Lego für Afrika

Ein neuer Baustoff aus Thüringen löst viele Probleme
Gerhard Dust hat gemeinsam mit dem Maschinenbauingenieur Günther Plötner die Idee entwickelt, mit Sanden, Polymeren und Isoliermaterialien nachhaltige und kostengünstige Bauelemente zu entwickeln
Foto: Martin Egbert
Gerhard Dust hat gemeinsam mit dem Maschinenbauingenieur Günther Plötner die Idee entwickelt, mit Sanden, Polymeren und Isoliermaterialien nachhaltige und kostengünstige Bauelemente zu entwickeln

Nachhaltiges Bauen ist nicht nur in den Industrienationen möglich. Das zeigt eine Firma aus Thüringen, die seit kurzem in Namibia preiswerte Bauelemente  herstellt, die nur ein Viertel so viel Sand verbrauchen wie Beton und bedeutend weniger CO2 verursachen. Zudem lassen sich die Häuser mehrfach auf- und abbauen. Ist das die Lösung für die wachsende Weltbevölkerung, die vor allem in den Metro­polen der südlichen Halbkugel leben wird?

Auch wenn sie nun schon seit über drei Jahren in ihrem neuen Zuhause wohnt, kann Nadia Philipps ihr Glück immer noch kaum fassen. „Wenn es regnet, brauchen wir keine Angst mehr zu haben, dass unsere Möbel und all die anderen Sachen nass werden.“ Die schlanke 24-Jährige mit dem wachen Blick zeigt an die Decke. „Das Dach ist wirklich dicht.“ Ihre Eltern, die auf dem dunklen Sofa neben ihr sitzen, nicken. „Manchmal bemerke ich erst am Morgen, dass es geregnet hat – so leise ist es hier drinnen“, sagt Mwanga und lächelt entspannt. „Ich habe noch nie so gut geschlafen.“ Die Mutter Nadias trägt auch am Nachmittag noch ihren roten Morgenmantel. Schließlich ist heute Samstag.

 
Familie Philipps wohnt in einem Sechzig-Quadratmeter-Haus der Firma Polycare am Rande der namibischen Hauptstadt Windhuk
Foto: Martin Egbert

Die Liste der Vorzüge ist lang und wird mit nicht nachlassender Begeisterung vorgetragen: Die Nachbarn sind weniger laut zu hören. Bei Hitze bleibt es angenehm kühl im Haus. Es ist sicher gegen Einbrecher. Und der Wasseranschluss, das Bad sowie die eigene Toilette im Haus sind eine Sensation. „Früher mussten wir draußen die Gemeinschaftstoiletten benutzen, sie waren oft schmutzig und stanken“, erinnert sich Nadia. „Eine Dusche gab es gar nicht.“ Da musste die siebenköpfige Familie noch in einer Blechhütte in der Nachbarschaft wohnen. Viele Menschen hier im Norden Windhuks, außerhalb der Ringstraße, leben in Blechhütten, die sich dicht an dicht die Hügel hinaufziehen. Hat man so ein Zuhause einmal von innen gesehen, ist die Begeisterung verständlich, mit der die Philipps von ihrem Haus erzählen. Und dabei immer wieder gegen die Wände klopfen, als müssten sie sich ihrer Existenz versichern.  

Nadia Philipps
Foto: Martin Egbert

 

Eine Besonderheit ist das Sechzig-Quadratmeter-Haus der Firma Polycare am Rande der namibischen Hauptstadt aber aus noch einem ganz anderen Grund. Das verrät bereits das Geräusch, das beim Klopfen gegen die grauen Wände zu hören ist, ein heller, etwas hohl klingender Ton. Die Ursache dafür sind die Bausteine, für die eigentlich ein anderer Begriff erfunden werden müsste. Denn anstatt aus Kalksandstein oder Beton bestehen sie aus einer harten Schale aus Sand und Kleber sowie einem weichen Kern aus Styropor. Trotzdem sind sie ausreichend dicht, stabil und feuerfest, um daraus ganze Häuser zu bauen. Und sie sind ausgezeichnet isoliert, was in Afrika eine Seltenheit ist.

