Drang nach Osten

Von Bismarcks Imperialismus, dem Ostfeldzug der Nazis und unserer Erinnerungskultur
„Volk ohne Raum“ hieß der Roman von Hans Grimm aus dem Jahr 1926, der koloniale Ansprüche Deutschlands rechtfertigte. Sein Titel fand auch Eingang in die Sprache der Nazis.
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„Volk ohne Raum“ hieß der Roman von Hans Grimm aus dem Jahr 1926, der koloniale Ansprüche Deutschlands rechtfertigte. Sein Titel fand auch Eingang in die Sprache der Nazis.

Die deutsche Kolonialzeit ist Teil der gesamtdeutschen Erinnerungspolitik geworden. Das sei zwar erfreulich, meint der Journalist und Migrationsforscher Mark Terkessidis. Doch noch gelten die polnischsprachigen Provinzen des Kaiserreichs und Hitlers Feldzug in den Osten nicht als Bestandteile deutscher Kolonialpolitik. Warum eigentlich nicht?

In der Erinnerungspolitik des wiedervereinigten Deutschlands hat der Kolonialismus bis vor kurzem kaum eine Rolle gespielt. Das war zuvor in der Bundesrepublik ähnlich gewesen. Wenn die Kolonialgeschichte in Übersee überhaupt in Artikeln, Fernsehbeiträgen oder Romanen behandelt wurde, dann zumeist revistionistisch gefärbt und als Kuriosität: In Togo oder Kamerun etwa denke man gern an die netten Deutschen zurück, die zwar streng gewesen seien, aber immerhin Eisenbahnen gebaut oder die Gesundheitsversorgung verbessert hätten. Auch schien diese Geschichte weit zurückzuliegen, schließlich hatte das Deutsche Reich seine überseeischen Besitzungen bereits nach dem Ersten Weltkrieg verloren.

In der DDR dagegen funktionierte das Erinnern anders. Hier gab es von vornherein eine umfangreiche historische Forschung, auch weil in den dortigen Archiven ein nicht unbeträchtlicher Teil der historischen Quellen zur Verfügung stand. Außerdem verstand sich die DDR als antiimperialistisch (und betrachtete die BRD wiederum als imperialistisch). Da „die Bourgeoisie“ für alle historischen Gräueltaten verantwortlich gemacht werden konnte, gab es keinen Grund für Beschönigungen.

In den vergangenen Jahren nun hat sich die Situation in Gesamtdeutschland dramatisch verändert, und zwar mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Aufgrund des massiven Drucks von zivilgesellschaftlicher Seite wurde im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2018 der „demokratische Grundkonsens“ neu festgelegt. Dazu gehören nun nicht mehr nur die „Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft und der SED-Diktatur“, sondern auch die der deutschen Kolonialgeschichte. Kurz darauf, 2019, reagierte die deutsche Kultusministerkonferenz auf die vielbeachtete Rede des französischen Präsidenten Macron in Burkina Faso über geraubte Objekte in europäischen Museen mit ihren „Eckpunkten zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ und machte damit den Weg für konkrete Rückgaben frei.

Im Zentrum der Restitutionsforderungen standen häufig die sogenannten Benin-Bronzen, die bei einer „Strafexpedition“ der britischen Armee im heutigen Nigeria erbeutet und an Sammlungen in ganz Europa verkauft wurden. Auch hier konnten bald Fortschritte vermeldet werden: Ein Spitzengespräch mit der nigerianischen Seite im April 2021 erbrachte einen konkreten Fahrplan für die Rückgabe. Schließlich wurde im Mai 2021 nach langjährigen Verhandlungen auch der Völkermord in der ehemaligen Kolonie „Deutsch-Südwest“, dem heutigen Namibia, anerkannt. 1904 und 1905 hatte die deutsche „Schutztruppe“ dort einen Aufstand der Herero und Nama mit einem genozidalen Vernichtungsfeldzug bekämpft. In Sachen Wiedergutmachung allerdings hatte die Bundesrepublik mit der namibischen Zentralregierung verhandelt und nicht mit Vertreter:innen der damals betroffenen ethnischen Gruppen. So wurde auch Kritik laut, die Bundesrepublik habe sich durch die Zahlung von Entwicklungshilfe den Entschädigungsforderungen entzogen.

