Der Kredit der Distanzierten

Seit einem halben Jahrhundert befragt die Evangelische Kirche in Deutschland ihre Mitglieder
Kirche offen
Foto: epd

Vor fünfzig Jahren starteten die Befragungen zur ersten repräsentativen Mitgliederbefragung der EKD. Das war 1972 etwas völlig Neues.  Mittlerweile ist die sechste der sogenannten Kirchen­mitgliedschaftsuntersuchungen in Arbeit. Damit wurde ein weltweit einmaliges  Analyseprojekt einer religiösen Organisation geschaffen. Der Theologe und Soziologe Gerhard Wegner, langjähriger Leiter des  Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, erinnert an die Anfänge und gibt einen Ausblick auf die Entwicklung.

Soll man das, was am Anfang stand, als eine Disruption bezeichnen? Entstanden in Reaktion auf einen rasanten Anstieg der Austrittszahlen nach 1968 entfaltete die Kirche in der Konzeption dieser Studie ein neues Selbstverständnis. Ausgegangen wurde ausdrücklich nicht mehr von der „Selbstdefinition der Kirche im Sinne einer theologischen Wesensbestimmung, sondern danach gefragt, wie die Kirche durch ihre Mitglieder definiert wird.“ Ihr Bestand sei dann gesichert, wenn die Mitglieder „bewusst bestimmte Motive mit ihrer Mitgliedschaft verbinden, denen die Kirche auch entspricht“, wie es im Klappentext der 1972 begonnenen und dann 1974 veröffentlichten Studie „Wie stabil ist die Kirche?“ treffend heißt. Erfülle sie die Erwartungen ihrer Mitglieder nicht, so gefährde sie ihre Basis. Für eine Kirche ein wahrhaft erstaunlicher Satz, der auch nicht ohne Widerspruch blieb.

Flankiert wurden die Überlegungen für eine solche säkulare Studie durch einen Beitrag des damals neuen Sterns am Soziologenhimmel: Niklas Luhmann. Ebenfalls im Jahr 1972 veröffentlichte er einen epochemachenden Aufsatz über die „Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen“, in dem die Möglichkeit der Verknüpfung von Mitgliederinteressen und kirchlichem „Programm“ diskutiert wurde. Seine These war: Die Kirche müsse den religiösen Charakter von Eintritts- und Austrittsbereitschaften unabhängig von einer vorhandenen Dogmatik ermitteln und ihren Angebotsentwicklungen zugrunde legen. Was es dafür bräuchte, wäre „eine programmatische Anleitung zur Erzeugung religiös bestimmten Erlebens und Handelns“. Luhmann war allerdings skeptisch, ob das angesichts der christlich-dogmatischen Bindung der Kirche überhaupt klappen könnte. Aber der Stachel saß.

Kampf gegen Kapitalismus

Man erwartete, in der Befragung vor allem mit der Kritik der eigenen Mitglieder konfrontiert zu werden. Viele hofften, dass sich so eine grundlegende Reform der Kirche legitimieren ließe. Das Spektrum der Vorschläge reichte von eher technokratischen Entwürfen einer geplanten Angebotsentwicklung in ausgebauten übergemeindlichen Diensten, von Team­pfarrämtern und Gemeinwesenorientierung, bis hin zu betont messianisch-charismatischen Konzepten in der Richtung eines Jürgen Moltmann oder Helmut Gollwitzer, die die Kirche als „Vortrupp des Lebens“ in dem Kampf gegen den Kapitalismus sahen. Die ökumenische Diskussion um eine „missionarische Struktur der Kirchengemeinde“ schwappte schon lange in diese Debatten, insofern sie gegen ortsgemeindlichen „morphologischen Fundamentalismus“ und entsprechende „häretische Strukturen“ argumentierte. Was es auf jeden Fall brauchte, da war man weitgehend einig, war eine bewusst christliche Mitgliedschaft.

