Weg mit der Kanzel!

Warum eine St.Galler-Pfarrerin zur Motorsäge greift
Pfarrerin Kathrin Bolt mit Motorsäge auf der Kanzel
Foto: Uwe Habenicht
Pfarrerin Katrin Bolt mit der Motorsäge - vor der Aktion.

Ist die klassische Predigt am Ende? Die St. Galler Pfarrerin Kathrin Bolt will mit ihrer Motorsäge -Aktion neue Akzente für die religiöse Kommunikation setzen. 

Eben stand die Pfarrerin noch auf der Kanzel. Jetzt zieht sie ihren Talar aus, setzt einen Schutzhelm auf und streift eine Sicherheitshose über. Dann hört man schon die ohrenbetäubenden Geräusche der Motorsäge durch das Gemeindehaus dröhnen. Die Pfarrerin klappt das Schutzvisier herunter und stülpt die Ohrenschützer über. Sie setzt die Motorsäge an und zersägt die Kanzel, auf der nicht nur sie unzählige Predigten gehalten hat.

Was sich anhört wie eine Szene aus einem Kinofilm, spielte sich vor wenigen Wochen in einem Kirchgemeindehaus in St. Gallen ab. Pfarrerin Kathrin Bolt hat die dortige alte Kanzel zersägt. Nicht etwa aus Frust oder Enttäuschung, weil niemand mehr ihre Predigten hören will, sondern als symbolische Geste:  Die Zeiten der Predigtmonologe könnten endgültig vorbei sein. Wir sollten mehr zuhören und auf Augenhöhe Erfahrungen austauschen.Die Künstler Patrik und Frank Riklin vom St. Galler Atelier für Sonderaufgaben haben eine "Motorsägen - Challenge" ausgeschrieben. Kathrin Bolt war dafür nominiert worden und sollte nun mit einer Motorsäge ein Stück Realität aus etwas heraussägen und damit etwas Neues schaffen. Deshalb ist die Kanzelzersägung auch nur der erste Teil dieser Aktion. Aus dem Monolog-Möbel soll ein Ort des Gesprächs und des Austauschs gebaut werden: ein gemeinschaftlicher Tisch. Darum trägt die gesamte Aktion den Titel "Vom Monolog zur Tischgemeinschaft".

 

Die Kirchgemeinde Straubenzell wird an den vier Sonntag im Februar an diesem Tisch predigtfreie Gottesdienste und auch Abendmahl feiern. Wie schon vor zwei Jahren, als das Experiment mit predigtfreien Gottesdiensten begann und ein enormes Medienecho hervorrief, verzichten die vier beteiligten Pfarrerinnen und Pfarrer, Kathrin Bolt, Regula Hermann, Carl Boetschi und Uwe Habenicht, der Autor dieses Textes,  aufs Predigen. Stattdessen werden sie andere Kommunikationselemente wie Spontan - Performances, Interviews, Expertengespräche und weitere dramaturgische Elemente für die Gottesdienstfeiern einsetzen.

Denn darin sind wir vier Pfarrpersonen uns einig: Es ist an der Zeit, vielfältigere, überraschendere und vielstimmigere religiöse Kommunikationsformen zu entwickeln. Denn es steht nicht gut um die Predigt. Das Herzstück des protestantischen Gottesdienstes kränkelt vor sich hin, wahrscheinlich sogar schon ziemlich lange.  Geht es um die Predigt assoziieren die Zeitgenossen reflexartig „von oben belehrt werden“, „abkanzeln“ und „Gardinenpredigt“. 
Positive Assoziationen zu Predigt? Fallen Ihnen welche ein? Kein Wunder also, dass Sonntag für Sonntag 98 Prozent  der evangelischen Kirchenmitglieder sich lieber nicht in die Kirchenbank setzen, um Gottesdienst zu feiern und einer Predigt zu lauschen. Das ist nicht neu. Jeden Sonn- und Feiertag erleben die unerschrockenen 2 Prozent und mit ihnen Pfarrerinnen und Pfarrer das Resultat: Kirchenbänke mit noch ziemlich vielen freien Plätzen. Man muss kein besonders kritischer Geist sein, um sich zu fragen: Läuft da irgendetwas schief? Wäre es nicht an der Zeit, grundsätzlich neu anzusetzen? Vor wenigen Jahren wurde mit großem Aufwand das Reformationsjubiläum begangen. Ecclesia reformanda – an die reformatorischen Ursprünge, in denen die Kirche als sich immer wieder erneuernde Institution verstand, wurde da erinnert. Nachdem sich alle nun von den Feierlichkeiten erholt, hinreichend Traditionspflege betrieben und die Bilder der vielen Events einsortiert haben, darf man nun schon fragen: Wo bleibt die Reformation 2.0? Wann machen wir uns mutig an die Arbeit, neue Kommunikationswege zu den Menschen zu suchen?

