Überholte Schlachtrufe

Warum Die Linke eine realistische Religionspolitik braucht
2019 gab es in Bonn den letzten Linken-Parteitag in Präsenz.
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2019 gab es in Bonn den letzten Linken-Parteitag in Präsenz.

Wird es der Partei Die Linke gelingen, religionspolitische Grundsätze zu formulieren, die der vom Grundgesetz zuerkannten  Religionsfreiheit gerecht werden? Es muss gelingen, wenn die Partei ein ernst zu nehmender politischer Faktor sein will, meint Karl-Helmut Lechner, Theologe, Mitglied der Partei Die Linke und des Gesprächskreises „Weltanschaulicher Dialog“ der SED- Nachfolgepartei.

Es geht Der Linken zurzeit politisch wirklich nicht gut; das ist offensichtlich, seitdem sie im September 2021 mit 4,9 Prozent nur noch durch das Privileg von drei Direktmandaten in den Bundestag eingezogen ist. Das Wahlergebnis von 2,6 Prozent im Saarland im März und nur unwesentlich mehr im Mai in Schleswig-Holstein hat diese Diagnose noch befeuert. Ungeklärte Positionen zum Krieg und die jüngsten Sexismusvorwürfe drohen die Partei auseinanderzutreiben. Ob der Parteitag im Juni einen Neustart ermöglicht?

Nun wird niemand behaupten wollen, dass die Haltung und die Aussagen Der Linken zur Religion je wahlentscheidend waren. Zumal Die Linke doch auch grundsätzlich keine Weltanschauungspartei sein will, in der ein atheistisches oder religiöses Bekenntnis für die Mitgliedschaft Bedingung ist. Dennoch zieht sich durch alle parteipolitischen Themen die Frage nach grundlegenden ethischen Positionen im Selbstverständnis der Partei.

In einer säkularisierten Gesellschaft wird leicht unterschätzt, wie tief Überlieferungen und Gewohnheiten den Einzelnen prägen, ja binden. Metaphysische Überzeugungen und religiöse Regeln bestimmen oft unbewusst viele Alltagshandlungen, besonders, wenn es um Ökologie, Friedens- oder Sozialpolitik geht, spielen „fromme“ Grundhaltungen im Hintergrund eine wesentliche Rolle.

An der Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit scheiden sich in der Praxis der Partei Die Linke oft die Geister: in Schulfragen wie dem Religionsunterricht, bei der Verleihung des Status einer „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ an islamische Gemeinden, bei Regeln des Zusammenlebens im öffentlichen Raum – wie zum Beispiel beim Tragen des Kopftuches. Nur in der Ablehnung von Militärseelsorge, der Staatsdotationen und der Ablehnung des gesonderten kirchlichen Arbeitsrechts, das den Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen den Streik verbietet, herrscht Einigkeit. Wenn es Der Linken um eine Gesellschaft geht, in der unterschiedliche Kulturen mit ihren jeweiligen Religionen in religiösem und weltanschaulichem Frieden leben können, dann trägt sie als Partei entsprechend Verantwortung. Hier öffnet sich ein weites Themenfeld, das es notwendig macht, einige althergebrachte, vermeintlich „linke“ Auffassungen neu zu durchdenken. Ein diffuser Laizismus, der sich mehr emotional als wissenschaftlich an die Aussage August Bebels von 1874 anlehnt, Christentum und Sozialismus stünden sich gegenüber wie „Feuer und Wasser“, und deshalb brauche man sich diesem Thema als lästigem Rückstand aus der Vergangenheit nicht wirklich zu widmen, hilft da nicht weiter.

Gemischte Gefühle

Die Begriffe Laizismus beziehungsweise Laizität verweisen auf die große, blutige Geschichte der Säkularisierung in Europa. Gemeint ist damit die Zurückdrängung von Religion, vornehmlich christlicher Religion, aus dem öffentlichen in den privaten Lebensbereich. Säkularisation findet da statt, wo die Wissenschaft ihre Unabhängigkeit gegenüber kirchlicher und theologischer Kontrolle erreicht oder sich bürgerliches Recht in Abgrenzung vom viele Jahrhunderte alten Kirchenrecht herausbildet. Man sollte diese Begriffe heute aber behutsam gebrauchen. Denn in ihnen hallen die alten, überholten Schlachtrufe wider und lösen sehr gemischte Gefühle aus. Wer heute noch mit Blick auf religiöse Bewegungen und Institutionen mit Voltaire „Ecrasons l’infâme!“ („die Abscheuliche zerschmettern!“) ausruft und vielleicht damit meint, an der Spitze der grundlegenden anti-klerikalen Aufklärung zu stehen, wird bemerken, dass er oder sie noch nicht einmal auf dem Stand der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 angekommen zu sein scheint.