Aber dann kamen die Ergebnisse der Mitgliederbefragung. Es war, als würden die Befragten zurückfragen: Was projiziert ihr Theologen denn da alles? Ein Interesse an einer grundlegenden Reform der Kirche gab es nicht: Sie erwies sich als stabil. „Überspitzt ausgedrückt ist tatsächlich die Mehrheit der Evangelischen der Meinung, die Kirche sollte mehr Kirche sein, und zwar im vertrauten, traditionellen Sinn.“ Der Spielraum für Reformen sei folglich erheblich begrenzter, als die Leitungsgremien gedacht hatten. „Man will die alte, die vertraute Kirche, die verständlich predigt, den Einzelnen in seinen existenziellen Problemen beisteht und für die Hilflosen sorgt. Man will diese ‚alte‘ Kirche deutlicher und aktiver als bisher.“ Deutlich wurde die mehrheitliche Mentalität „zugeschriebener“ Mitgliedschaft, die habituell übernommen wird. Viele Theoloen schlugen die Hände über dem Kopf zusammen: häretische Strukturen also, wohin man auch blickte. Man traf auf eine nach wie vor am Ort und biografisch bestens eingebettete Institution, der anzugehören der Norm entsprach.

Diese Stabilität wurde – und das war verblüffend – in der Masse nicht durch Kirchenmitglieder, die ihre Kirchenmitgliedschaft bewusst und aktiv partizipierend betrieben, gesichert. Sondern ganz im Gegenteil durch jene, die sich am alltäglichen Kirchenleben gerade nicht beteiligten. Dabei ging es – und es geht bis heute – um eine breite Mehrheit. Niklas Luhmann unterstellte ihnen freundlicherweise immerhin „generalisierte Erwartungen“ an die Kirche. Den „offiziellen“ Anforderungen des „Systems Kirche“ entsprachen sie jedoch nicht. Man fühlt sich verbunden, aber praktizierte keine Verbindung und wies gerade so damals jeden Gedanken an einen Austritt zurück. „Viele sind in der Kirche, weil Kirche nach wie vor zuständig ist für Christentum und Religion. Aber darüber hinaus wissen sie nicht viel zu sagen.“

Aufwertung sozialer Bedürfnisse

Allerdings gab es etwas, das den Kern der Stabilität markierte: anlassbezogene Rituale (Taufen, Trauungen, Beerdigungen – auch Konfirmationen), die von den distanzierten Mitgliedern wertgeschätzt wurden. Diese Angebote seien sehr viel attraktiver als der Sonntagsgottesdienst und beschrieben faktisch die größte Gemeinsamkeit aller Evangelischen. Hier kommt es zur sinnfälligen Verknüpfung von lebensgeschichtlichen und sozialen Bedürfnissen der Mitglieder und den Erwartungen der Kirche. Ihre Bedeutung muss folglich „unter allen denkbaren Gesichtspunkten“ neu eingeschätzt, sprich: aufgewertet werden. Denn gegenüber der Pflege bewusster, aktiv partizipierender Mitgliedschaft galten sie damals nicht allzu viel. Nicht wenige Kirchenleute hatten deswegen auch gar nichts dagegen, wenn diese Leute die Kirche verließen: „Gesundschrumpfen“ wurde das getauft. Aber nun wird andersherum argumentiert: Die Wertschätzung der Amtshandlungen durch die distanzierten Mitglieder belege, „dass es Entsprechungen von Bedürfnis und kirchlichem Angebot gibt, ja, dass solche möglichen Entsprechungen sich … neu ergeben können.“ Das Organisationsmodell hatte sich bewährt.

Und so wurde die „Emanzipation“ dieser Mitglieder ausgerufen. Schließlich wiesen sie ein eigenes Beteiligungsmodell auf, das zwar nicht auf den Gottesdienst hinführe, aber kirchlich dennoch vollkommen legitim sei. Und so drehte sich die alte Argumentation um: Nun wurde ein „nur“ ortsgemeindlich bestimmtes Kirchenverhältnis defizitär. Man errechnete zudem aus den Umfrageergebnissen, dass Menschen mit höherer Schulbildung und höherem Einkommen sich eher der Evangelischen Kirche in Deutschland insgesamt als ihrer jeweiligen Gemeinde zugehörig fühlen würden. Was, so wird konzediert, ein Zeichen der Austrittsneigung sein könne, aber eben auch „eine bewusste Entscheidung für die weitere Mitgliedschaft bedeutet“.

