Frieden durch Krieg?

Überlegungen zum sogenannten ,Gerechten Krieg‘ anlässlich des Überfalls auf die Ukraine
Ukrainische Soldaten gehen vor Artilleriebeschuss in Deckung, Irpin bei Kiew am 13. März 2022.
Foto: picture-alliance
Ukrainische Soldaten gehen vor Artilleriebeschuss in Deckung, Irpin bei Kiew am 13. März 2022.

Darf man sich als Christ an einem Krieg beteiligen? Die Lehre vom „gerechten Krieg“ versucht, ‚gerechte‘ und ‚ungerechte‘ Kriege zu unterscheiden, an den einen darf man sich beteiligen, an den anderen nicht. Aktuelle Gedanken des Theologen Uwe Gerrens, Studienleiter an der Evangelischen Stadtakademie Düsseldorf.

Die Lehre vom gerechten Krieg älter als das Christentum. Die wichtigste vorchristliche Quelle, Ciceros „De re publica“, ist aber leider unvollständig überliefert, so dass unterschiedlich ausdeutbar ist, was Cicero hätte gemeint haben können. Was die christliche Tradition angeht, gilt folgendes: Solange die Christ:innen (in der frühen Christenheit) eine Minderheit waren, erschien es ihnen unter Berufung auf die Bergpredigt völlig ausgeschlossen, sich an der Tötung eines Menschen irgendwie zu beteiligen.

Das änderte sich mit der „Konstantinischen Wende“, als die Christen zur Mehrheit im Staat wurden und Regierungsämter übernahmen, die Männer unter ihnen beispielsweise Soldaten oder Richter wurden, und diese neuen Aufgaben von Augustin und anderen auch mit Hilfe der vorchristlichen Lehre vom gerechten Krieg ins Christentum integriert wurden. Etwa um 420 wurde sie zu einer detaillierten kirchlichen Theorie ausgebaut. Um 1140 wurde sie in das Decretum Gratiani aufgenommen und damit Teil des kanonischen Rechts. Deshalb haben sich ihr auch praktisch alle mittelalterlichen Scholastiker (nicht nur Thomas von Aquin) angeschlossen.

Auch die Reformation hat sie nicht angetastet; sowohl das Augsburger Bekenntnis von 1530 als auch Luther und Calvin setzten ihre Gültigkeit voraus. Wenig bekannt: Auch Luther schloss sich ihr in seiner Schrift „Ob Kriegsleute seligen Standes sein können“ an. Zitiert werden meist diejenigen Passagen, in denen Luther es Christen zugestand, Soldaten werden zu können. Weggelassen werden meist diejenigen Passagen, in denen er Präventiv-, Angriffs- und Religionskriege für unzulässig erklärte und dafür die Kriegsdienstverweigerung empfahl (offensichtlich haben sich die Soldaten, damals bezahlte Söldner, nicht daran gehalten; es wäre ihnen auch schlecht bekommen).

Klassische Lehre mit fünf Voraussetzungen

Mindestens ebenso wichtig wie die Frage, ob ein Krieg überhaupt geführt werden darf („ius ad bellum“), wurde seit dem 16. Jahrhundert die Frage, welche Mittel im Krieg eingesetzt werden dürfen („ius in bellum“). Das „ius in bellum“ gewann als Kriegsvölkerrecht gegenüber dem „ius ad bellum“ an Bedeutung. Insbesondere im Absolutismus und im 19. Jahrhundert glaubten viele Völkerrechtler, ein Angriffskrieg sei schon dann legitim, wenn der Monarch eine Kriegserklärung ordnungsgemäß unterzeichnet habe. Ganz wohl dabei war ihnen dabei allerdings nicht, weshalb Angriffskriege sicherheitshalber auch noch damit begründet wurden, dass die jeweils andere Seite angefangen habe.

Die klassische Lehre, wie sie im 16. Jahrhundert entwickelt worden ist, kennt fünf Voraussetzungen, damit ein Krieg überhaupt begonnen werden darf („ius ad bellum“):

Erstens: Legitime Autorität („legitima auctoritas“). Nicht jeder Mensch, der sich bedroht fühlt, darf einen Verteidigungskrieg führen (klassisch: keine Selbstjustiz, auch nicht gegen Mörderbanden; modern: international nicht anerkannte Bürgerkriegsparteien sind illegitim). Klassischer Weise überlässt man es der ‚Obrigkeit‘, ihre Untertanen – notfalls mit Gewalt – zu schützen. Die Blutfehde, wie sie unter mittelalterlichen Rittern üblich war, sollte mit dem 1495 ausgerufenen „ewigen Reichsfrieden“ ausgeschlossen werden. Dazu musste die ‚Obrigkeit‘ dazu legitimiert werden, gegen Reichsritter, die Angriffskriege vorbereitet hatten, vorzugehen. Das gelang zunächst nur sehr lückenhaft oder auch gar nicht. – In gewisser Hinsicht kann man das mit den Vereinten Nationen heute vergleichen. Als legitim gelten heute vielfach nicht nur die Verteidigung des eigenen Landes, sondern unter gewissen Bedingungen auch internationale Einsätze, „friedenserhaltende“ oder „friedenschaffende“ sogenannte „Maßnahmen“, out-of-area-„Einsätze“, „Operationen“, „Missionen“ oder welch anderen Begriff man bevorzugt. Die Legitimierung leitet sich von einem „Mandat“ der Vereinten Nationen ab, das vom UNO-Sicherheitsrat stammt (ob ersatzweise, wie im Kosovo-Krieg, auch ein NATO-Mandat herhalten darf, ist ein Nebenproblem).

