Wahrheitsmomente auf beiden Seiten

Eine weitere Antwort auf Rochus Leonhardts Kritik an der angeblichen kirchlichen „Impffrömmigkeit“
Warteschlange anlässlich einer Corona-Impfaktion in der evangelischen St. Nikolaikirche in Bad Wilsnack/Brandenburg am 14. Dezember 2021.
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Warteschlange anlässlich einer Corona-Impfaktion in der evangelischen St. Nikolaikirche in Bad Wilsnack/Brandenburg am 14. Dezember 2021.

Gestern reagierte der Leipziger Professor für Systematische Theologie, Rochus Leonhardt, auf einen Artikel von Karl Tetzlaff, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Halle, auf zeitzeichen.net. Dies reizt Tetzlaff abermals zur Entgegnung in Sachen vermeintlicher kirchlicher „Impffrömmigkeit.

„Wo darf ich, wo muss ich eigensinnig sein, und wo verlangen es die Umstände, sich Fakten zu beugen und die Interessen anderer ernsthaft als Grenze und Ansporn eigenen Tuns zu respektieren?“ So fragen zu können, ist in den Augen des Staatsrechtlers Udo di Fabio „der Beleg dafür, dass wir in Wahrnehmung unserer Eigenverantwortung die Mitschöpfung im Blick“ zu haben fähig sind. Der bekennende Katholik verfällt hier, anlässlich eines Ende 2021 veröffentlichten FAZ-Interviews, wohl nicht zufällig in religiöse Symbolsprache. Denn seine Worte drehen sich um ein menschliches Freiheitsvermögen, das in jenen heiligen Bezirk gehört, den unser Grundgesetz als „unantastbar“ (Artikel 1) ausweist.

„Ist es nicht eine sittliche Pflicht, sich impfen zu lassen?“, fragt di Fabio weiter und lässt die Antwort offen. Ob ich mich bei diesem Thema eigensinnig verhalte oder den für die Corona-Schutzimpfung sprechenden Fakten, sowie den von dieser Entscheidung womöglich betroffenen Interessen anderer beuge, bleibt nämlich eine Frage individueller Abwägung. Jedenfalls so lange es keine Impfpflicht gibt. Selbst dann aber könnte über die hier angesprochene Dimension menschlichen Selbstseins seitens des Staates nicht letztgültig verfügt werden. Vielmehr gilt: „Die Gedanken sind frei.“ Zwangsmaßnahmen eignet deshalb ein grundsätzlich prekärer Charakter. Auf die innere Einstellung eines Menschen jedenfalls haben auch sie keinen unmittelbar-direkten Zugriff.

Vor diesem Hintergrund möchte ich Rochus Leonhardts kürzlich erneut vorgetragener Kritik an einer „moralisierenden Alternativlosigkeits-Propaganda […] in der Impfdebatte“, ganz egal ob sie von kirchlicher, politischer oder medialer Seite ausgeht, noch einmal ausdrücklich zustimmen. Wo mit Druck auf bestimmte Entscheidungen hingearbeitet wird, begrenzt man nicht nur den für alle offenen Freiraum eines individuellen Abwägens nach bestem Wissen und Gewissen. Auch verringert sich dadurch die Impfbereitschaft eher noch, weil man so trotzigen Haltungen nach dem Motto „Jetzt erst recht!“ Vorschub leistet. Was aber ist die Alternative?

„Dünnes Eis für Theologen“

In seiner Replik auf meinen Beitrag vom Anfang der Woche unterstreicht Leonhardt noch einmal, dass, mit di Fabios obigen Worten gesprochen, beim Impfthema keine „Interessen anderer“ berührt sind, die man „ernsthaft als Grenze und Ansporn eigenen Tuns zu respektieren“ hätte. Forderungen, sich den das Gegenteil behauptenden „Fakten zu beugen“, weist er ab. Vielmehr seien hier „‚Alternativlosigkeitsalternativen‘ greifbar: Sachargumente sowohl gegen die Überfüllungshypothese als auch gegen die das Nächstenliebe-Argument tragende Fremdschutz-Theorie“. Die Impfung dient also, mehr lässt sich in seinen Augen nicht sicher sagen, einzig dem je eigenen Schutz gegen schwere Krankheitsverläufe, steht aber in keinem eindeutig belegbaren Zusammenhang mit einer darüber hinausgehenden, sozialen Verantwortungsdimension. Ohnehin seien hier „gesundheitspolitische (oder auch: medizinstatistische) Frage[n]“ angesprochen, die „dünnes Eis für Theologen“ darstellten.

Letzteres räume ich gern ein. Es gilt allerdings ebenso für Leonhardts Einlassungen zum Thema, die auch nicht vor dem Einbruch ins kalte Wasser der Realität sicher sind. Sie beziehen ihre argumentative Kraft, so scheint mir, vor allem aus der Gewissheit, dass es in der Vergangenheit keine Überlastung der Krankenhaus- beziehungsweise Intensivkapazitäten durch Corona-Infizierte gegeben habe. Sollte sich dieser Eindruck in 2020/2021 dennoch eingestellt haben, dann sei dies entweder auf eine veränderte statistische Erhebungsmethode oder auf die Ökonomisierung des Gesundheitssektors, nicht aber auf die Infektionslage selbst zurückzuführen.

Hier bleibt mir nur, auf die Wortmeldungen etwa des Intensivmediziners Uwe Janssens aus dem letztjährigen Herbst zu erinnern, der seine damaligen Warnungen vor einer sich abzeichnenden „dramatischen Überlastung der Krankenhäuser“ übrigens ebenfalls mit dem Hinweis verbunden hat, dass „dringend etwas für den gesamten Pflegeberuf […] getan werden“ müsse. Das will ich gar nicht bezweifeln – allein: Eine deutliche Lageverbesserung im Gesundheitssektor ist offensichtlich ein langwieriger politischer Prozess, während die Corona-Pandemie in der Gegenwart stattfindet.

