Franziskaner

Pater und Philosoph

Er spielte Tennis, mochte schweres Essen, hatte Diabetes, rauchte Kette, trank gern einen guten Schluck und war Familienmensch. Als herausragenden Denker sah er sich nicht. Sein Platz in der Philosophiegeschichte ist aber wohlverdient. Denn der belgische Franziskaner Herman Leo Van Breda (1911 – 1974) rettete den Nachlass des deutschen Philosophen Edmund Husserl vor der Vernichtung durch die Nazis. Autor Toon Horsten stieß in alten Familienfotos auf ihn. Eines von einem Fest in den 1960er-Jahren zeigt seine Großmutter mit einem lachenden Pater – ein Horsten bis dahin unbekannter Verwandter. Er hört, Van Breda habe an der Universität Leuven „irgendwas mit Philosophie gemacht“. Für sein Buch Der Pater und der Philosoph sprach er mit vielen, die ihn noch persönlich kannten. Im Mittelpunkt steht die Nachlassrettung, wie es dazu kam und was dann folgte. Horsten überblendet Porträt und Zeitgeschichte, macht auch in der Philosophie Unbewanderten den Hintergrund leicht zugänglich und führt unvermutet in Begegnungen mit vielen historisch Bekannten. Die Spanne reicht von der im KZ ermordeten Nonne Edith Stein, Husserls früherer Assistentin, deren Texte Van Breda retten konnte, sie aber nicht, bis zum Wehrkreiskommandanten Reinhold von Thadden als respektablem Besatzer, der nach dem Krieg den Kirchentag gründete.

Für Van Breda begannen die sein Leben prägenden Ereignisse 1938 mit einer Reise. Der noch junge Pater will für seine Doktorarbeit unveröffentlichte Texte Edmund Husserls einsehen, der aber, wie er weiß, kurz zuvor verstorben ist. Im August steigt er in den Zug nach Freiburg: „Wie immer in einer braunen Kutte, die nackten Füße in Sandalen. Er hat keinen Termin mit einem Mitglied der Familie, nicht mal eine Adresse.“ Schlafen kann er im Franziskanerkloster von Freiburg, das mittlerweile in der Adolf-Hitler-Straße liegt. Er trifft Husserls Witwe. Und ihm ist unmittelbar klar, dass dem Nachlass des konvertierten Juden Husserl hier die Vernichtung droht. Auch sein liebster Schüler Martin Heidegger wandte sich den Braunen zu. Ein Versuch, das Konvolut beim Psychoanalytiker Ludwig Binswanger, ebenfalls Husserl-Schüler, in der Schweiz unterzubringen, scheitert. Dessen Frau teilt mit, auch sie seien für Hitler. Doch dieser Pater ist so unerschrocken wie hartnäckig und findig. Er schafft es, 40 000 Manuskriptseiten als Diplomatenpost getarnt über Belgiens Botschaft nach Leuven zu schleusen, später auch die Witwe und Husserls Bibliothek. So kam es, kurz gefasst, zum bis heute angesehenen Husserl-Archiv in Leuven – und Van Breda zu Ruhm in Philosophenkreisen.

Emmanuel Levinas charakterisierte ihn so: „Seine Güte und akademische Feinsinnigkeit manifestierten sich in diesem Lachen, in der Fröhlichkeit des zufriedenen Bauern, der weiß, dass er dem Teufel ein Schnippchen geschlagen hat.“ Nach dem Weltkrieg stand Husserls Denken im Fokus der Existentialisten – Van Bredas Leuvener Archiv ebenso. Er traf sie alle. Da lagen die schwersten Jahre schon hinter ihm: 1940 hatte Deutschland auch Belgien überfallen. Etliche der von ihm ans Archiv geholte Experten waren als Juden in Todesgefahr. Er konnte einigen helfen und organisierte Verstecke, tat aber stets nur so viel, dass er selbst nicht auffiel. Van Bredas Leidenschaften waren Gott – und Husserls Vermächtnis.

Der Pater und der Philosoph ist ein packendes Buch und die unvertraute belgische Perspektive ein Gewinn: Wir begegnen darin vielen, teils prominenten Menschen und ihren Geschichten – und dem Pater als gewieftem Netzwerker, der für Husserls Werk viel getan hat. Horsten schildert ihn als so fehlbar wie sympathisch: ein Mensch, kein Held. Einer, der gerne lachte und andere traf. Wie auf dem Foto, das am Beginn der Recherche stand. Das mit vielen weiteren Fotos ausgestattete Buch zu lesen, ist ein Erlebnis – und die für Husserls Denken zentrale „phänomenologische Reduktion“ sonst wohl nirgends so klar erklärt wie hier. Horstens artiger Dank an einen Archivmitarbeiter ist vielsagend, aber so lassen sich eben auch komplexere Aspekte begeisternd erzählen.

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