Beschränkt auf Übersee

Trotz solcher Bedenken scheint es, als hätte die neue Bundesrepublik tatsächlich etwas aus der „Vergangenheitsbewältigung“ der Nazi-Verbrechen gelernt und sei schneller bereit, vergangenes Unrecht aufzuarbeiten. So erfreulich und unterstützenswert diese Entwicklungen sind: Bislang beschränkt sich die neue Diskussion über „Dekolonisierung“ auf den überseeischen Kolonialismus, insbesondere auf die Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent. So soll die hiesige Diskussion anschlussfähig gemacht werden für einen internationalen Kontext, der aber einer bestimmten Vorstellung von Kolonialismus folgt. „Kolonial“ ist dabei zunehmend ein Containerwort geworden, das ein Gefühl von historischem Unrecht gegenüber nicht-westlichen Menschen ausdrückt. Wenn es aber um eine postkolonialen Perspektive für Deutschland geht, dann sollte die historische Besonderheit stärker berücksichtigt werden.

Der kanadische Historiker Robert L. Nelson hat im Hinblick auf den Kolonialismus von einer Salzwasser-Theorie gesprochen: Hier gibt es das Mutterland, dort die Kolonie und dazwischen befindet sich sehr viel Wasser. Diese Theorie, so Nelson, lasse sich nur teilweise auf Deutschland übertragen. Tatsächlich waren Gebiete Polens (oder Gebiete mit einer deutlichen polnischsprachigen Mehrheit) über 120 Jahre entweder von Preußen oder später vom Deutschen Reich annektiert. Diese Besatzung bezeichnen wir nicht als Kolonialismus, aber warum nicht? Weil „weiße“ Menschen davon betroffen waren? In diesem Sinne ist die Frage höchst relevant, was wir eigentlich meinen, wenn wir „postkolonial“ oder „dekolonial“ sagen. Noch in den 1980er-Jahren war der Begriff Imperialismus verbreitet. Dabei ging es um den unbedingten Willen der westeuropäischen Nationen, zumal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, um jeden Preis zu expandieren. Mit diesem Begriff wurde aber nicht nur die direkte, koloniale Landnahme bezeichnet, sondern auch zahlreiche andere, indirektere Formen der Einflussnahme.

Das Deutsche Reich war erst mit seiner Gründung 1871 in die imperialistische Konkurrenz eingetreten und trieb seine Bestrebungen in drei Richtungen voran. Zum ersten gab es den deutschen „Drang nach Osten“, der eine Fortsetzung der preußischen Territorialstrategie war. Preußen hatte nach den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert polnischsprachige Gebiete akquiriert. Tatsächlich sprachen zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den acht Millionen preußischen Bürger:innen etwa drei Millionen polnisch. Die Integration der primär polnischsprachigen Provinzen war aufgrund des anhaltenden polnischen Widerstandes nie komplett gelungen, was für Reichskanzler Otto von Bismarck ein Problem darstellte. Denn er fürchtete unentwegt um den Zusammenhalt des neuen Reiches. Nach der Reichsgründung sollte die koloniale Landnahme vollendet werden, was zu entsprechenden Maßnahmen gegen die polnischsprachige Minderheit führte: Assimilationsgebote, „Kulturkampf“ gegen die katholische Religion sowie räumliche Verdrängung durch Siedlungsprogramme.

Zum Zweiten gab es die überseeische Landnahme, die in den 1880er-Jahren massiv an Fahrt aufnahm. Allerdings war das Reich spät in den Wettlauf um überseeische Territorien eingetreten und musste daher buchstäblich nehmen, was noch nicht besetzt war. Das führte zu einem der Fläche nach großen Kolonialreich, das aber weit verzweigt war, von Togo und Namibia über Samoa nach Kiautschou in China. Zugleich erwies es sich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten oft nicht als ergiebig. Spätestens mit der sogenannten Marokko-Krise des Jahres 1911, in der Berlin versuchte, durch die Entsendung des Kanonenboots „Panther“ seine Ansprüche zu untermauern, galten die überseeischen Optionen als erschöpft. Zwar durfte das Reich, da es die französische Besetzung von Fes und Rabat akzeptierte, die Kolonie Kamerun vergrößern, aber es wurde deutlich, dass Frankreich und England keine weiteren Landnahmen erlauben würden.

Nach 1911 wurde daher der „Drang nach Osten“ als kontinentales Expansionsprojekt verstärkt, was sich auch in den Kriegszielen des Ersten Weltkriegs niederschlug. An der Ostfront verlief der Krieg für das Deutsche Reich erfolgreich und so entstand für drei Jahre das Kolonialgebiet „Ober-Ost“, das sich über Gebiete des heutigen Polen, Litauen, Lettland und Belarus erstreckte. Hätte das Reich den Krieg gewonnen, wäre „Ober Ost“ zweifellos eine Kolonie geblieben.

