Exemplarisch

Nachwendegeschichten

Nicht genug damit, dass die Pandemie noch längst nicht bewältigt ist und die Klimakrise gar noch länger wohl Rat und Tat erfordert: Die Literatur erinnert uns daran, dass auch die deutsche Wiedervereinigung noch nicht vollendet ist. Bernhard Schlink hat das in seinem jüngsten Roman Die Enkelin anhand der Beziehung eines älteren Mannes aus (West-)Berlin zu einer jungen Ostdeutschen vorgeführt. Souverän auserzählt ist diese Geschichte; ganz anders hingegen packt der junge Autor Lukas Rietzschel ein vergleichbares Thema an. Er zeigt Momentaufnahmen, gibt knappe Einblicke in ostdeutsche Biografien in dem Buch, das ebenfalls die Geschichte seit dem Mauerbau rekapituliert und noch weiter zurückgeht. Rietzschels zweiter Roman Raumfahrer ist „ein Werk der Fiktion“, wie der 27-jährige Autor aus Sachsen vorab betont; er verarbeitet darin aber auch Aufzeichnungen Günter Kerns, des jüngeren Bruders des 1938 im sächsischen Kamenz geborenen Malers Georg Baselitz, der in den Westen ging und mit expressiven Bildern zum Kunststar wurde.

So schwankt das Buch stärker noch zwischen realer Geschichte und Erfindung, als es allein schon durch die realen Handlungsorte, zitierten historischen Fakten und Befindlichkeiten der Fall wäre – und wirkt dadurch umso nachdrücklicher. Der Autor, der schon mit seinem Debüt Mit der Faust in die Welt schlagen von 2018 Anerkennung fand, verknüpft in kurzen Kapiteln die Geschichten zweier Familien, die, so scheint es zunächst, nichts miteinander verbindet. Jan Nowak wurde zur Zeit der Wende geboren und arbeitet in einem Krankenhaus, das geschlossen werden soll. Ein älterer Patient nötigt ihn, sich mit dessen Familiengeschichte zu befassen.

Es ist die Geschichte der Brüder Hans-Georg, der spätere Maler, und Günter Kern. Während Jans eigene Geschichte auf die Gegenwart konzentriert ist, bringen die Kerns die Historie ins Spiel. Ihr Vater ist ein Kriegsversehrter, der in der jungen DDR ins Abseits gerät. Und namentlich Hans-Georg reibt sich daran, dass es nicht möglich scheint, „sich von einer Ideologie zu lösen, ohne in die nächste reinzuschlittern“. Seine frühen Bilder spiegeln die Tristesse der Nachkriegszeit; an der Ost-Berliner Kunstakademie schätzt man indes nur heroisch-positiven Realismus, weshalb er in den Westen geht. Auch der jüngere Günter will fliehen, scheitert aber – und gerät erst recht dann, als der Künstlerbruder bekannt wird, ins Visier der Stasi.

Während Günter den Boden unter den Füßen verliert, scheinen Jans Eltern auf festem Grund zu stehen. Nach der Wende ändert sich das. Die Mutter trinkt, der Vater wird arbeitslos. Und auch Jans Perspektiven sind trübe. Den alten Plattenbau hat er hinter sich gelassen. Aber wie weiter? Er sieht klar, dass die Eltern das Alte verloren haben und im Neuen nicht angekommen sind. Ähnlich ist die Situation Günter Kerns gewesen, der angesichts der empfundenen Stasi-Überwachung, für die er keine Beweise fand, drohte, paranoid zu werden. Der Titel des Buchs beschreibt alle Figuren darin, Jan aber münzt das Folgende zunächst nur auf seine Eltern: Für ihn „waren sie Raumfahrer. Schwebten in einer Zwischenwelt, ihrem Ausgangspunkt entrissen.“ Ähnlich, wenn auch anders gilt das für Baselitz, der seit seinem Weggang vor allem durch seine Bilder im Roman präsent ist. Ein „Raumfahrer“ ist der Maler auch deshalb, weil er tatsächlich eine Art Draufsicht von oben hat. Vergleichbares wäre über den Roman zu sagen.

Die Erzählkunst liegt darin, dass hier so vieles in der Schwebe bleibt, auch stilistisch: Das Buch ist jedenfalls teilweise Künstlernovelle, Stasidrama und insgesamt ein Nachwenderoman, der individuelle Figuren entwirft, die für exemplarische Erfahrungen stehen. Und das alles auf weniger als dreihundert Seiten.

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