Nachfolge bedeutet Umkehren

Wir dürfen weder das Alte einfach fortschreiben noch komplett in Neuem aufgehen
Nach Berichten über den Skandal um sexualisierte Gewalt legt Bischof Franz-Josef Bode am ersten Advent 2010 im Osnabrücker Dom ein Schuldbekenntnis ab.
Foto: Bistum Osnabrück/Hermann Haarmann
Nach Berichten über den Skandal um sexualisierte Gewalt legte Bischof Franz-Josef Bode am ersten Advent 2010 im Osnabrücker Dom ein Schuldbekenntnis ab.

Umkehr ist kein Wohlfühlwort. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, sagt Hermann Hesse, aber, das Leben lehrt, auch viel Mühe. Der Blick auf die bisweilen verherrlichte Vergangenheit, etwa bei der Kirche auf die große Schar an Mitgliedern – das hilft nicht weiter. Und Umkehr ist vielleicht für Bischöfe besonders schwer, schreibt Georg Bätzing, Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz.

Heuschrecken sollen gar nicht so schlecht schmecken. Die Wüste kann ein wunderschöner Ort sein. Ein Kamelhaarkostüm könnte sicherlich, recht geschneidert, durchaus Eindruck machen. Und Haarpflege wird häufig überschätzt. Aber würden Sie wegen eines Eiferers des Typs Alt-Hippie mit langen und zotteligen Haaren und einem Gewand aus Kamelhaaren, der in der Wüste lebt und Heuschrecken isst, Ihr Leben radikal ändern? Und das, nur weil er sagt: „Kehrt um! Bekehrt euch!“? Eine große Jüngerschaft hat sich ihm angeschlossen. Und auch Jesus von Nazareth lässt sich von Johannes taufen, so die biblische Überlieferung, und er predigt dann die Botschaft des Reiches Gottes mit seinem ganzen Leben: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1, 15) So viele Menschen folgten seinem Ruf der Umkehr und gingen den Weg Jesu mit – bis zum Kreuz in Jerusalem und bis heute.

Schon an dieser Stelle ist zu sehen: Umkehr ist keine mühelose Sache, sie fordert vollen Einsatz – und sie kann tödlich enden. Das müssen wir Christinnen und Christen fast jeden Tag hören, wenn uns wieder Nachrichten von verfolgten Glaubensbrüdern und -schwestern erreichen, die um ihres Glaubens willen Verfolgung, Repressionen, Benachteiligung und Todesgefahr in Kauf nehmen.

In unseren Regionen leben wir in staatlichen Systemen mit freier Religionsausübung, aber es stellt sich die Frage: Erreichen wir unsere Zeitgenossinnen und -genossen überhaupt noch, wenn wir von Umkehr sprechen? Und was müssen wir ändern, um sie zu erreichen? Mich beschäftigt seit Längerem die wachsende Distanz zwischen Evangelium und Kultur. Verständigung ist erschwert, Übersetzungen gelingen häufig nicht. Die Impulse, die wir vom Evangelium aussenden, laufen dann ins Leere, wenn sie die Prägung der Menschen nicht wirklich ernst nehmen und dort anknüpfen.

Eine Lebenseinstellung

Es ist klar: Umkehr ist ein Grundthema der Verkündigung Jesu, darum ist sie auch Teil unseres christlichen Auftrags – und das nicht nur in der Fastenzeit. Es ist eine christliche Grundhaltung und Lebenseinstellung für jede und jeden Einzelnen und für die Kirche selbst. Als Prediger braucht es das Bewusstsein und die Botschaft: Wir sind nicht besser als die, denen wir Umkehr predigen. Die Kirche ist nicht der Erlöser, sie ist, wie das Zweite Vatikanische Konzil es formuliert, „zugleich heilig und stets reinigungsbedürftig und geht so immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“ (LG 8, Konstitution über die Kirche).

