Düster

Geschichte der Gegenwart

Den Überfall Russlands auf die Ukraine erlebt Europa als eine Zeitenwende mit weitreichenden Konsequenzen. Angesichts dieser schockierenden Erfahrung erscheint es nützlich, den Blick zurückzuwenden auf einen ähnlich folgenreichen Zeitenwechsel, der zwar nicht auf einen Kriegsschock zurückgeht, aber doch als eine tektonische Verschiebung wahrgenommen wurde: Der Baseler Zeithistoriker Philipp Sarasin hat sie an einem „Wendejahr“ festgemacht: 1977.

Sarasins These: „Im Fall des Jahres 1977 … entsteht ein Bild von tiefgreifenden Verschiebungen, Veränderungen und Brüchen im Gefüge der Gegenwart. Die Gewissheiten der Moderne und der Glaube an die fortgesetzte ‚Modernisierung‘ durch staatliche Steuerung waren ebenso in eine tiefe Krise geraten wie der Glaube an die Revolution. Zugleich aber entstand eine neue technische Kultur, die personal und ‚vernetzt‘ sein sollte, während unruhige Geister begannen, jenseits der traditionellen Deutungsangebote … nach ‚Sinn‘ zu suchen.“

Dieses Drama eines Zeitenwechsels verdeutlicht Sarasin an fünf Nekrologen, Nachrufen auf emblematische Personen, die 1977 gestorben waren: den roten Utopisten Ernst Bloch, die schwarze US-Bürgerrechtsaktivistin Fannie Lou Hamer, die französische Fahnenträgerin der sexuellen Befreiung Anais Nin, auf den Lyriker und Filmer Jacques Prévert und den Vorkämpfer der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhard. Dabei entsteht ein differenziertes Bild, dessen Elemente hier nur benannt werden können: Bloch gibt das Signal für den verblassenden Roten Oktober, den Jugendaufstand und den Terrorismus der RAF sowie die emanzipativen Subkulturen der westlichen Intellektuellen-Szene. Die schwarze Jeanne d‘Arc Hamer steht für die auch von US- Präsident Jimmy Carter 1977 verfochtenen Menschen- und Bürgerrechte, für die Schlussakte von Helsinki und die Prager „Charta 77“.

Die sexuelle Freiheit öffnet das Tor für die Reise zu sich selbst, zur esoterischen Gegenkultur und zur Identitätspolitik mit ihrer Philosophie des Einzelnen. Parallel dazu der PC, die sozialen Medien und die Digitalisierung der Arbeitswelt. An die Stelle des „Allgemeinen“ trat eine Pluralität der Stimmen und Wahrheiten im „Spiel der Zeichen“. Der Ordoliberalismus der sozialen Marktwirtschaft wurde schließlich nach Erhards Tod vom transatlantischen Neoliberalismus abgelöst.

Um das Jahr 1977 sei die Kippe der industriellen Moderne in die Spätmoderne erfolgt. Kennzeichen: einerseits Pluralisierung und Singularisierung, andererseits Globalisierung von Kommunikation, Geld, Verkehr und Seuchen. Die Haupterbschaft von 1977 sei die Kombination von „Identität“, freier Konsumwahl und der Technologie des Internets.

Schließlich haben sich, so Sarasin, die „Wahrheitsregeln“ verändert. Es vollziehe sich auch eine „Pluralisierung der Wahrheiten“. „Anything goes“ – diese Parole kennzeichne eine „alternative Wahrheitssuche und den Glauben an verborgene Sinnressourcen“ in Mystik und individueller Religion. „Wenn sich solche Gewissheiten ausbreiten, lässt sich kritisches Denken nicht mehr in geteilten methodischen Regeln und Grundüberzeugungen verankern.“ Sarasins Fazit: Die Radikalität dieser Verschiebung der Wahrheitsregeln habe im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts „zur sprunghaften Verbreitung von Verschwörungstheorien, zum Verlust des Vertrauens in wissenschaftliche Rationalität und zur Erschütterung eines das Politische ehemals überhaupt erst ermöglichenden Grundkonsenses“ geführt.

Das düstere Bild unserer vielfach gespaltenen Welt gewinnt im Schatten des unzeitigen Krieges in Europa noch an Tiefenschärfe. Die Lektüre dieses Buches weckt den Blick für die von Krieg, Klimawandel und Pandemie erzwungenen Korrekturen.

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