Zweitens: Vorliegen eines Kriegsgrundes („iusta causa“). Klassisch kann bei zwei Kriegsgegnern nur eine Seite einen objektiv zutreffenden Kriegsgrund haben, die andere nicht. In der Praxis sind die Situationen oft unübersichtlich; beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges diskutiert die Geschichtsschreibung bis heute, wer eigentlich angefangen hat. Bei fast jedem Kriegsausbruch werfen sich beide Kriegsparteien gegenseitig vor, die jeweils andere Seite habe angefangen. Beide Seiten suchen und finden Völkerrechtler:innen, die ihre eigene Position stützen.

Angeblicher Präventivkrieg 2003

Beim zweiten Irakkrieg 2003 haben westliche Geheimdienste fälschlich verbreitet, Saddam Hussein produziere Massenvernichtungsmittel, worauf die beteiligte westliche Allianz nur reagiert habe (angeblicher Präventivkrieg). Hitler behauptete am 1.9.1939 wahrheitswidrig, Polen habe angefangen („Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.“). Putin erklärt jetzt die ukrainische Regierung zu einer „Bande von Drogenabhängigen und Neonazis, die das gesamte ukrainische Volk als Geisel genommen hat“. In all diesen Fällen fragt man sich, wer darüber entscheidet, was ein legitimer Kriegsgrund ist und was nicht. Wer lügt, und wer sagt die Wahrheit? Als einfache Menschen können wir uns irren; Monarchen, Präsidenten, ‚Führer‘ oder militärische Oberbefehlshaber irren sich allerdings auch und als „vernunftbegabte Wesen“ (Kant) dürfen eigentlich alle mitreden. Insofern gilt

drittens: Es ist eine gerechte Absicht („recta intentio“) der Kriegführenden notwendig. Es ist nicht zulässig, einen Krieg zu führen, um sich fremdes Territorium anzueignen, Reichtümer auszubeuten oder Bodenschätze (aktuell zum Beispiel Öl) in Besitz zu nehmen. Ziel muss die Wiederherstellung des vorherigen Zustandes sein.

Viertens: Es muss sich um das letzte Mittel („ultima ratio“) zur Wiederherstellung des Rechtes handeln. Solange andere Mittel nicht ausgeschöpft sind (zum Beispiel Verhandlungen, Wirtschaftssanktionen) darf ein Krieg nicht begonnen werden.

Fünftens: Es muss die Aussicht auf einen Frieden mit dem Kriegsgegner bestehen („iustus finis“). Dieser Frieden sollte das Ziel sein. Wenn der nicht zumindest angepeilt werden kann, sollte man sich als Angegriffener nicht am Krieg beteiligen (sondern zum Beispiel kapitulieren).

Nun zum „Recht im Krieg“ („ius in bellum“). Diesbezüglich hat man schon im 16. Jahrhundert zwei Kriterien entwickelt:

Erstens: Verhältnismäßigkeit („proportionalitas“) der angewandten Mittel. Ziel ist es nicht, dem Kriegsgegner maximal zu schaden. Gefordert wird vielmehr die verhältnismäßige Reaktion auf die Aggression der anderen Seite. Auf diese Weise sollen Eskalationsspiralen verhindert werden. Die Verteidigung darf nicht kaputtmachen, was verteidigt werden soll. Meiner Überzeugung nach genügt insbesondere der Einsatz sogenannter strategischer Atomwaffen‘ (richtiger: Massenvernichtungsmittel) dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht. Ein Nebenproblem ist die Frage, inwiefern man mit Waffen drohen kann, die man nicht einsetzen will; ein weiteres Nebenproblem ist der Einsatz sogenannter taktischer Atomwaffen, die den Krieg angeblich lokal eingrenzen.

Zweitens: Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten (heute: Diskriminierungsgebot): Gegner ist die kämpfende Truppe, nicht die Zivilisten: Zivilisten sind während der Kampfhandlungen zu schonen (heute: Immunitätsprinzip). Prinzipiell ist diese Unterscheidung bis heute gültig. Gleichwohl erscheint mir die Bereitschaft, die Tötung von Zivilisten als angeblichen Kollateralschaden billigend in Kauf zu nehmen, skandalös groß. Besonders deutlich wird das bei der Entwicklung sogenannter taktischer Atomwaffen, die ‚Kollateralschäden‘ von vornherein einplanen.

Die Haager Kriegsordnungen haben die aus dem 16. Jahrhundert stammenden Regeln des „ius in bello“ ausgebaut und spezifiziert; neu ist darüber hinaus der Status der Kriegsgefangenen.  