In Artikel 137 (7) WRV, heute inkorporiert im Grundgesetz Artikel 140, wurde bereits damals festgeschrieben: „Es besteht keine Staatskirche.“ Das heißt: Die Trennung von Staat und Kirche ist religionsverfassungsrechtlich vollzogen. Im Grundgesetz finden sich die unterschiedlichen Weltan­schau­ungen des Atheismus oder Anti-Klerikalismus gleichberechtigt neben alle anderen Religionen eingereiht als eine Stimme unter vielen im gesellschaftlichen Diskurs. Deshalb tragen heute die Begriffe Laizität oder gar Laïcité selbst nicht mehr viel zur Klärung der hier zur Debatte stehenden Probleme bei.

Und doch sind sie im innerparteilichen Diskurs immer noch gegenwärtig. Beeinflusst von der Diskussion in Frankreich, gibt es zwei Strömungen: Die eine betrachtet die Laizität als ein emanzipatorisches Prinzip, das die Menschheit von der Religion überhaupt befreien soll. Erklärtermaßen versteht sie sich als Kampf gegen die Religion selbst. Sie ist wesentlich von den antiklerikalen Schriften der französischen Aufklärung beeinflusst. Die andere Richtung hingegen ist der Meinung, dass die Laizität ein liberales Prinzip ist, das konsequent als Ziel die Trennung von Staat und Religion und von Politik und Religion formuliert. Dabei hat sich die Religion bereits weitgehend von der Kontrolle des Staats befreit. Und gleichzeitig hat sich der Staat von dem Einfluss der Religion, allem voran von dem Einfluss der großen christlichen Kirchen, emanzipiert.

Für die Partei Die Linke gilt es nun, religionspolitisch nach vorne gewandt eine Haltung zu einer gesellschaftlichen Praxis zu entwickeln, die es Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ermöglicht, geordnet und gut, trotz vieler Konfliktfelder, miteinander zu leben. Dazu bedarf es aber einiger neuer religionswissenschaftlicher Grundeinsichten:

(1) Religion will nicht verschwinden: Atheismus, mehr noch, die Ablehnung jeglicher Art des Religiösen, war der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts in Deutschland selbstverständlich: Religion sei das „Opium des Volkes“ hatte Karl Marx 1843 geschrieben. Er meinte, es habe keinen Sinn, den Menschen nur ihr „Opium“ wegzunehmen, aber jene Zustände unverändert zu lassen, die schmerzlindernde Mittel nötig machen. Durch Aufhebung der Arbeitsteilung und des Privateigentums könnten diese Zustände beseitigt werden, in denen der Mensch ein geknechtetes und ausgebeutetes Wesen ist. Dann werde dieser Fusel verdunsten, dieses billige Trostmittel Religion absterben und verschwinden, weil überflüssig geworden. Diese marxistische Kritik der Religion ist eingebettet in den großen Strom der Aufklärung. Philosophen wie Auguste Comte (1798 – 1857) und der Soziologe Émile Durkheim (1858 – 1917) sagten den unausweichlichen Verfall der großen Religionen voraus. Durk­heim nahm sogar an, dass in Europa der Katholizismus im Verlauf eines halben Jahrhunderts verschwunden sein werde. Die religionskritischen Schriften der UdSSR und der DDR haben sich an diese Gedanken geklammert. Und noch heute gibt es unter den Linken im Lande genügend Leute, die meinen, Marx damit einen Gefallen zu tun, wenn sie das nur laut genug wiederholen.

Trennung nicht möglich

Unsere Gesellschaft aber ist offen und verkappt erfüllt von religiösen Elementen, Organisationen und Strukturen. Wenn im Grundgesetz steht: „Es besteht keine Staatskirche“, heißt das, dass der Staat sich von Religionsgemeinschaften, wie zum Beispiel den Kirchen, politisch und juristisch strukturell zu trennen hat. Das ist geschehen. Aber eine Trennung der Gesellschaft von Religion und Weltanschauung ist nicht möglich. Beide verschwinden nicht. Das mag gefallen oder nicht, und Verbieten ist, wie die Geschichte lehrt, sinnlos. Religion ist in dieser Gesellschaft als Ausdruck der Lebensform und Denkweise von Menschengruppen und Individuen vorhanden.

Natürlich ist Religion „Privatsache“ – dem Staat gegenüber, der da nicht bei den Bürgern herumzuschnüffeln hat. Aber Religion und Weltanschauung ist grundsätzlich nicht nur „Privatsache“. Alle Handlungen, gerade auch private, haben gesellschaftliche Außenwirkung, sind funktional öffentlich und politisch. Träger des Grundrechtes auf Religionsfreiheit in Artikel 4 des Grundgesetzes ist nicht allein der einzelne Mensch. Ort der Religionsausübung ist immer eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft. Hier werden Überzeugungen gebildet und kundgetan, Regeln festgelegt, Riten praktiziert. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sind soziale Organismen, die die religiöse und weltanschauliche Identität der Gläubigen verkörpern. Wer die Rechte einer Religionsgemeinschaft beschneidet, greift damit auch unmittelbar in die Rechte der einzelnen Gläubigen ein.

