Tat. Gerade in der Lyrik der Freiheitskriege gehen die Dichter sehr unbefangen mit dem Hass um. Da wird der Standpunkt vertreten, dass ein gewisser Hass nötig sei, um die eigene Position gegen die fremde wirkungsvoll abzugrenzen.

Ernst Moritz Arndt sagte damals, dass der Volkshass die einzig richtige Antwort auf die französische Fremdherrschaft sei.

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Ja, und Arndt war nicht der einzige in dieser Zeit. Das Wort „Hass“ hat aber nicht immer diese destruktive und extreme Bedeutung, die wir heute in ihm sehen. Gehen Sie in die englische Sprache: Da kann man zum Beispiel sagen „I hate tomatoes“, um zum Ausdruck zu bringen, dass man absolut keine Tomaten mag. Das ist schon eine explizite Abneigung. Wenn jemand aber im Deutschen sagt, er hasse Tomaten, dann sagt er oder sie das mit stärkerem Nachdruck und wie in Ihrer Definition eben auch in Mimik und Gestik. Man würde des­wegen aber nicht alle Tomatenhändler umbringen. Eine starke Abneigung wird jedoch als durchaus legitim empfunden, um gewisse Positionen klar zu markieren. So ist es beispielsweise bei dem Autor Maxim Biller in seinen Kolumnen 100 Zeilen Hass.

Was passiert bei Maxim Biller?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Biller versucht, mit dem Mittel des literarischen und essayistischen Hasses so etwas wie einen common sense aufzubrechen. Und er begreift dieses Mittel als aufklärerisch. Biller geht in seinen Hass-Texten durchaus unter die Gürtellinie, ist also nicht mehr politisch korrekt. Für mich ist klar, dass man jedes Gegenüber ernst nehmen muss, die Würde des anderen nicht angreifen darf und deshalb immer höflich zu sein hat. Aber Biller weist darauf hin, dass damit in Gesellschaften Spannungen aufgebaut werden und Schieflagen zustande kommen können. Bei seiner Kritik an anderen nimmt er sich allerdings selbst nicht aus, und das macht seinen rhetorischen Hass erträglich, auch wenn einem Lachen und Zustimmung dabei oft im Halse stecken bleiben.

Wie kamen Sie dazu, sich mit dem Thema „Hass“ zu beschäftigen? Was war der Auslöser?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Shakes­peares Kaufmann von Venedig war für mich der Auslöser, mich näher mit dem Thema „Hass“ zu befassen. Gestolpert bin ich über die Szene ziemlich am Anfang des Dramas, wo der Jude Shylock auftritt und über seinen christlichen Kontrahenten Antonio, den Kaufmann von Venedig, sagt, er hasse ihn, weil er von den Christen ist. Und wenig später heißt es im gleichen Monolog, Antonio hasse sein, Shylocks, heiliges Volk. Der Jude hasst also den Christen, weil der Christ den Juden hasst – eine Reziprozität des Hasses gewissermaßen. Hass erzeugt Gegenhass. Das fand ich bemerkenswert. Natürlich stellt sich die Frage, ob das ein judenfeindliches Stück ist oder nicht. Aber in jedem Fall zeigt Shakes­peare, wie es zu Hassdynamiken und Hasseskalationen kommt.

Welche Erkenntnisse lassen sich aus den literaturwissenschaftlichen Einsichten des Phänomens Hass für die Gesellschaft finden?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Generell reagiert die Literatur immer sensibel auf gesellschaftliche Phänomene ihrer Zeit. Auch wenn sie diese natürlich nicht eins zu eins abbildet. Sie eröffnet einen weiteren Reflexionshorizont, weist auf Spannungsverhältnisse hin, durchleuchtet sie und bietet Erklärungen, die komplexer sind als manche Kurzschlüsse im öffentlichen Diskurs. Die Literatur mahnt, immer noch einmal genauer hinzuschauen und zu fragen, was hinter gewissen sprachlich verfestigten Formulierungen steckt. Und oft bricht sie gerade diese auf. Literarische Texte bieten Gegenpositionen, indem sie  Diskussionskontexte eröffnen und zeigen, wie und wo vermeintlich klare Positionen verortet sind. Und oft, wenn man in die Medien schaut oder in die kurzlebigen Internetkommentare, fehlen eben die  Kontextualisierungen. Das ist gefährlich, weil sich hier jeder bedienen und die einfachen Wahrheiten weiter­verbreiten kann. Das ist höchst unredlich, ein guter literarischer Text macht das nicht.