Paradoxerweise lebte die Kirche nun von denen, die sich für ihren Glauben wenig interessieren. Denn das „eigene Beteiligungsmodell“ der Distanzierten gilt nicht nur für ihr Partizipationsverhalten, sondern auch für ihre Überzeugungen. Wer nämlich nicht oder nur selten zum Gottesdienst geht, stimmt zu 60 Prozent auch nur „in manchem“ mit dem überein, was die evangelische Kirche in religiösen Fragen sagt. Dennoch war 1972 für sogar 46 Prozent derjenigen, die überhaupt keine Übereinstimmung mit der Kirche bekunden, Austritt kein Thema. „Aufs Ganze gesehen hat man den Eindruck, das Verhältnis dieser Gruppe zur Kirche sei ziemlich problemlos. Das Verbundenheitsgefühl ist nicht stark, aber selbstverständlich. Im Teilnahmeverhalten wahrt diese Gruppe Distanz. In der Einstellung überwiegen die positiven Meinungen und Urteile über die Kirche.“ Mehr bewusste Entscheidungen zu fördern könnte in diesem Kontext eher störend sein.

Frühe Individualisierung

In der weiteren Debatte wird, trotz vieler Gegenargumente, die Aufwertung des distanzierten Verhaltens immer getrieben. „Jedenfalls besteht Anlass [,] … nach einem System und einer Strategie der Kommunikation zu fragen, die ein solches Verhalten als selbstständigen Typus praktizierter Mitgliedschaft zum Ausgangspunkt nimmt.“ Es ginge hier nicht um eine „Verkümmerung erfüllter Kirchlichkeit“ und auch nicht um missionarische Gelegenheiten, sondern um „ein Kommunikationsnetz eigener Art und eigenen Rechts.“ Nicht mehr das Modell des Sonntagsgottesdienstes gelte, sondern nun soll alles am „Lebenszyklus des Einzelnen als einer religiösen Aufgabe“ orientiert werden. Eine frühe Individualisierung!

Der Soziologe Joachim Matthes (1930 – 2009) konnte das distanzierte Teilnahmeverhalten als das volkskirchlich entscheidende analysieren. Ihm gelang es zu zeigen, wie im Fall der Konfirmation der Lebenszyklus und das Ritual ineinandergreifen könnten, wenn sie gerade nicht als Vorbereitung auf einen Mitgliedschaftsstatus in der Kirche begriffen werden. Im Weiteren entwirft er im Blick auf Anfang und Ende des Berufs und die Probleme des Alterns bis hin zum Tod, das heißt auf die Phasen des Lebens, eine „integrale Amtshandlungspraxis“. An spezifischen Krisenpunkten kann ein Bedürfnis nach Rekonstruktion des Lebens entstehen, das in den rituellen Angeboten der Kirche aufgenommen werden kann. „Die relative Stabilität dieser Form volkskirchlichen Teilnahmeverhaltens gründet sich vor allem in der sozio-kulturell abgestützten Chance, die Besonderheit der eigenen Lebenswirklichkeit mit all ihren Erträgen und Krisen der Sinndeutung in eine Veranstaltungsform höherer Allgemeinheit einbeziehen und in ihr zur Geltung bringen zu können.“ Dieses Bedürfnis werde allerdings in der Kirche notorisch verkannt und stattdessen den Menschen durch die offizielle Besuchserwartung des Gottesdienstes ein schlechtes Gewissen gemacht. Vor allem in der Praktischen Theologie wurden diese Gedanken immer weiterentwickelt. Die dichotomische Sicht der ersten Studien wurde in eine „vernetzte Vielfalt“ umgedeutet.

