Vergeigter Neustart

Was Kirche und Theater postpandemisch teilen
Foto: privat

„Der Neustart“ nach der Corona-Pandemie „werde kein Selbstläufer sein. Es werde Mühen kosten, das entwöhnte und wenigstens in Teilen noch immer vorsichtige Publikum zurückzugewinnen. Sowieso könne "nach" der Pandemie ja nicht einfach weitergemacht werden, als sei nichts gewesen. Doch genau das ist passiert“, schreibt Janis El-Bira in seiner Kolumne „Straßentheater“ bei nachtkritik.de. Gelegentlich tut es gut, wenn man sich umschaut und feststellt: Auch andere sind von den gleichen Problemen betroffen wie man selbst.

Die Theater leiden unter „Publikumsschwund“. Die Großen des Faches beklagen das lautstark, in der Fläche nimmt man die Entwicklung vor allem mit Schulterzucken zur Kenntnis: Was habt ihr erwartet? Beim Theater spricht man davon, dass nur 40 % des Vor-Corona-Publikums noch käme, und dass, obwohl noch im letzten Herbst die Häuser voll gewesen wären. Aber dann: Ukraine-Krieg. Erneute Unsicherheit. Auch die hohe finanzielle Belastung der privaten Haushalte mag eine Rolle spielen. Man ist halt einfach nicht in Stimmung.

In den Kirchen fehlen uns noch die passenden Zahlen, die Zählsonntage sind noch nicht durch. Aber auch bei uns wird immer deutlicher: Der Abbruch durch Corona, verstärkt durch die neuerliche Krisenstimmung durch den Ukraine-Krieg, ist in der Tat ein Abbruch, nicht nur ein Tal, das durchwandert werden kann. Zwar wünschen sich Hauptamtliche wie Ehrenamtlichen in der Fläche, Kirchenvorstände voran, es möge einfach da angeknüpft werden, wo man im März 2020 stand, doch es wird klar: Die Wünsche der Protagonisten entsprechen längst nicht mehr den Bedürfnissen. Gottesdienste und kirchliche Veranstaltungen werden in großer Dichte gefordert, ohne dass man sie selbst besuchen würde. Haupt- und Ehrenamtliche reiben sich auf einer Aufholjagd auf, während das eigentliche Ziel aus dem Blick gerät.

In diesen Tagen finden mit dem Katholikentag (sic!) in Stuttgart und dem evangelikalen Christival in Erfurt die ersten christlichen Großveranstaltungen nach der Pandemie (oder zumindest in deren Sommerpause) statt. Beide mit deutlich weniger Teilnehmer:innen als vor Corona. Doch nicht nur das Format scheint aus der Zeit gefallen, auch die Antworten, die Kirchenleute auf den trotz zahlreicher Absagen immer noch vielzähligen Podien geben.

„Gute Kritiken, überregionale Aufmerksamkeit, mutige Themensetzungen – das Interesse des Publikums scheint wie im Tiefschlaf“, schreibt Janis El-Bira. „Die Theater stehen geschockt vor dieser Entwicklung, während die Interpret:innen der Publikumskrise die üblichen Rezepte auf den Plan rufen. Theater müsse welthaltiger und gegenwartsbewusster werden, sagen die einen. Im Gegenteil, rufen die anderen, Theater soll gerade das Andere zur Wirklichkeit, soll eigengesetzlich und kunstsinnig sein. Doch die abwesende Masse reagiert auf beiderlei wie mit einem unsichtbaren Schulterzucken – und bleibt zu Hause.“ Setzen Sie einmal „Kirche“ statt „Theater“ in die Diagnose ein!

Aber wo bleibt die Kunst?

El-Bira empfiehlt dem Theater übrigens, der neuen Flexibilität des Publikums durch neue „Konzepte, den Theaterbesuch so unkompliziert und risikoarm anzubieten, wie es nur geht“, entgegenzukommen. Eine „durchsubventionierte Theaterlandschaft“ sollte kein Problem damit haben, dass Theaterbesuche nicht mehr lange geplant werden. Für die Häuser bedeute diese neue Flexibilität „einen Kratzer am Ego“: „Theater als eine Freizeitaktivität unter vielen im Buhlen um die Aufmerksamkeit des Publikums? Unerhört – aber bis auf weiteres wahrscheinlich notwendig. Andernfalls droht die bittere Erkenntnis, dass das Theater ausgerechnet in der Krise zum Zeitvertreib der Wenigen geworden ist.“

Auf die Kirchen gemünzt: Die bisherigen „Formate“ verlangen von den Mitarbeiter:innen und Teilnehmer:innen ein hohes Maß an Commitment, das in dieser Zeit kaum zu leisten ist, in der „die Krisen sich überlappen wie tektonische Platten", wie es Kulturstaatsministerin Claudia Roth auf dem Berliner Theatertreffen formulierte.