Desaströse Form der Anwendung

Insgesamt ist die Lehre vom gerechten Krieg sehr viel besser als ihr Ruf. Sie macht aus der Gewaltlosigkeit kein absolutes Prinzip, rechnet in realistischer Weise damit, dass es ganz ohne Gewalt nicht geht, grenzt aber die Gewaltanwendung sehr stark ein. Verheerend ist weniger die Lehre an sich als vielmehr die desaströse Form, in der sie immer wieder falsch angewandt und zur Kriegsrechtfertigung benutzt wurde. Nach wie vor aber bietet sie einen Kriterienkatalog, an dem man sich für eine eigene Beurteilung eines jeden Krieges entlanghangeln kann. Man muss nicht jedes Detail übernehmen. Dennoch sollte deutlich werden: Fast alle bisher geführten Kriege genügen diesen Kriterien nicht, sind also, aller gegenteiligen Rhetorik zum Trotz, ungerechte Kriege.

Halt, fast alle! Der aktuelle Krieg in der Ukraine scheint die Ausnahme von der Regel zu sein: Die Ukraine besitzt eine international (sogar von Russland!) anerkannte Regierung („legitimas potestas“); die andere Seite hat angefangen („iusta causa“), die angegriffene Seite beabsichtigt nicht, russische Territorien zu erobern („recta intentio“); nachdem die russischen Soldaten vorrückten, waren alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft („ultima ratio“); die Wiederherstellung des Zustandes vor Beginn des Krieges ist das erklärte Ziel („iustus finis“). Der Fall ist also selten so eindeutig und klar wie hier.

Gleichzeitig ist allerdings eine andere Überzeugung vernünftig denkender Menschen möglich, weshalb die Ukraine Männern im wehrfähigen Alter ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung einräumen sollte (was bisher nicht der Fall ist!). Und: Sollten russische Zivilisten umgebracht werden oder von ukrainischer Seite unverhältnismäßig schwere Maßnahmen ergriffen werden, sollte das auch von den deutschen Kirchen kritisch angesprochen werden. Doch sind bisher wesentliche Verletzungen des Kriegsvölkerrechtes von ukrainischer Seite nicht bekannt geworden (zumindest mir nicht – wahrscheinlich gibt es sie auch nicht oder allenfalls in sehr geringem Ausmaß).

Schwierige Frage der Verhältnismäßigkeit

Der in den meisten Kriegen schwierigste Punkt ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Wenn die Kriegsmaschinerie einmal angelaufen ist, ist sie allen Erfahrungen nach kaum noch zu stoppen und entfaltet ihre Eigendynamik ohne Rücksicht auf Verluste. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Fall auch im Ukraine-Krieg eintritt. Dennoch: Zurzeit (Stand 14.3.2022) ist das (noch) nicht der Fall. Die Ukraine verteidigt sich in einem „gerechten Krieg“. Russland hingegen führt einen „ungerechten Krieg“.

Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Matthäus 5,9), heißt es in der Bergpredigt. Weil „Frieden stiften“ in der lateinischen Bibelübersetzung „pacem facere“ heißt, werden diejenigen, die aufgrund eines wörtlichen Verständnisses der Bergpredigt für unbedingte Gewaltlosigkeit eintreten, „Pazifisten“ genannt oder beschimpft. Im Mittelalter wurde von Mönchen und Nonnen, auch von katholischen Priestern ein Verzicht auf Selbstverteidigung verlangt (die Aussetzung der Wehrpflicht für katholische Priester und – aus Gründen der Gleichbehandlung – ordinierte evangelische Pfarrer ist ein Reflex darauf).

In der Folge der Reformationszeit entstanden eine Reihe Friedenskirchen (Mennoniten, Hutter, Amische, Quäker), eine pazifistische Tradition, die man auch von Seiten des „main-line“-Protestantismus würdigen sollte. Ohne die Infragestellung von Seiten der historischen Friedenskirchen wäre der deutsche (auch der nordamerikanische) Protestantismus noch weitaus militaristischer geworden. Gut, dass es sie gibt. Dennoch sollte man aus der Gewaltlosigkeit kein um jeden Fall einzuhaltendes Prinzip machen, das ohne Rücksicht auf Verluste um jeden Preis einzuhalten wäre. In sehr besonderen und sehr seltenen Situationen kann der Frieden auch wiederhergestellt werden, indem man Krieg führt. Und darum bemüht sich zurzeit die Ukraine.

 

Nützlicher Link:
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerechter_Krieg

Literaturtipp:
Wolfgang Huber/ Hans-Richard Reuter: Friedensethik. Stuttgart 1990.

(Eine leicht veränderte Fassung des Beitrags erschien bereits am 1. März auf dem Blog Himmelsleiter)

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: privat

Uwe Gerrens

Dr. Uwe Gerrens ist evangelischer Pfarrer und Master of Religious Studies (Philadelphia). Seit 2005 ist Studienleiter der Evangelischen Stadtakademie Düsseldorf. Seine Schwerpunkte sind: Medizinethik, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, interreligiöser Dialog.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Politik"