Die Kirche hatte 1972 „vorerst die Zeit und, was die Unterstützung der Mitglieder anlangt, auch den Kredit und die Kraft zu gezielten Reformen.“ Ein Grund zu durchgreifenden Reformen war nicht zu erkennen. Und es waren die distanzierten Mitglieder, die diesen Kredit gewährten. So konnte sich die Volkskirche fünfzig Jahre lebendig erhalten, ganz gleich wie schön man sich vieles auch geredet haben mag. Bemerkenswert bleibt, dass hier eine Kirche geradezu selbstverleugnend darauf verzichtet hat, von ihren Mitgliedern Zustimmung zu ihren Überzeugungen zu erwarten, ja nicht einmal die Teilnahme an ihren Gottesdiensten – aber auf diesen Verzicht ihre Stabilität gründet. Damit wurden in der Konsequenz Beliebigkeit und Indifferenz in Kauf genommen.

Man ist nun fünfzig Jahre später, angesichts der Tatsache, dass nur noch fünfzig Prozent der Deutschen Mitglieder in einer der beiden großen Volkskirchen sind, geneigt, die Strategie einer organisatorischen Affirmation der distanzierten Mitglieder für gescheitert zu halten. Das trifft insofern zu, als die Stabilität dieses Mitgliedstypus erodiert. Aber dennoch schreibt sich das Kirchenmodell als solches fort: Die prozentualen Anteile der Mitgliedschaftstypen an der Gesamtmitgliedschaft haben sich kaum geändert – auch wenn die absolute Zahl der Kirchenmitglieder erheblich schrumpfte.

Andererseits zeigt sich nun ein Problem, das im alten Modell nicht gesehen werden konnte: Der Anteil derjenigen an der Gesamtbevölkerung, die sich der Kirche überzeugungsmäßig nahe fühlten, ist immer kleiner geworden. Thomas Petersen brachte es kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung treffend auf den Punkt: „In der Allensbacher Umfrage vom Dezember 2021 gaben 23 Prozent der befragten Katholiken an, dass sie ein gläubiges Mitglied ihrer Kirche seien und sich dieser eng verbunden fühlten. Das entspricht knapp sechs Prozent der Gesamtbevölkerung. Von den Protestanten taten dies gerade zwölf Prozent – etwas mehr als drei Prozent der Bevölkerung insgesamt.“ Das bedroht die Präsenz der Kirche vor Ort.

Hätte man andere Wege einschlagen können? Bisweilen wurde mit einer bewusst missionarischen Gemeindestrategie experimentiert, aber breit durchsetzbar war das nicht. Sicherlich auch schon deswegen nicht, weil sich die Mehrheit des kirchlichen Personals unter den Distanzierten wohler fühlte als unter den „Frommen“. Deswegen werden sich die Landeskirchen auch weiterhin so entwickeln wie bisher und versuchen, den Rückgang an Beteiligung in den Gemeinden durch den Ausbau zentraler Angebote zu kontern.

Zwei Strategien

Erkennbar sind aktuell zwei Strategien: eine missionarisch-aktivierende und eine sozialraumorientierte Ausrichtung der Arbeit. Die erste setzt auf die Entwicklung neuer spiritueller Formen und einer entsprechenden Netzwerkentwicklung. In dieser Richtung hat das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD erst vor kurzem sogar freikirchlich-evangelikales Gemeindeleben als dem volkskirchlichen überlegen präsentiert. Demgegenüber knüpfen sozialraumorientierte Projekte an breiten sozialen und kulturellen Interessen der Menschen an und bedienen so das liberal-soziale Spektrum. Betont wird hier das soziale Engagement, das schon immer für die Mehrheit der Mitglieder attraktiv war.

Der Kredit, den die distanzierten Kirchenmitglieder lange gewährt haben, läuft ab. Das Kapital, das es nun braucht, muss selbst erwirtschaftet werden. Die Kirche muss die Nachfrage nach ihren Angeboten selbst hervorrufen, indem sie Sinn und Nutzen ihrer Botschaft deutlich macht. Ohne bewusste Mitglieder wird das nicht funktionieren.

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