Die Reformation des 16. Jahrhunderts war eine Predigtbewegung. Mit ihrer Konzentration auf das die Gewissen entlastende und die Selbstverantwortung stärkende Wort verhalfen die Reformatoren in Wittenberg, Zürich und Genf der Predigt zu einer bisher ungekannten Wertschätzung. Der von der Wartburg herbei eilende Luther predigte beginnend mit dem Sonntag Invokavitam 9. März 1522  eine Woche lang, um den Wittenberger Unruhen ein Ende zu bereiten. Trotz dieser eindrucksvollen Wirkung seiner Predigttätigkeit, musste sich allerdings auch Luther wenige Jahre später eingestehen, dass das Predigen allein nicht ausreicht, um Glaube und Orientierungswissen in den Herzen der Menschen zu verankern. Bei seinen Visitationen 1528 muss Luther feststellen: „Hilf, lieber Gott, wie manchen Jammer habe ich gesehen, dass der gemeine Mann doch so gar nichts weiss von der christlichen Lehre, sonderlich auf den Dörfern,  … können weder Vater Unser noch den Glauben oder Zehn Gebote, leben dahin wie das liebe Vieh und unvernünftige Säue … “ ( so Martin Luther im kleinen Katechismus) Allein das Hören von Predigten scheint demnach nicht auszureichen, um Glauben und Glaubenswissen hinreichend  zu vermitteln. Luther schrieb daraufhin seine dialogisch angelegten Katechismen.

Wäre es nun für uns nicht auch an der Zeit, uns einzugestehen, dass sich die Sonntagspredigt im 21. Jahrhundert, die sich ja in einem ganz anderen Kontext vollzieht als damals, immer weniger gelingt, Gehör zu finden?

Von Wittenberg nach St. Gallen

Im April 2019 hatte eine junge Pfarrerin aus Essen, Hanna Jacobs, sehr persönlich über ihre Zweifel und ihr Unbehagen auf der Kanzel in ihrem Zeit-Artikel "Herr Pfarrer, lassen Sie ihre Predigt stecken" berichtet.  Das Straubenzeller Pfarrteam hatte diesen Impuls zum Anlass genommen, ein vierwöchiges Predigtexperiment zu starten, um mit denen, die gern in den Gottesdienst kommen und hoffentlich auch mit denen, die eher selten kommen, über ihr Predigterleben ins Gespräch zu kommen: Was leistet die Predigt? Wann und in welchen Zusammenhängen ist sie gut und sinnvoll? Wann allerdings sind andere Formen passender, weil sie andere Kanäle und Zugänge zu den biblischen Grundlagen eröffnen? Das Gemeindeexperiment bestand zunächst in nichts anderem als in dem einfachen Verzicht auf das Predigen am Sonntag. Der dadurch entstehende Freiraum sollte nun mit anderen „Formaten“ gestaltet werden. 

Das enorme Medienecho, das auf den angekündigten  Predigtverzicht erfolgte, überraschte das Pfarrteam dann doch sehr. Denn mit Recht wiesen viele Kolleginnen und Kollegen darauf hin, dass es ja nun wirklich nichts Neues sei, auf die Predigt zugunsten anderer Verkündigungsformen zu verzichten. In Gottesdiensten wird immer mal wieder nicht gepredigt, sondern gespielt, inszeniert, meditiert, diskutiert oder geschwiegen. Und doch scheint es einen großen Unterschied zu machen, ob an einem Sonntag - von wenigen bemerkt - die Predigt durch anderes ersetzt wird, oder ob mit einem angekündigten Predigtverzicht ein Freiraum geschaffen wird, in dem nicht nur andere Formen erlebt werden können, sondern diese auch kritisch kommentiert und reflektiert werden können. Mit anderen Worten: Der Rahmen macht den Unterschied. Das zeitlich begrenzte Experiment wurde sehr bewusst als offener Dialog mit der Gemeinde über das Erleben von Predigt verstanden. Am Anfang jedes dieser predigtfreien Gottesdienste wies ein Mitglied der Kirchenvorsteherschaft auf das Besondere des Gottesdienstes hin und forderte dazu auf, am Ende das Erlebte festzuhalten. Als Symbol und Warnhinweis dafür wurde am Eingang der Kirche ein Baustellenschild und zusätzlich ein Achtungsschild mit der Aufschrift „Hier wird nicht gepredigt“ an der Kanzel aufgestellt. Ein Diskussionsabend mit Hanna Jacobs wertete das Experiment nochmals aus.

Zurück in die Gegenwart: Obwohl Pfarrerinnen und Pfarrer auf vielen Kanzeln sonntags kenntnisreich, mit viel Phantasie und Herzblut predigen, könnte es sein, dass es Kanäle und Zugänge in die Herzen der Menschen gibt, die über das vernunftmäßige Verstehen, vielleicht sogar über das, was Worte vermögen, hinausgehen. Schon die Bibel kennt ja eine Vielzahl von “Sprachen“, deren sich Gott bedient, um Menschen anzusprechen: Traum und Vision, Erscheinung und Gesicht. Und auch die Gottesboten, allen voran die Propheten, reden und sprechen ja nicht nur in wohlgesetzter Rede, vielmehr vollziehen sie Symbol- und Zeichenhandlungen, in denen und durch die Gott spricht. Kurz: Es wird Zeit, dass wir die Vielfalt der „Sprachen Gottes“ wieder entdecken und so das Sprechen Gottes wieder zum erlebbaren Ereignis machen, zum Wortgeschehen, das nicht nur den Kopf anspricht, sondern den Körper bewegt, einbezieht, zum Resonanzraum werden lässt, ins Schwingen bringt. Was der Gebetsruf „Kyrie eleison“ (Herr, erbarme dich) bedeutet wird sich mir nach einer erklärenden Predigt vielleicht viel weniger tief erschließen, als durch das Einüben eines gregorianischen Kyrie.