Wir sind nur „Zeichen und Werkzeug“, die auf den verweisen, der Erlösung schenkt: Jesus Christus. Wir sind aber häufig ein Zeichen, das nicht mehr alle verstehen, ein Werkzeug, das in einer durch und durch freiheitlich geprägten Gesellschaft offenbar nicht mehr so gut funktioniert. Manche empfinden unsere Angebote zum Nachdenken, den Appell zur Umkehr als anmaßend und übergriffig. Angesichts des Missbrauchsskandals, der uns seit Jahren beschäftigt und uns immer wieder neue Abgründe in unserer Kirche aufzeigt, ist das sehr verständlich. Wir haben Autorität und Glaubwürdigkeit verloren, aus eigenem Verschulden. Der Skandal sexualisierter Gewalt in unserer Kirche und ihrer Vertuschung ist neben all der Schuld, die wir auf uns geladen haben, ein Ruf zur Umkehr an die Kirche selbst. Der Blick auf die Nöte und Bedarfe der Betroffenen, das erlittene Leid muss zum Ausgangspunkt für eine schonungslose Analyse der Realität und der Strukturen werden, in denen Missbrauch überhaupt erst möglich war. Und die Perspektive ist dabei eindeutig: Die Kirche der Armen, der Ausgebeuteten, der Ausgenutzten, das ist das Ziel, das Papst Franziskus immer wieder betont und von uns einfordert. Wenn Kirche nicht für die Menschen da ist, werden wir in unserer Gesellschaft immer weniger wahrgenommen und ernst genommen werden, dann gehen wir als Kirche gegen Null.

In der Bibel und der Tradition wird immer wieder verdeutlicht, dass die Umkehr bei jedem Einzelnen beginnt. Erinnert sei an das Gespräch Jesu mit dem reichen Jüngling im 19. Kapitel des Matthäusevangeliums, der eigentlich alles richtig macht und den Geboten gemäß lebt. Jesus aber sagte zu ihm (nach der Luther-Übersetzung): „Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!“ Sind wir als Kirche stärker und weiser als der reiche junge Mann, von dem es an dieser Stelle heißt: „Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt davon; denn er hatte viele Güter“? Sich selbst ganz geben, das hat Jesus vorgelebt.

Mit weniger Macht zufrieden geben

Sind wir zu dieser radikalen Umkehr bereit – als Einzelpersonen und als Kirche –, oder würden auch wir „betrübt davon“ gehen? Gehen wir dem Ruf Gottes aus dem Weg, vielleicht mit scheinbar besten Gründen, da eine arme Kirche, so gängige Argumente, kaum der Tradition der Kirche in Deutschland entspräche und „unsere“ Kirche doch auch weltweit so viel Gutes mit ihrem Geld tut? Die Kirche der Armen, der Ausgebeuteten, der Ausgenutzten, das ist die Idee, die Papst Franziskus verfolgt. Und er hat Recht damit. Denn diese Kirche entspricht der Sehnsucht Jesu nach dem Reich Gottes. Arm bedeutet auch, sich mit weniger zufrieden zu geben, sicherlich auch mit weniger Macht. Wir brauchen den Geist und den Mut zur Umkehr, wenn wir wie beim Synodalen Weg über Macht und Gewaltenteilung in der Kirche, über eine neue Kultur von Leitung und Priestersein, über Frauen in Diensten und Ämtern heftig diskutieren. Und es geht nicht nur um Diskussionen, sondern um grundlegende Haltungsänderungen, die sich in Strukturen manifestieren. Am Ende werden wir Entscheidungen zu treffen haben, möglichst in großem Konsens.

Umkehr ist kein Wohlfühlwort. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, sagt Hermann Hesse – ja, aber ebenso viel Mühe. Der Blick in die bisweilen verherrlichte Vergangenheit, sei es die Zustände in den Pfarreien betreffend, den Einfluss der Kirche oder die große Schar an Mitgliedern – das hilft uns nicht weiter.

