Lebenszuversicht

Religiöse Rede in der Pandemie

Immer wieder ist in den vergangenen zwei Jahren beklagt worden, dass in dieser Pandemie die Kirchen sich zu defensiv verhalten hätten und von Seiten der Theologie kaum etwas zu hören sei. Hier ist nun jedoch ein in essayistischer Form gehaltener Text anzuzeigen, mit dem eine Bibelwissenschaftlerin (Dorothea Erbele-Küster), ein Interkultureller (Volker Küster) und ein Systematischer Theologe (Michael Roth), alle drei zur Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gehörig, auf die gegenwärtige pandemische Situation reagieren. Sie tun dies, indem sie zugleich ein anderes Verständnis von Theologie in Vorschlag bringen.

Sie wollen nicht im Ausgang von exegetischen Befunden und dogmatischen Positionen zur Pandemie und der durch sie ausgelösten globalen Krise Stellung nehmen. Sie beanspruchen nicht, der Epidemiologie ihre Deutungskompetenz und der Politik ihre dem Lebensschutz verpflichtete Handlungskompetenz streitig zu machen. Sie stellen sich vielmehr selbst mitten hinein in die pandemische Situation und lassen sich vom Virus und seinen global sich verbreitenden Mutationen infizieren.

Die Theologie, die sich von der Pandemie infizieren, einfärben, beschmutzen (entsprechend der Wortbedeutung von lateinisch infecere) lässt, entsteht aus Leidensgeschichten der Betroffenen. Es ist eine in Erfahrungen situierte, kontextgebundene Theologie. Eine Theologie leibgebundener Menschen, die mit ihrem Körper der Natur nicht souverän gegenüberstehen, sondern wissen, dass sie zu ihr gehören, von ihr abhängig sind, in der kreativen Lebensbewegung ebenso wie jetzt in dieser durch das Virus ausgelösten Gefährdung.

Hier kommt der interkulturelle Theologe ins Spiel, indem er die soziale Situiertheit und Kontextbezogenheit des doing theology herausarbeitet. Theologie zu treiben heißt für ihn, in einen permanenten hermeneutischen Prozess einzutreten, der sich im Spannungsfeld zwischen Text und Kontext bewegt.

Dabei kann es nach der südkoreanischen Theologin Chung Hyun-Kyung sein, dass wir der Text sind und die Bibel mit der Tradition und der christlichen Kirche zum Kontext wird. Die Menschen, die ihr Handeln, Erleben und Erleiden mit Gott in Verbindung bringen, sind das Subjekt dieser kontextuellen Theologie. Sobald sie anfangen, Theologie zu treiben, sind sie der Krise nicht mehr nur ausgesetzt. Sie sind nicht nur die vom Virus Infizierten, sondern entwickeln Immunreaktionen, mit denen ihnen die Kraft zum Widerstand und zur Befreiung aus der Krise zuwächst.

Die Bibelwissenschaftlerin zeigt unter Bezugnahme auf viele Texte vor allem der hebräischen Bibel, dass auch diese Texte nur in ihrem Kontext zu verstehen sind. Dann tritt hervor, wie auch sie auf elementare Krisenerfahrungen reagieren. Ebenso, dass sie Menschen in den schwierigen Geschichten ihres Lebens dazu verholfen haben, ihrer Verzweiflung in der Klage Ausdruck zu geben. Diese Texte bringen Menschen zu ihrer Situation auf Distanz, befähigen zu deren Deutung, verhelfen so zu gesteigerter Resilienz.

Auf die große Nähe, in der dieses kontextuelle und situative Theologieverständnis zu Martin Luthers Auffassung vom christlichen Glauben steht, weist schließlich der Systematische Theologe hin. Luther folgend bindet die Rede von Gott sich an den Lebensvollzug des Glaubens, der ein Akt des Vertrauens ist. Indem die Theologie die Subjektivität der Glaubenden stark macht, kann sie in Krisenerfahrungen eine Hilfe sein. Nicht indem sie behauptet, den Willen Gottes zu kennen, sondern indem sie dunkler Erfahrung zum Trotz zu einer vom Vertrauen auf Gott getragenen Lebenszuversicht ermutigt.

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Foto: Humboldt-Universität zu Berlin

Wilhelm Gräb

Wilhelm Gräb ist Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.


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