Die Sand-Mafia

Vor allem aber könnten diese Elemente helfen, eines der größten Umweltprobleme unserer Zeit zu lösen: die Belastung von Klima, Umwelt und Ressourcen durch den weltweiten Bauboom. Die Bauindustrie ist für fast vierzig Prozent der Klimagas-Emissionen verantwortlich. Einer der Haupttreiber dafür ist Zement, der wichtigste Bestandteil im Beton. Seine Herstellung verursacht bis zu acht Prozent der globalen Emissionen. Zudem verbraucht sie viel Sand. Geeignet ist nur der grobkörnige Sand aus dem Meer, von Stränden, aus Seen und Flüssen. Das UN-Umweltprogramm schätzt den jährlichen Verbrauch auf vierzig bis fünfzig Milliarden Tonnen. Der Peak dieser Ressource ist längst überschritten. Der Raubbau ruiniert Flussbetten und Strände, zum Teil illegal organisiert von einer Sand-Mafia, die selbst vor Mord nicht zurückschreckt. „Unsere Elemente verbrauchen nicht einmal ein Viertel so viel Sand wie Beton, und sie verursachen sechzig Prozent weniger Klimagas.“ Hinter Achim Lück schieben Arbeiter in Blaumännern auf dem Fabrikhof Sand zusammen, den sie in der Sonne zum Trocknen ausgebreitet hatten. „Nur eine LKW-Ladung genügt für ein Haus wie das der Philipps“, sagt der Bauingenieur und Teilhaber von Polycare in Namibia. „Vor allem aber muss es nicht der grobkörnige Sand von Flussbetten oder Stränden sein, wir könnten die Elemente auch mit feinkörnigem Wüstensand herstellen.“ Was allerdings wegen des zu weiten Transportweges noch nicht geschieht. Denn die Fabrik von Polycare Namibia liegt in der Nähe von Windhuk, eine halbe Stunde Autofahrt von dem Haus der Philipps entfernt. Deshalb ist es sinnvoller, den dort vorhandenen Bausand zu nutzen, der aus einem nahen Flussbett abgebaut wird.

Fabrik von Polycare
Foto: Martin Egbert
Der Raubbau an Sand ruiniert Flussbette und Strände. Die neuen Elemente verbrauchen nicht einmal ein Viertel so viel Sand wie Beton und können auch mit dem feinkörnigen Wüstensand hergestellt werden.
Foto: Martin Egbert
 

Seit gut einem Jahr läuft die Produktion der Blocks in der ehemaligen deutschen Kolonie im Südwesten Afrikas. Die harte Hülle eines Blocks besteht aus einem Gemisch aus Kunstharz und Sanden verschiedener Körnung. Diese Mischung rührt eine Maschine an, um sie anschließend rund um einen Kern aus Styropor in eine Form zu gießen. Eine nächste rüttelt das ganze durch. Dann rattert die gefüllte Form über die Transport­rollen zur nächsten Station. Arbeiter glätten mit schnellen Bewegungen die Masse, spannen die Formen auf, reinigen sie und stapeln die fertigen Elemente auf Paletten. Die einzelnen Schritte müssen reibungslos ineinandergreifen. Taktgeber ist die Abbindezeit des Klebers. Falls er in der Maschine härtet, muss diese aufwändig gereinigt werden. Einfacher dagegen ist das Konstruieren und Bauen mit den Blöcken. Noppen auf der Ober- und Löcher auf der Unterseite ermöglichen es auch Ungeübten, die leichten Blöcke zu einer Wand zusammenzustecken.

Bauelemente
Foto: Martin Egbert

 

Gehalten werden sie von einer langen Gewindestange und Muttern. Mit nur fünf verschiedenen Block-Typen lassen sich unterschiedlichste Häuser bauen. „Das ist wie mit Lego“, sagt Morné Coetzee, der das operative Geschäft des Unternehmens leitet. Er sitzt am Schreibtisch vor seinem Computer und erläutert das Konstruktionsprogramm der Firma. Nach den Vorgaben des Kunden puzzelt das Programm Anzahl und Typen der Elemente und errechnet, wo die Löcher für die Gewindestangen sowie die Kanäle für Leitungen und Kabel hingehören. Am Ende spuckt der Computer eine Inventarliste aus. „Wir liefern dann die Elemente, Grundplatten und Beschläge sowie eine bunte Zeichnung für den Aufbau.“ Dass der Aufbau dann fast ein Kinderspiel ist, lässt sich in Rehoboth beobachten, einer Kleinstadt südlich von Windhuk. „Die Blöcke lassen sich leicht transportieren und schichten.“ Bauunternehmer William Sheepers baut hier für Polycare eine Siedlung mit zwölf Häusern. „Wir brauchen für ein ganzes Haus im Rohbau nur eine Woche“, sagt er und zeigt über den Platz, wo sein Trupp gerade in den ersten Häusern Einbaumöbel, Bäder und Steckdosen montiert. Auch das geht viel schneller, weil die Kanäle und Halterungen dafür bereits in den Blöcken sind.