Biblische Bilder sind hierfür das klagende Volk in der Wüste, das sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnt, oder Lots Frau, die im Rückblick und in Trauer um ihr altes Leben erstarrt. Es ist so nachvollziehbar. Es hilft aber nicht weiter. Aber wir können gewiss sein: Auch im Aufbruch, den die Umkehr beinhaltet, dürfen wir auf den Schutz und den Segen Gottes vertrauen. Wie Paulus es im zweiten Brief an Timotheus (2. Tim 1, 7 nach der Einheitsübersetzung) gesagt hat: „Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ In diesem Sinne werden wir weiterhin den Synodalen Weg beschreiten, der uns noch viel abfordern wird, uns allen: Das gilt gleichzeitig für die Debatten über den Wert einer orientierenden Morallehre, auch hier braucht es den Geist und den Mut zur Umkehr. Kehrt um! Denkt neu!

Das Dilemma ist dabei: Wir können weder das Alte einfach fortschreiben noch komplett in Neuem aufgehen. Umkehr – vielleicht ist das sogar für uns Bischöfe besonders schwer. Denn wir verstehen uns ja in der Tradition der Jünger, die der Herr persönlich berufen hat. Das ist eine fast zweitausendjährige Linie der Tradition und eine Berufung, die einem auch mal zu Kopf steigen kann. Aber alles unter einer radikalen Umkehr wird der Wucht des auslösenden Skandals und der Dramatik der Entkirchlichung, die wir täglich erleben, nicht gerecht.

Uns kann ein wenig beruhigen, jedenfalls sollte es uns nachdenklich machen, dass wir Nachfolger einiger großer Sünder sind, die der Herr ins Apostelamt berufen hat. Alle unsere Charismen sollen wir einbringen ins kollegiale Miteinander. Und wir können gar nicht anders, als uns selbst mitzubringen. Doch die Berufung zum bischöflichen Dienst erfordert grundlegend auch – und immer und immer wieder sehr persönlich –, das hinter uns zu lassen, was gottlos, sündhaft, ungeistlich und für Gemeinschaft undienlich ist. Vor allem geht es darum, auf Christus zu hören, sich von ihm ansprechen zu lassen.

Die Begegnung mit Jesus lädt zur Umkehr ein, Nachfolge bedeutet immer neu ein Umkehren zu Jesus Christus hin. Dafürsteht die Berufungsgeschichte des Levi-Matthäus (Matthäus 9,9–13), eines Sünders; die des Paulus, des Petrus, eines Augustinusund vieler Frauen und Männer in der Kirchengeschichte. Sie legen eine Grundstruktur der Absicht Jesu offen. Jesus wählt nicht selten „Menschen mit Vergangenheit“. Wen er zu einem Auftrag in der Kirche bestellt, der soll die Erfahrung kennen, neu geschaffen und von Gott berührt zu sein.

Keine Nationalkirche

Wenn Jesus sich mit Zöllnern und Sündern umgibt und aus diesem Kreis Menschen beruft, dann ist nicht Mitleid das Motiv. Hier geht es um etwas anderes als um die Hinwendung zu den Armen und Kranken. Jesus legt den Finger in die Wunden von Unrecht, Rücksichtslosigkeit, praktischer Gottlosigkeit. Dafür steht „der Zöllner“: Unbeliebt und unglückselig kollaboriert er mit den Ausbeutern des Landes; arbeitet Seite an Seite mit den Heiden; ist gleichzeitig durch drückende Verträge geknebelt, Ausgepresster und Auspresser zugleich. Wenn Jesus einen solchen Typen in seine Nachfolge beruft, dann geschieht das nicht zuerst aus Liebe zu Randgruppen, sondern es zeigt die göttliche Macht des berufenden Jesus. Ein Wort von ihm – und Matthäus steht auf. Ein Wort – und er wird geheilt von seiner notorischen Ungerechtigkeit und Ehrlosigkeit. Ein Wort – und alles wird neu: Das kann nur Gott. Nur bei ihm ist kein Ding unmöglich.