Die dritte Richtung der Expansion war Südosteuropa, wobei es hier mehr um informelle Einflussnahme ging. In der Zeit nach 1911 waren Konzeptionen von „Mitteleuropa“ dominant geworden, womit ein Großwirtschaftsraum gemeint war, der von Deutschland im Verbund mit Österreich geführt werden sollte. Es ging dabei auch um eine Autarkie in Sachen Rohstoffe, und Südosteuropa wurde als deutscher „Ergänzungsraum“ gesehen. Durch eine Strategie der wirtschaftlichen „Durchdringung“, der militärisch-industriellen Beratung sowie der „moralischen Eroberung“ durch auswärtige Kulturpolitik sollten die Staaten des Balkans und auch das schlingernde Osmanische Reich von Deutschland abhängig gemacht werden. Ökonomisch konnten diese Ziele zwischen 1920 und 1939 auch verwirklicht werden: Die Staaten Südosteuropas wickelten in jener Zeit zwischen einem Drittel und der Hälfte ihres Außenhandels mit dem Deutschen Reich ab, das so auch zum dominanten Faktor in der Region wurde.

Solche informellen Herrschaftsstrategien konnten aber jederzeit in andere Formen umschlagen. Das zeigte sich dann nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialistische Partei. Adolf Hitler verfolgte das kontinentale Expansionsprojekt weiter, wie er bereits auf den ersten Seiten seiner programmatischen Schrift „Mein Kampf“ darlegte, allerdings mit dem „rassisch“ begründeten Konzept des „Lebensraums“. Der Zweite Weltkrieg kann daher auch als militärischer Versuch einer kolonialen Expansion nach Osten verstanden werden. Hitler bezeichnete den Osten (inklusive Russland) mehrfach als „unser Indien“, eine Anspielung auf die ehemalige britische Kolonie. Am Anfang stand der Angriff auf das seit 1919 unabhängige Polen. SS-Chef Heinrich Himmler nannte die „minderwertige“ polnische Bevölkerung im besetzten „Generalgouvernement“ ein „führerloses Arbeitsvolk“, das den Deutschen für schwere Handarbeit zur Verfügung stehen müsse und daher nur eine rudimentäre Ausbildung benötige: „Lesen halte ich nicht für erforderlich“.

Raum der Erinnerung

Die Staaten Südosteuropas waren in diesem Projekt als folgsame Verbündete vorgesehen, was im Fall von Rumänien, Bulgarien oder Kroatien auch funktionierte. Weniger kooperative Staaten wie Serbien oder Griechenland wurden einem harschen Besatzungsregime unterworfen und verloren bis zu zehn Prozent ihrer Bevölkerung. Hätte das „Dritte Reich“ den Krieg gewonnen, dann wären diese Gebiete ganz ohne Zweifel in einer kolonialen deutschen „Großraumwirtschaft“ aufgegangen, doch wie so häufig zuvor haben die Westmächte diese Pläne verhindert.

In der deutschen Öffentlichkeit hat lange Zeit die Erinnerung an die Shoah dominiert. Das ist angesichts der Monströsität des Verbrechens auch nicht verwunderlich. Für ein Land, das in einem globalen Netzwerk existiert und mittlerweile immer stärker durch Migration und Diversität geprägt wird, sollte der Raum der Erinnerung an vergangenes Unrecht postimperial erweitert werden. Wenn heute in einer Schulklasse Schüler:innen zusammen lernen, deren Vorfahren Täter:innen und Opfer im Geflecht des deutschen Kolonialismus und Imperialismus gewesen sind, braucht es einen anderem, multiperspektivischen Blick auf deutsche Geschichte – und das nicht nur in der Schule, sondern in allen Einrichtungen von den Museen bis hin zum Auswärtigen Amt. Dieser Blick mag zunächst einmal die traditionelle nationale Erzählung durcheinanderbringen, weil sie den historischen Konflikt ins Spiel bringt. Aber längerfristig kann nur so eine neue, in die Zukunft weisende Idee von „Wir“ entwickelt werden. 

 

Literatur

Mark Terkessidis: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Hoffmann und Campe, Hamburg 2019, 224 Seiten, EUR 22.–

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