All meine Gläubigkeit

Der Liedermacher Wolf Biermann über Gott und die Welt
Wolf Biermann
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Er sagt von sich: „Ich bin ein guter Renegat.“ Der Liedermacher und Dichter Wolf Biermann, der 1976 von der DDR ausgebürgert wurde, glaubt nicht an Gott. Darüber legt er nun in einem Buch Rechenschaft ab. Dabei weiß der 85-Jährige, dass ihn nur eine „nichtige Kleinigkeit“ von dem „Glauben der Gläubigen“ unterscheidet.

Kein Ei kann sich das Nest aussuchen, in dem es ausgebrütet wird. Kein Menschenkind wählt den Kinderglauben, mit dem es großgefüttert wurde und dann in die Welt gestoßen. Meine Mutter war strenggläubige Atheistin, das war ihr aufgeklärtes Bildungserlebnis in den zwanziger Jahren, und darauf war sie bannig stolz. Ich wurde in einem roten Nest ausgebrütet, wurde flügge auf einem brennenden Bolschewisten-Baum mitten in der braunen Nazi-Zeit. Noch prekärer: in einer jüdischen Kommunistenfamilie.

Unsere gottlose Religion trank ich mit der Muttermilch. Nach dem Kriege wurde ich in der kommunistischen Kirche konfirmiert. Der heilige Karl Marx war unser lieber Gott. Und Stalin war sein Prophet. Mein Vater, der ungebrochene Widerstandskämpfer Dagobert Biermann, blieb mein gebenedeiter Märtyrer. Der gewiefte Existenzphilosoph Jean-Paul Sartre drechselte uns eine fast hegelianische Sentenz: „Wir beurteilen die Menschen nicht nach dem, was aus ihnen gemacht wurde, sondern danach, was sie aus dem gemacht haben, was aus ihnen gemacht wurde.“ Dieser dialektische Zungenbrecher gilt für jedermann, und allemal für einen wie mich. Ziemlich spät, erst im Jahre, als die Mauer ja noch ewig stand, hatte ich als Mann endlich den Mut, erwachsen zu werden: Ich brach mit meinem eingeborenen Kinderglauben und wurde ein guter Renegat. Erst in den fremdvertrauten Freiheiten der Demokratie begriff ich, daß jeder Versuch, das Himmelreich auf die Erde zu zwingen, die Menschen unentrinnbar in immer tiefere Höllen zwingt.

Für mich war dieser Verrat notwendig, denn solche Brüche wenden eine Not. Meine radikale Selbstbehauptung tat weh. Der Erkenntnisprozeß war kompliziert und so überschwer, wie meines Vaters Vorbild wog in meinem Herzen. Ihn wollte ich nicht verraten. Er war als Kommunist gefoltert und dann als Jude in Auschwitz ermordet worden. Diesen Toten wollte ich nicht töten. Auch der Preuße Theodor Fontane kannte wohl dies Problem: „Heldentum ist immer das Produkt einer Zwangslage.“ Zum Überlebenskünstler wird man womöglich geboren, aber nicht zum Rebellen gegen die Grundwerte der eigenen Großfamilie.

Ich – der Gutgläubige – protestierte in der DDR in radikaler Manier des revolutionären Reformators Martin Luther. So wie ich an den Kommunismus glaubte, so hatte einst Luther an den gleichen Gott wie sein gottverlassener Ablaß-Großhändler in Rom geglaubt. Der kleine Mönch attackierte das Bodenpersonal Christi mit der Bibel. Und er schimpfte den Papst einen Teufel. Er prügelte Gottes Stellvertreter auf Erden mit Gottes Wort in der Heiligen Schrift. Und mit solch immanenter Kritik prügelten Leute wie ich die machtbesoffenen Bonzen der DDR mit dem Kommunistischen Manifest des Karl Marx. Ohne meinen Glauben an die heilige Kuh Kommunismus hätte ich den Streit mit den Bonzen der Partei kaum durchgehalten. In den elf Jahren meines Totalverbots hat mein Glaube, der eine Illusion war, mich gestärkt. Marx ermutigte mich zum Widerstand gegen unsere Unterdrücker.

Alle Religionen lassen sich im Streit der Welt bei Bedarf reaktionär zweckentfremden. Der Glaube an Gott wird mißbraucht als Machtinstrument der Einschüchterung und Verblendung des Volkes. Immer wieder aber auch echt emanzipatorisch: ein moralischer Halt im Widerstand und Ermutigung zur Rebellion gegen Unterdrückung. Nimm nur die Schwarze Madonna von Tschenstochau! Diese katholische Freiheitsgöttin kämpfte auf Seiten der Gewerkschaft Solidarnosc Danzig. Sie stärkte das Volk gegen die dschugaschwilische Monopolbürokratie, als die Werftarbeiter in Danzig streikten. Und genauso ermutigte der Glaube an Gott auch eine tapfere Schar echter Christen in der DDR zur Insubordination. Solch echte Protestanten und Katholiken wurden von der Partei bevorzugt … verfolgt. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Christenmensch in der DDR zum Menschenschweinehund mutiert, war kleiner als im Westen. Ich erlebte, daß wirklich treue Hirten und echt fromme Schafe – was Wunder! –, daß diese gläubigen Menschen meine natürlichen Verbündeten waren im Kampf gegen den Stalinismus.