Ein bekanntes Beispiel: Nachdem eine muslimische Lehramtsanwärterin dagegen geklagt hatte, dass sie bei ihrer beruflichen Tätigkeit kein Kopftuch tragen dürfe, legte das Bundesverfassungsgericht in seiner „Kopftuchentscheidung“ im September 2003 fest: Das Grundrecht der Glaubensfreiheit „erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze, sondern auch solche religiösen Überzeugungen, die ein Verhalten als das zur Bewältigung einer Lebenslage richtige bestimmen.“

Ebenso gehört es zu den Inhalten der Religionsfreiheit, verschiedene Anhänger religiöser Gemeinschaften gleichberechtigt Räume für ihre Versammlungen und kultischen Handlungen errichten und benutzen zu lassen, also Synagogen, Kirchen und Moscheen.

(2) Religionsfreiheit: Der dem Staat durch das Grundgesetz vorgegebene Auftrag zur „Neutralität“ meint dabei immer die Anerkennung der widerstreitenden religiösen Interessen als grundsätzlich gleichwertig. Dieser Verfassungsauftrag der Neutralität gegenüber den Religionen und Weltanschauungen und der praktisch und politisch erfolgreich geordnete religiöse Frieden in der Gesellschaft stehen aber nicht einfach beziehungslos nebeneinander. Sie entfalten vielmehr soziale Wirkung aufeinander. Diese „Neutralität“ ist selbst ein in Geschichte und Gesellschaft eingebetteter Begriff, dessen friedensstiftende Praxis wiederum Einfluss auf die Auslegung der staatlichen Neutralitätspflicht in der Rechtsprechung und der Gestaltungsmöglichkeit der Politik hat.

Traditionen „vor Ort“ wichtig

Denn das Grundgesetz enthält nicht, gleichsam als eine „Heilige Schrift“, zeitlos und endgültig alle Antworten auf zentrale politische Fragen. Das käme der Sakralisierung der Verfassung gleich, die so zu einer Art Bibel der Zivilreligion avancierte. Die konkrete Ausgestaltung staatlicher Neutralität hängt davon ab, welche religiösen und traditionellen Traditionen an dem Ort vorherrschen, für den die gesetzgeberischen Entscheidungen zu treffen sind. In der Praxis kann die notwendige Weite der staatlichen Neutralitätspflicht in einer multikulturell geprägten Schule, etwa in Berlin oder in Bremen, völlig anders beurteilt werden als etwa in einer bayerischen Kleinstadt-Schule, deren Umgebung und religiöse Tradition „unversehrt“ katholisch geprägt ist. Man stelle sich umgekehrt den Tumult vor, wenn der Landesgesetzgeber planen würde, so wie es in Bayern immer noch Vorschrift ist, an Berliner Schulen ein Kruzifix in allen Klassenzimmern aufzuhängen.

(3) Neutralität des Staates: Der Alltag in den Schulen macht eine abstrakte staatliche Neutralität beim Thema Religion nicht möglich. Der Träger einer Schule kann sich in der Praxis nicht, scheinbar konsequent, für seine Einrichtung auf eine distanzierende, möglichst religionsferne Neutralität zurückziehen, während zeitgleich ihn ein Blick auf seinen Schulhof darüber belehrt, wie Protestanten, Katholiken, russisch-orthodoxe Christen, serbisch-orthodoxe Christen, syrisch-orthodoxe Christen, Sunniten, Schiiten, Aleviten, Juden, Buddhisten und Hinduisten aufeinandertreffen, einander akzeptieren oder auch heftig über religiöse Themen streiten. Diese jungen Menschen lassen ihren Glauben wie auch ihre religiösen Konflikte nicht morgens in ihren vier Wänden daheim.

Religion, die Vielzahl ihrer Erscheinungsformen und auch entsprechende Konflikte, gehören genauso zur Schule wie die Menschen, die sie besuchen. Ein „Kopftuchverbot“ wäre da eine unzulässige staatliche Vorgabe und Einmischung. Die Schule als „religionsfreien“ Raum gibt es nur ohne seine religiösen Schüler.

Religiösen Frieden ermöglichen

Fazit: Die Pflicht zur ethisch-religiösen Neutralität umfasst die Verpflichtung des Staates, den religiösen Frieden in der Gesellschaft zu gewährleisten. Er muss gesetzgeberisch und zugleich befriedend handeln. Die gesellschaftlichen Akteure, zu denen die Partei Die Linke unbedingt gehört, haben es daher selbst in der Hand, religiösen Frieden in der Gesellschaft zu gewährleisten, denn dieser religiöse Friede ist eine wesentliche Voraussetzung zum Erhalt des säkularisierten Rechtsstaates.

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