„Alternativlosigkeitsalternativen“ mit Ungewissheit behaftet

Dass sich durch eine Erhöhung der Impfquote die Zahl schwerer Krankheitsverläufe deutlich verringert, scheint mir angesichts der vergangenen und aktuellen Hospitalisierungszahlen, wie sie etwa die Deutsche Krankenhausgesellschaft auflistet, nicht von der Hand zu weisen zu sein. Ob neuerliche Überlastungsszenarien, wie etwa auch im Winter 2020/21 eintreten, ist freilich eine prognostische Frage, die sich durch das mögliche Aufkommen neuer Virusvarianten weiter verschärfen könnte. Lassen sich daraus auch keine Alternativlosigkeiten ableiten: Leonhardts mit starker Entschiedenheit vorgetragene „Alternativlosigkeitsalternativen“ sind aus meiner Sicht mit Ungewissheiten behaftet, die eine ethische Analyse stärker ins Kalkül zu ziehen hätte, als es bei ihm der Fall ist.

Dies führt mich zu jener Spannung in Leonhardts Kritik der „evangelischen Impffrömmigkeit“, die ich in meiner ersten Reaktion auf seine Ausführungen herausgearbeitet hatte. Dass seiner Forderung nach einer maßvollen Distanz kirchlicher Wortmeldungen zu politischen Positionen „‚quietistische Züge‘ und ein ‚Hang zum Übermaß‘“ eignen sollen, sieht er nicht. Seine ursprüngliche Formulierung hat er nun insoweit konkretisiert, dass „insbesondere dann“, wenn „politische[] Orientierungen […] mit moralischem Druck propagiert und mit dem Gestus der Alternativlosigkeit vorgetragen werden“, eine „kirchlich-theologische Kritik an staatlichem Handeln“ legitim und geboten sei. Das ist ein wichtiger Hinweis, denn er liefert das bislang implizit gebliebene Kriterium dafür nach, unter welchen Umständen die „kritische Solidarität, durch die evangelische Christen dem Staat des Grundgesetzes verbunden sind“, ihre kritische Seite betonen sollte.

Allerdings bleibt aus meiner Sicht weiterhin unklar, welcher Status seinen eigenen, eminent politischen Stellungnahmen vor diesem Hintergrund zukommt. Sie mögen nicht der – allerdings uneindeutigen – Regierungslinie entsprechen, zeigen aber eine starke Affinität zu Positionen, wie sie zum Beispiel in Teilen der FDP-Bundestagsfraktion und in Publikationsorganen des Springer-Konzerns vertreten werden. Wer als Kirchenvertreter einen Zusammenhang zwischen Impfbereitschaft und Solidarität beziehungsweise Nächstenliebe behauptet, spricht nach Leonhardt im moralistischen „Gestus der Alternativlosigkeit“ und verliert die für Christinnen und Christen gebotene Distanz zum Staat. In diesem Fall ist – tendenziell quietistische und übermäßige – Enthaltsamkeit gegenüber politischen Orientierungen angezeigt, nicht aber, wenn es darum geht, diesen Zusammenhang, wie es sein Gedankengang nahelegt, zugunsten der willentlich Ungeimpften zu bestreiten. Nur so werden evangelische Christinnen und Christen laut Leonhardt dem ihnen abgeforderten kritisch-solidarischen Verhältnis zum Staat im Rahmen der Impfdebatte gerecht. Seine Ausführungen erzeugen damit ebenfalls einen Eindruck von Alternativlosigkeit und scheinen im Namen einer höheren christlichen Moral formuliert zu sein, in deren Lichte identifizierbare politische Orientierungen anderen vorzuziehen sind.

„Vielschichtig und uneindeutig“

Diese Spannung zwischen Distanzforderung auf der einen und Distanzlosigkeit auf der anderen Seite, stellt nach meiner Lesart einen blinden Fleck in Leonhardts Argumentation dar. Sie sich bewusst zu machen, bedeutete erstens, sich die eigene Verwobenheit in die politischen Debattenzusammenhänge und Lagerbildungen einzugestehen und dies nicht nur bei anderen zu monieren. Wenn die kirchlich-theologische Sicht auf das Impfthema zweitens aber mehr sein soll, als nur eine Wiederholung dessen, was in den verschiedenen Lagern „ohnehin gedacht und gemeint wird“ (Niklas Luhmann), dann wäre aus meiner Sicht ein Perspektivwechsel angesagt.

Dieser könnte von Leonhardts eigener Feststellung ausgehen: „wie vielschichtig und uneindeutig die Debattenlage in Sachen Corona ist“. Im Blick auf das Impfthema hieße das, sowohl aufseiten der ihre eigensinnige Perspektive verteidigenden Skeptiker als auch aufseiten derer, die aus den verfügbaren „Fakten“ schließen, dass hier „die Interessen anderer ernsthaft als Grenze und Ansporn eigenen Tuns zu respektieren“ sind, Wahrheitsmomente zu entdecken. Es hieße eher Fragen zu stellen und Fragwürdigkeiten aufzuzeigen, um die individuelle Gewissenhaftigkeit zu fördern. Das Ausformulieren eindeutiger Antworten, bei diesem spannungsvollen Thema schwierig genug, kann man getrost den politischen Entscheidungsgremien überlassen. Dazu hat die Kirche kein Mandat und das ist – um Gottes willen – auch gut so.

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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