In ihrem Bericht vom Theatertreffen befürchtet die Theaterkritikerin der Süddeutschen Zeitung, Christine Dössel, mit Blick auf die dort gefeierten Inszenierungen, dass es dem Theater so nicht gelingen wird, einen Teil der alten Stammkundschaft und vor allem ein neues Publikum zu finden: „Es schlägt sich da in der Auswahl eine generelle Entwicklung im Theater nieder: die zum Dramaturgenstrebertum und zur Blasenbildung im Namen des Korrekten, Woken und Guten. Sie geht einher mit einer Tendenz zum Tunnelblick und oft auf Kosten des Spielerischen, Freien, Verrücktschönen. Oder auch einfach nur: der Anschlussfähigkeit.“ Das Theater hätte zwar „richtige und wichtige Themen“, nur komme es mit ihnen beim Publikum nicht an, „weil es viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist“.

Nun wird man den Kirchen in diesen Tagen, da gleich mehrere Pfarrer sich vor Gericht wegen schwulenfeindlicher Äußerungen verantworten mussten, kaum zu viel Wokeness vorwerfen können – auch wenn es diese Art verkürzte Diagnose natürlich in interessierten Kreisen gibt. Nein, vielmehr ginge es darum, das weitgehende Desinteresse der Leute einmal auf sich wirken zu lassen. Und den Gedanken zu wagen, dass es tiefer reicht, als man durch noch mehr Aktion, durch mehr „Reform“ ergo Selbstbeschäftigung wettmachen könnte.

Auch hier gibt es eine erstaunliche Parallele zwischen Kirche und Theater, blickt man darauf, womit sich, laut Dössel, hinter den Kulissen beschäftigt wird: Auch beim Theater geht es um „heiße Eisen wie Geschlechtergerechtigkeit, Machtmissbrauch, Diversität, Inklusion, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Reform patriarchaler Strukturen“. Die Theaterkritikerin stellt fest: „Die To-do-Liste ist inzwischen immens. Und wichtig. Aber wo bleibt die Kunst? Die Inhalte sollten auf dieser Liste ganz oben stehen. Das zu schaffen, ist das heiße Thema der Saison. Denn stell dir vor, das Theater löst alle Probleme - und keiner geht hin.“

Eine realistische Bedarfsanalyse

Stellen Sie sich vor, die Kirche löst alle ihre Probleme – und keine:r geht mehr hin! So unwahrscheinlich ist das nicht, drängt sich doch der Eindruck auf, dass denen, die bisher treu gekommen sind, ihre Kirche schon so passt, wie sie ist, während diejenigen, die sie – egal ob katholisch oder evangelisch – gerne anders hätten, eh nicht kommen. Doch stimmt das?

Zunächst einmal kommen auch bei uns die vormals Treuen nicht mehr alle, weil sie eben „entwöhnt“ sind. So manche:r hat in den vergangenen Jahren festgestellt, dass ihm ohne Kirche kaum etwas fehlt. Wer zwei Jahre lang von seiner Kirchgemeinde kaum ein Lebenszeichen gehört hat, schlägt nicht voller Vorfreude das Gemeindeblättchen auf. Allgemein macht man sich auch viel weniger Ärger, wenn man sich von den Kulissenschiebereien fernhält. Überall begegnen mir Menschen, die vor allem Probleme mit der Kirche haben. Wie kann das eigentlich sein: Eine Kirche, die viele Menschen so unglücklich macht? In der sich die Menschen gegenseitig so unglücklich machen? Die Menge derjenigen, die trotzdem kommen und nicht einfach aufgeben, wird überschaubar bleiben. Ich würde also meinen, dass man seine Hoffnungen nicht allzu sehr an das bisherige Stammpublikum hängen sollte.

Wenn mich in den vergangenen Jahren etwas tief beeindruckt hat, dann die hohen Erwartungen von Missbrauchs- und Diskriminierungsbetroffenen in den Kirchen, die in einem tiefen Glauben daran wurzeln, wozu eine Kirche Jesu Christi eigentlich da sein sollte. Er steht gelegentlich im scharfen Kontrast zu dem, was desillusionierte Kirchenleute sich von ihrer Kirche noch erhoffen. Von den geübten Zynikern, die in der durchsubventionierten Kirchenlandschaft dem Ruhestand entgegen jammern, ganz zu schweigen.

Die Aufgabe, die Forderungen derjenigen, die sich ihre Kirche „wie vor Corona“ wünschen, und die Ansprüche derjenigen, die gerade jetzt eine andere Kirche fordern, zu moderieren, wird über diesen Sommer hinaus bestehen bleiben. Maßstab guter Entscheidungen können aber nicht allein die je subjektiven Wünsche dieser unterschiedlichen Anspruchsgruppen sein, sondern eine realistische Bedarfsanalyse. Denn was man sich wünscht und was man tatsächlich braucht, sind zwei verschiedene Paar Schuh.

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