Im Gottesdienst feiern wir Gottes Gegenwart. Im Kopf allein lässt sich allerdings nicht gut feiern. Der restliche Körper muss auch dabei sein. Manchmal wäre es schön, wir würden Gottes Gegenwart nicht zerreden, sondern sie uns auf den Leib rücken lassen – durch Bewegung, Schweigen, Interaktion.

Vom Monolog zum Polilog - vielsprachig

Was der Bibliolog leistet, nämlich Vielstimmigkeit in einer biblischen Erzählung zu entdecken und sprachlich zu fassen, fällt der klassischen Sonntagsrede schwer. Auch wenn Predigerinnen und Prediger mit allen Kräften versuchen, von möglichst vielen verschiedenen Seiten, auf das Erzählte zu reagieren: die individuelle Perspektive, den je eigenen Tonfall und besondere Farbigkeit der vielen Stimmen kann sie dennoch nicht herstellen. Predigt bleibt in ihrer klassischen Form monologisch. Die Dialogpredigt bringt es immerhin auf zwei Perspektiven. Was wir in einer differenzierten Gesellschaft brauchen ist der Polilog: Das Sprechen der vielen. Ich wünsche mir Formen im Umgang mit der Bibel, die vielsprachig sind. Formen, in denen viele zu Wort kommen und viel Unterschiedliches zu Wort kommen darf.Von allem Anfang an ist christlicher Glaube weder lehrhaft noch doktrinär. Nicht die christliche Lehre, die richtig und falsch kennt, steht im Mittelpunkt, sondern die Begegnung mit dem lebendigen Gott. Eröffnen wir hinreichend Räume, um auf die Begegnung mit diesem Gott in seinem Wort, vielsprachig reagieren zu können?

Die Predigt hat ihren Ort vorzugsweise dort, wo es darum geht, die zwielichtigen und zweideutigen Selbst-, und Welterfahrungen im Licht der gründenden Güte Gottes zu deuten und so ins rechte Licht zu rücken. Auf diesem Feld ist und bleibt die Predigt, so glaube ich, unschlagbar, vor allem an entscheidenden Lebensübergängen.  Aber diese einer Sinnkultur angehörende Deutungsebene ist nur ein Teil unseres Lebens.

Sinn und Sinnlichkeit

Wie in einer Partnerschaft: Ein Paar, das nur miteinander spricht, ohne sich auch anders nahezukommen, wird nicht lange bei einander bleiben. Andersherum gilt ebenso: Ein Paar, das nie miteinander spricht, wird ebenso Mühe haben, dauerhaft zusammenzuleben. Darum darf man wohl sagen: Jenseits und unter der erklärenden, deutenden und sinnhaften Rede liegt eine Dimension erfahrbarer und erlebbarer Sinnlichkeit. In der gegenwärtigen Philosophie spricht man von Atmosphären und Präsenz. Die protestantische Predigt oder das, was zukünftig aus ihr werden könnte, tut gut daran, Sinn und Sinnlichkeit, Verstehen und Erleben, auf neue Weise miteinander so zu verbinden, so dass das Wort Gottes wirklich ereignen kann.

Was Martin Luther einmal in einer Predigt sagte, könnte wohl auch für die Predigt selbst gelten: „Zuletzt sehen wir, wie Christus uns zum Glauben reizt mit Worten und Werken.“ (Martin Luther zum Sonntag Estomihi in der Kirchenpostille, Bd. 1, 663)Reizung zum Glauben – nicht mehr, aber auch nicht weniger sollte religiöse Verkündigung und Kommunikation leisten. Darum werden nun Jugendliche aus der zersägten Kanzel einen Abendmahlstisch bauen. An diesem Tisch wird nicht nur Abendmahl gefeiert werden, sondern vor allem soll an diesem Tisch geredet und zugehört, interagiert und gehandelt werden. So wird es in einer Live-Performance im ersten predigtfreien Gottesdienst um das zerschnittene Tischtuch der Religion, um Sucht und Sehnsucht gehen. Schon damals war es ja der Tisch, an den Jesus die Abständigen und Randständigen einlud, ihnen zuhört und vor allem mit ihnen gemeinsam feierte.

Hätten die Nüchternen
Einmal gekostet,
Alles verließen sie,
Und setzten sich zu uns
An den Tisch der Sehnsucht,
Der nie leer wird. 
 

Novalis

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Foto. privat

Uwe Habenicht

Uwe Habenicht, reformierter Pfarrer in St. Gallen Straubenzell (Schweiz) und Autor.  Zuletzt erschien von ihm „Draussen abtauchen“. Freestyle Religion in der Natur, Echter 2022.


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