Tschaikowsky muss bleiben

Wer Russen vom Spielplan streicht, weil sie Russen sind, spielt Putin in die Hände
Foto: Harald Oppitz

Lieben Sie Tschaikowsky? Dann sollten Sie schnell sein. Buchen Sie jede Konzertkarte, die Sie bekommen können. Allerdings ohne Garantie, dass nicht doch im letzten Moment Tschaikowsky gegen Liszt ausgetauscht wird. Oder Debussy. Oder Beethoven. Zu den Absurditäten dieser Kriegszeiten gehört auch, dass Konzertveranstalter Tschaikowsky aus dem Programm streichen, nur weil Tschaikowsky Russe war. Tschaikowskys Musik könnte ukrainische Gefühle verletzen, so die Begründung.

Ich bin nicht Ukrainerin und maße mir nicht an, über die Gefühle von Menschen aus der Ukraine zu urteilen. Trotzdem habe ich große Bedenken gegen diese Praktik. Ich finde sicherlich, dass man von russischen Musikern, die im Westen viel Geld verdienen, eine Stellungnahme zum Krieg in der Ukraine erwarten kann. Eine neutrale Haltung zum Krieg in der Ukraine kann es schon deshalb nicht geben, weil es sich um einen Angriffskrieg inklusive Kriegsverbrechen handelt. Sicher gibt es auch Musik, die politisch instrumentalisiert und regelrecht vergewaltigt wird, zum Beispiel das Paulchen-Panther-Lied von Rechtsradikalen; und leider stimmt es überhaupt nicht, dass böse Menschen keine Lieder singen. Ich denke da etwa an die Fans der Böhsen Onkelz.

Doch Tschaikowsky hat mit dem Krieg in der Ukraine rein gar nichts zu tun. Im Gegenteil ist seine Person posthum ein Opfer russischer Propaganda, die mit der Homosexualität des Künstlers nicht klarkommt. Ein schwules musikalisches Genie, das seine Sexualität nachweisbar auch gerne und vielfältig gelebt hat, kommt in Putins Horizont nicht vor – oder darf nicht vorkommen. Ausgerechnet dieser Künstler steht nun unter Verdikt? Damit disqualifizieren sich diejenigen aus der Musikszene, die dafür verantwortlich sind, dass Tschaikowsky vom Spielplan genommen wird. Außerdem ist es Wasser auf die Mühlen der russischen Propaganda.

Es ist schon pervers, dass die russischen Medien mit einem gewissen Recht an Parallelen zur nationalsozialistischen Bücherverbrennung erinnern, was natürlich überhaupt nichts mit Putins Haltung zur freien Kunst zu tun hat, im Gegenteil. Wenn jemand sich mit Sicherheit in seinen und ihren Gefühlen verletzt vorkommen könnte, dann die damals 1933 betroffenen Autorinnen und Autoren, so sie denn noch leben würden. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich Erich Kästner und Kurt Tucholsky für Seelenverwandte Putins erklärt hätten.

Und wie soll es weitergehen? Wird Dostojewski aus dem Lehrplan an deutschen Schulen gestrichen? Oder dürfen an deutschen Theatern „Der Kirschgarten“ oder die „Drei Schwestern“ nicht mehr gespielt werden? Zurück zu Tschaikowsky. Ich mag persönlich andere Musik lieber, kann mir jedoch schwer vorstellen, wie sich jemand der Faszination seiner 4. Symphonie entziehen kann. Selbst Pink Floyd hat sie musikalisch zitiert, in ihrem Welthit „Wish you were here“. Ich habe das als Klingelton auf meinem Smartphone.

Wenn es eine göttliche Gabe in der Musik gibt dann doch die, dass sie über Grenzen, Sprachen, Epochen, Religionen, Milieus hinweg Menschenherzen erreichen und verbinden kann. Gemeinsame Konzerte mit Menschen unterschiedlichster Nationen mit Komponisten unterschiedlichster Herkunft gilt es unbedingt zu fördern. Insofern ist jede Ausgrenzung letztlich kriegsfördernd, kulturfremd und: dumm.

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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