Er kann hingegen auf ein kulturelles Gedächtnis zurückgreifen?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Richtig, in jedem Fall. Ein wunderbares Beispiel dafür sind die Texte von Elfriede Jelinek, die ja zu fast allen Gegenwartsproblemen in ihren literarischen Texten Stellung bezieht. Sie hört sehr genau hin und gibt den widersprüchlichen Stimmen, die sich in der Gesellschaft äußern, das Wort. Sie imitiert die Stimmen, auch die negativen, mit denen man sich nicht identifizieren möchte. Jelineks Spracharbeit schreibt die Dinge nicht fest, sondern lässt sie immer umkippen. Und sie zeigt, dass man etwas, was gerade gesagt wird, mit dem gleichen Recht auch aus einer anderen Perspektive sehen kann. Sie löst feste Positionen auf, indem sie unvermerkt schon wieder jemand anderes sprechen lässt. So kommt es, dass sich etwa eine fremdenfeindliche Äußerung plötzlich auf Deutsche beziehen kann.

Was gibt es für Strategien, mit Hass umzugehen? In Demokratien, so scheint es, streitet man anhaltend und heftig, aber man hasst nicht, verweigert den Hass.

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Verweigerung ist eine Strategie, eine andere ist es, Hass sichtbar zu machen, ihn zu inszenieren, zum Beispiel in Theaterperfomances. Der Schweizer Regisseur und Autor Milo Rau hat die Verteidigungsrede des Attentäters von Oslo und Utøya, Anders Behring Breivik, 2012 in Weimar und Wien von einer türkischstämmigen Schauspielerin vortragen lassen. In  diesem reinactment, dem Wiederaufführen auf der Bühne, sollen Hassmanifestationen in ihrer Bodenlosigkeit gezeigt werden. Das ist eine umstrittene Methode, die auf eine theoretische Position der amerikanischen Philosophin Judith Butler aus den 1990er-Jahren zurückgeht: sich die Hassrede aneignen, sie der Gegenseite entwenden und spielerisch zurückspiegeln. Der amerikanische Psychologe John Steinberg, der sich intensiv mit Hass beschäftigt hat, meint, man müsse, um Hass bekämpfen zu können, verstehen lernen, wie Hass zustande kommt. Das ist gewiss ein mühsamer Weg, aber einen anderen gibt es wohl nicht. Und es gibt auch keine Patentrezepte, wie mit Hass umzugehen ist. Aber Kommunikation ist wichtig, im Persönlichen und im Politischen.

Was erhoffen Sie sich von Ihrem Projekt „Figuren des Hasses“?

MARTINA WAGNER-EGELHAAF: Ich möchte erreichen, dass man die Vielschichtigkeit des Phänomens und des Diskurses über Hass in einer länger­fristigen historischen Perspektive wahrnehmen kann. Und ich  will verstehen, wie Literatur und das, was in der Wirklichkeit passiert, zusammenhängen. Es gibt ein  eindrucksvolles Buch von dem jüngst verstorbenen Bielefelder Literaturwissenschaftler Karlheinz Bohrer,  der die Literaturgeschichte nach großartigen Hassszenen durchforscht hat. Für ihn ist Hass etwas, das von einer enormen poetischen Intensität ist. Er weist im Vorwort aber gleich darauf hin, dass der Hass, den er  untersucht, nichts mit dem Hass auf der Straße zu tun habe. Das sehe ich anders. Mir stellt sich die Frage:  Gibt es den guten, künstlerischen Hass und den schlechten? Ich sehe, dass es viele Spielarten von Hass gibt.  Darüber nachzudenken, welche Bedeutung sie haben und was sie miteinander zu tun haben könnten,  erscheint mir sowohl wichtig für die Literaturwissenschaft, aber auch für kritische gesellschaftliche  Diagnosen. Schließlich bilden wir in unseren Seminaren künftige Lehrerinnen und Lehrer aus, die  Multiplikatoren literarischen und gesellschaftlichen Wissens.

 

Das Gespräch führte Kathrin Jütte am 22. September 2021 in Münster.

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Martina Wagner-Egelhaaf

Martina Wagner-Egelhaaf ist Professorin an der Wilhelms-Uni­versität Münster. Die 64-Jährige hat den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte inne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Autobiografie, Autofiktion, Literaturtheorie, Rhetorik, Gender-Studies sowie Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Religion, Politik, Recht. Seit 2018 ist sie Principal Investigator im Exzellenzcluster „Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation“.

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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