Als Jesus Menschen mit einer solchen (Glaubens-)Biografie in den Zwölferkreis berufen hat, da hat er sehr gezielt Fundamente für seine Kirche geformt: Nur solche, die es selbst erfahren haben, begreifen vermutlich, wozu Gott in seiner erbarmenden Liebe fähig ist. Nur solche haben Augen und das nötige Gespür, wie erbarmungslos sündhafte Strukturen in der Kirche Menschen mitsamt ihrem Glauben verletzten und an Gottes Liebe zweifeln lassen. Nur solche ahnen, wie tief Gott gründen und wie viel er drangeben muss, um dem, was wir durch unsere Schuld zunichtemachen, einen schöpferischen Anfang entgegenzusetzen, der uns und viele zur Ehre und Freiheit von Kindern Gottes herausruft. Kirche ist keine Veranstaltung von Menschen mit weißer Weste für solche, die es von uns erst lernen, es kapieren und annehmen müssten, was es bedeutet, erlöst zu werden.

Das Zweite Vatikanische Konzil und die Jahrzehnte danach haben uns gelehrt, dass unsere Kirche eine Kirche der Umkehr bleiben muss, eine „semper reformanda“, eine stets zu verändernde. Es ist bleibende Herausforderung, die Geister zu unterscheiden, also zu erkennen, welcher neue Weg uns weiterbringt im Sinne des Evangeliums, also näher an das heranführt, was Jesus Christus gewirkt hat und weiter wirken will – und welcher Weg wohl in die Irre geht. Oft sieht man das erst im Nachhinein.

Aber Umkehr bedeutet eben auch, diesen Mut zur Unterscheidung aufzubringen, daraufhin zu wählen und voranzuschreiten, Schritt für Schritt. So geschieht Nachfolge lebendig.  In der weltweiten katholischen Kirche gibt es angesichts des Synodalen Weges hierzulande offenbar die Sorge, wir könnten hinsteuern auf eine in sich geschlossene Nationalkirche. Ich sage es deutlich: Ich kenne unter den Beteiligten am Synodalen Weg niemanden, der das will. Eher ist die Angst vor einer angeblichen Abspaltung der katholischen Kirche in Deutschland von der
Weltkirche, vor einem neuen Schisma im Zuge des Synodalen Weges, ein Phantom, das aufgebaut wird, um den Prozess der Umkehr, den wir hierzulande wagen, zu diskreditieren. Wir wollen und werden diesen Weg der Umkehr zusammen mit unseren Brüdern und Schwestern in der Weltkirche gehen, begleitet von den Schwestern und Brüdern in der Ökumene und selbstverständlich eng verbunden mit unserem Papst. Die Einbindung in eine weltweite Kirche und das Einheitsamt des Papstes gehören zum Schatz, der die katholische Kirche wesentlich ausmacht.

So verstehe ich auch den weltweiten Synodalen Weg, den Papst Franziskus angestoßen hat. Es ist ein großes, kluges Projekt der Erneuerung und der Umkehr. Und natürlich ist es ein geistlicher Prozess, der uns als glaubende, hoffende und liebende Menschen herausfordert.

Tief erschüttert

In der Satzung des Synodalen Weges heißt es in der Präambel: „Die katholische Kirche in Deutschland macht sich auf einen Weg der Umkehr und der Erneuerung. Wir stellen uns der schweren Krise, die unsere Kirche, insbesondere durch den Missbrauchsskandal, tief erschüttert. Wir setzen auf das große Engagement aller, die in der Kirche aktiv mitarbeiten. Als getaufte Frauen und Männer sind wir berufen, die ,Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes“ (Titus 3, 4) in Wort und Tat zu verkündigen, sodass Menschen die Frohe Botschaft in Freiheit hören und annehmen können. Wir wollen auf dem Synodalen Weg die Voraussetzungen dafür verbessern, dass wir diese Aufgabe glaubwürdig erfüllen können.“ (Satzung des Synodalen Weges 2019)

Viele wollen diesen Weg der Umkehr gehen, wollen ihn wagen und sind überzeugt davon. Und für alles erbitten wir Gottes Hilfe und das begleitende Gebet unserer getauften Geschwister anderer Konfessionen. Denn ohne dies wird Umkehr nicht gelingen.

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