An welchen Gott, egal welcher Konfession ein Menschenkind glaubt, das soll mich nicht von ihm trennen. Und wenn ich so einen Frommen treffe, der das Markenzeichen seiner Firma demonstrativ vor sich herträgt, dann argwöhne ich skeptisches Lästermaul automatisch: Hoffentlich glaubt dieser Mensch wirklich an seinen auserwählten Gott! Ich jedenfalls, das gebrannte Kind Karl-Wolf Biermann, kann weder an Gott noch an Götter glauben. Ich werde auch niemals für wahr halten, daß unser Wunderrabbi am Kreuz ein Welterlöser war. Weiß Gott, die Welt sähe anders aus! Aber auch auf den herbeigesehnten Messias der orthodoxen Juden möchte ich Judenkind meine kurze Zeit auf Erden nicht verwarten. Überhaupt auf jede Spekulation in Richtung eines schlaraffenländischen Narrenparadieses kann ich verzichten, solange die Chance bleibt, daß die närrische Gattung Mensch unsere kleine Erde nicht vollends in eine Hölle verwandelt.

Verdorrende Aufklärung

Ein wahres Wort: Das Schicksal des Menschen ist der Mensch. Tja, leider!! So grinsen die klugen Pessimisten. Aber die klügeren Optimisten lächeln: Gottseidank! Antisemitismus kann niemals ein Menschenrecht sein, und jeglicher Rassismus ist keine Meinung. Was an der sogenannten Cancel Culture Hysterie ist und was Aufklärung, wird sich im Meinungsstreit erweisen. Und gottbewahre!, nicht jeder Humbug ist Glauben. George Orwell hat es offenbart: Fakesprech ist noch längst keine Sprache. Und Querdenker sind weder Denker noch im guten Sinne quer. Ich nenne sie beim Namen: Dumpfdünkler.

Die Verschwörungstheoretiker sind keine Theoretiker. Und Endzeitpropheten waren nie Propheten. Die völkische „Identitäre Bewegung“ erinnert mich an die Monstruos der Aquatinta-Radierung des Francisco de Goya „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Die Aufklärung verdorrt. Der Aberglaube blüht. Und die Intoleranz schießt mal wieder ins Kraut. Digitale Giftzwerge schießen mit stumpfsinnigen Wutworten, rechte und linke Terroristen mit scharfen Handfeuerwaffen. Jetzt, in den Zeiten der Corona-Pandemie, wütet eine noch fatalere Seuche: Die Sozialen Medien erweisen sich als asoziale Gelddruckmaschinen gigantischer Medienkonzerne. In den Innenstädten blüht der Schwachsinn: Klebesticker mit den Codeworten „Pizzagate“ und „QAnon“. Paranoide Slogans wie „Gib Gates keine Chance!“ oder „Gegen den Impf-Terror der Merkel-Diktatur“. Und das Nazi-Symbol „Schwarze Sonne“ der esoterischen Rechtsextremisten, diese drei Hakenkreuze über Kreuz, sie flackern als Menetekel am Internet-Himmel. Zynische Putinversteher und chronische Judenfresser und panische Islam-Feinde kämpfen Seite an Seite für ihre hysterischen Haß-Freiheiten. Ich DDR-Deutscher habe es am eigenen Leibe erlebt: Wer sich des eigenen Verstandes bedient, ist immer die schlimmste Bedrohung für jede Diktatur. Aber jetzt, in der freien Welt des Rechtsstaates, erkenne ich, daß für jede Demokratie nicht etwa das Denken, sondern die Gedankenlosigkeit die allergrößte Gefahr ist.

Der atheistische Dichter und Meister des Aphorismus, der polnische Jude Stanisław Jerzy Lec, entschied alle Maulschlachten im Religionsdisput: „Ob ich gläubig bin, das weiß nur Gott allein!“ Ich habe inzwischen begriffen, daß mein Glaube sich von dem der Gläubigen eigentlich nur in einer einzigen und zudem nichtigen Wichtigkeit unterscheidet. Christen, Juden und Moslems wissen sicher, daß Gott den Menschen gemacht hat – aber ich glaube fest daran: Der Mensch macht sich selbst. Ja, ich glaube an den Menschen und weiß sehr wohl: Das ist noch verrückter und läßt sich – nebbich! – noch schlechter begründen.

Als der Mensch sich Gott erschuf, nach seinem Ebenbilde, da projizierte er in dieses Kunstwerk alle Elemente erlesener Schönheit, wechselnde Werte der Humanität und der Heiterkeit auch im Leiden. In diesem Selbstportrait stecken unsere schmerzlichsten Erfahrungen und kühnsten Hoffnungen. Schon deshalb habe ich niemals versucht, einem gläubigen Menschen seinen Glauben auszureden. Gott soll uns schützen gegen die immer raffinierteren Technologien der Selbstverhäßlichung und Selbstvernichtung. So vergewissert der Mensch sich seiner selbst. Wie einst Sonne und Sternbilder dem Seefahrer auf den Weltmeeren die Orientierung erleichterten, so hilft dem Gläubigen auch heute beim Navigieren durchs Leben sein Gott als ethischer Sextant. Aber ein GPS für bequemeren Fortschritt, für eine total sichere Expedition in die menschengemachte Zukunft, wird es nie geben. Und ob uns so etwas wie ein Leben nach dem Tode blüht, das ist mir egal – solange es ein lebendiges Leben gibt: vor dem Tod! 

 

Der Text entstammt dem Buch Wolf Biermanns  Mensch Gott!, das im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.

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