Die Fabrik von Polycare Namibia liegt in der Nähe von Windhuk. Seit einem Jahr läuft die Produktion.
Foto: Martin Egbert

 

Knapp fünfzig Häuser wurden trotz Corona-Krise mit diesem System in Namibia gebaut. Wohnhäuser, Lager, Lodges, Servergebäude oder Kindergärten. Sogar eine Kirche aus den patenten Blocks gibt es schon. Der größte Clou an dem System ist: Alle diese Häuser lassen sich in ihre Einzelteile zerlegen und an anderer Stelle sowie in anderer Form wieder aufbauen. Das erspart der Welt viel Bauschutt. Mit 850 Millionen Tonnen pro Jahr ist dieser der größte Abfallstrom auf dem Globus.
Szenenwechsel. Gehlberg am Rande des Thüringer Waldes. Hier werden Polycare-Elemente in einer historischen Glasfabrik hergestellt. Hinter der alten Halle aus Backstein steht ein zweigeschossiges Musterhaus. „Das haben wir in sechs Stunden abgebaut, um es in nur wenigen Tagen mit einem anderen Grundriss wieder aufzubauen“, sagt Gerhard Dust. „Von den insgesamt 1 600 Blöcken sind dabei nur zwei kaputtgegangen.“ Der 68-jährige Gerhard Dust war vor seinem Ruhestand erfolgreicher Manager im Buchhandel. Eigentlich hatte er sich in Florida zur Ruhe gesetzt. Doch die bereits zu DDR-Zeiten von dem ostdeutschen Maschinenbauingenieur Günther Plötner entwickelte Idee, mit Sanden, Polymeren und Isoliermaterialien nachhaltige und kostengünstige Bauelemente zu entwickeln, hat ihn vor rund zehn Jahren so begeistert, dass er zurück in den Unruhestand trat. Seitdem haben die beiden fortlaufend an den Bauelementen getüftelt, zum Teil in Kooperation mit renommierten Forschungseinrichtungen wie der Bauhaus-Universität in Weimar. In blauen Schüsseln stehen auf einem Tisch Sande aus allen Wüsten der Welt. „Durch unser Verfahren können wir sehr viele verschiedene Sande nutzen.“ Selbst ausgediente Formsande aus Gießereien, zermahlener Bauschutt oder Schlackenreste aus Stahlwerken wurden in Gehlberg schon zu Bauelementen verarbeitet. Ein wichtiges Forschungsziel ist die Senkung der Anteile der Polymere. Dust will zudem möglichst viele aus alten PET-Flaschen gewinnen. „Bereits jetzt ist ein Anteil von vierzig Prozent möglich.“ Außerdem möchte er einen Ersatz für den Kern aus Styropor finden, am besten aus nachwachsenden Rohstoffen. In einigen Jahrzehnten liegen die meisten großen Städte der Welt in Afrika oder Asien. Die Anforderungen dort an das Bauen werden andere sein als in Europa: Häuser müssen günstiger sein, schneller gebaut werden und leichter zu verändern sein, bis hin zu einem Wechsel ihres Standortes.

Namibische Hauptstadt Windhuk
Foto: Martin Egbert

 

Aber auch in Europa gibt es neue Trends, wie etwa den zum Tiny House. Vor allem aber müssen die Industrienationen nachhaltiger mit Rohstoffen umgehen. Polycare bietet für viele dieser Herausforderungen eine Lösung. Auf eine Zulassung als Baustoff wartet das Unternehmen aber schon seit sechs Jahren. Bislang konnte es in Europa nur einige Gebäude zu Demonstrationszwecken oder als Pilotprojekte bauen. Hoffnung gibt Gerhard Dust die mündliche Zusage, dass es noch in diesem Jahr klappen soll. Auftrieb gibt auch der Deutsche Unternehmenspreis Entwicklung 2021, mit dem Polycare gerade ausgezeichnet wurde. In Gehlberg will Dust deshalb noch in diesem Jahr das Team von derzeit zwölf Angestellten verdoppeln.

Leben unter Plastikplanen

Im südlichen Afrika erfolgte die Zulassung bedeutend schneller. Deshalb die Fabrik bei Windhuk. Zwei weitere sollen noch in diesem Jahr in Südafrika den Betrieb aufnehmen.

Fabrik von Polycare
Foto: Martin Egbert

 

Dort kooperiert Polycare mit dem innovativen Hersteller House in a Box, der kleine und günstige Kompletthäuser anbietet. „1,2 Milliarden Menschen leben heute unter Plastikplanen oder in Blechhütten, für die hat die Welt immer noch keine Lösung“, sagt Gerhard Dust. Dafür ist das Polycare-System allerdings noch zu teuer. Das Sechzig-Quadratmeter-Haus der Familie Philipps in Windhuk zum Beispiel ist mit umgerechnet 16 000 Euro zwar für unsere Verhältnisse preisgünstig – für die Philipps aber unerschwinglich. Vater Philipps sitzt im Rollstuhl. Er ist altgedienter Kämpfer für die Unabhängigkeit Namibias. Deshalb hat die Familie das Haus, das vorher auf einer Bau-Messe in Windhuk ausgestellt war, geschenkt bekommen. Mittlerweile hat es zu regnen begonnen. Im Haus hört man tatsächlich kaum etwas davon. Kein Vergleich zum lauten Trommeln der Regentropfen auf einem Blechdach. Nadia Philipps und ihre Eltern machen es sich vor dem Fernseher gemütlich. Ein ganz normaler Samstagabend. In einem sehr besonderen Haus. 

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