In die Irre gegangen

Der aktuelle Streit um die Friedensethik und das Darmstädter Wort
Gedenktafel zum Darmstädter Wort
Foto: epd
Gedenktafel zur Erinnerung an das "Darmstädter Wort", die vor fünf Jahren vor dem Elisabethenstift in Darmstadt angebracht wurde.

Vor 75 Jahren formulierten namhafte Theologen der Zeit das „Darmstädter Wort“ und benannten darin Irrwege der Christen in Deutschland. Kann dieser Impuls beim aktuellen Streit um die Friedensethik angesichts des Krieges in der Ukraine helfen? Franz Grubauer, langjähriger Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland, sieht Ansatzpunkte, etwa in unserem Verhältnis zu Russland.

Als am 24.Februar 2022 der Überfall auf die Ukraine begann, war der Vertrag der Charta von Paris von endgültig erloschen. Mit der Unterschrift aller OSZE-Staaten am 21. November für ein neues Europa sollte damals vor gut drei Jahrzehnten ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit begründet werden, inklusive der Souveränitätsgarantien für die beteiligten Staaten. Unvermittelt sehen wir uns nun seit bald vier Monaten in der Ukraine der Ungeheuerlichkeit der Zerstörung und dem tödlichen Grauen gegenüber, das gerade vor unseren Augen mitten in Europa geschieht. Und ebenso unvermittelt stehen wir vor der Frage, was rechtserhaltende Gewalt vor diesem Bruch des Völkerrechts für Deutschland bedeutet. Das erzeugt einen Riss unter Protestanten. Die gegensätzlichen Positionen und Haltungen werden inzwischen publizistisch hinlänglich dargestellt, ohne allerdings ihre polarisierende Schärfe zu verlieren.

Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung – hinter dieser ökumenischen Leitorientierung einer Welt im 21.Jahrhundert konnten sich bislang noch fast alle Evangelischen versammeln. Doch die schmerzlichen Lernprozesse, die wir gerade durchleben, erfordern eine kritische Prüfung der Friedensethik und müssen neu diskutiert werden, wie die Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschus bereits am 10. März im Evangelischen Pressedienst forderte.

Perspektivwechsel nötig

Wenn der angesprochene konziliare Prozess Bestand haben soll, dann ist daran zu denken, dass Frieden und Gerechtigkeit auf rechtliche Vereinbarungen setzt. Recht ist aber auf Durchsetzbarkeit angelegt, wie es die EKD-Denkschrift von 2007 („Aus Gottes Frieden leben, für gerechten Frieden Sorgen“) formuliert. Und deswegen werden dort auch die Bedingungen einer Ethik der Recht erhaltenden Gewalt durchbuchstabiert[1].

Wenn die Friedensethik der Denkschrift neu diskutiert werden soll, dann nicht die darin enthaltenen guten Gründe einer Friedensethik, sondern die Perspektive der Denkschrift. Diese schaut nicht zufällig aus geschichtlich belasteter deutscher Perspektive nach außen auf das Weltgeschehen. Zudem motiviert nach Srebrenica und dem völkerrechtlich umstrittenen Einsatz der Bundeswehr im Sinne des Schutzes der Menschenrechte. Nachdem durch Putin die Regel basierten Vereinbarungen souveräner Staaten mit Gewalt gebrochen und das gewachsene Vertrauen zerstört wurde, ist ein friedensethischer Perspektivwechsel um 180 Grad jedoch notwendig, der vom aktuellen Weltgeschehen auf Deutschland blickt und unsere Antworten darauf herausfordert.

Warum fällt dieser Perspektivwechsel einer großen Gruppe Engagierter aus den verschiedenen Traditionen der Friedensbewegung nach 1945 so schwer? Bis heute ist unser historischer Denkhorizont geprägt von einer wechselvollen, hoch ambivalenten Geschichte zwischen Deutschland und Russland. Seit der Zarenzeit ist sie geprägt von engsten, persönlichen, wirtschaftlichen bis ins Militär reichenden Verbindungen, Bewunderung und abgrundtiefer zerstörerischer Verachtung, wie mythischen, teils religiös überhöhtem Größenwahn von Volk und Vaterland. Gefährlich wurde und wird es immer dann, wenn diese Narrative sich mit Emotionen in sozialökonomisch krisenhaften Zeiten verbinden.

In Schuld verstrickt

Dass daraus mörderische Vernichtung im unfassbaren Ausmaß entstehen kann, das wurde in Deutschland spätestens nach 1945 als Schuld der eigenen Aggression bewusst. Und eben auch der Protestantismus bekannte sich, teils zögerlich, schuldig für seine Verstrickung in die mörderische Ideologie der Nationalsozialisten. Für diejenigen, die ungeteilt aussprechen konnten: „Wir sind in die Irre gegangen“, bekam das Darmstädter Wort von 1947 eine prägende und einflussreiche Rolle.

Auf die versöhnungstheologischen Aussagen des Textes beriefen und berufen sich bis heute viele: von der frühen kirchlichen Friedensbewegung gegen Wiederbewaffnung und Kampf dem Atomtod bis zu den Ostermarschierern unserer Tage und vor allem die Generation Theologinnen und Theologen, die von der Studentenbewegung 1968 und folgenden Jahren geprägt wurden. Für die  Theologen Karl Barth, Hans Joachim Iwand, Martin Niemöller und Hermann Diem waren aber die versöhnungstheologischen Aussagen eingebunden in eine historische Analyse von Kirche und Gesellschaft, die begründete, warum der überwiegende Teil der Kirchen diesen NS-Staat mitgetragen hatten. Dazu zählten bekanntlich die traditionelle kirchliche Bindung an die „alten Mächte“ von Thron und Altar und die Identifikation mit der Herrschaftsperspektive. Daraus folgte der Mangel an Einsicht für gesellschaftlich notwendigen radikalen Reformen und der Mangel an Empathie für die soziale Lage der Benachteiligten. Diese Einsichten 1947 in einem „besseren deutschen Staatswesen“ einzubringen,“ das dem Recht, der Wohlfahrt und den inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient“ (DW, These 7), war vor der Gründung beider getrennter deutscher Staaten 1949 noch eine erhoffte gemeinsame Perspektive der Autoren des Darmstädter Wortes als auch der damals befürchtete Ausbruch eines neuen Krieges in den sich zuspitzenden Konflikten unter den Siegermächten geschuldet.

Protestantisches Manifest

Unter diesen Voraussetzungen war Versöhnung der Völker zuallererst abhängig vom Aufbau eines nicht-militaristischen und demokratischen Staates im Inneren. Versöhnung war als das Resultat dieses Prozesses gedacht in einem noch offenen und instabilen zeitgeschichtlichen Kontext. In diesem Kontext begriffen war das Darmstädter Wort zuallererst ein protestantisches Manifest, neues und mutiges Denken für die grundlegende Gestaltung der Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus zu wagen und dafür frei zu sein durch die biblische Botschaft des Evangeliums. Diese darin zum Ausdruck kommende Haltung ist die bis heute – und vielleicht heute erst recht – relevante kirchliche Botschaft des Textes.

Die Inanspruchnahme des Darmstädter Wortes ohne Beachtung dieses zeitgeschichtlichen Kontextes, gibt selbiges widersprüchlichen Interpretationen preis. Ohne Kontext wurde das Darmstädter Wort ein Steinbruch, aus dem wahlweise die Legitimation für die revolutionäre Theologie der Befreiung in der Studentenbewegung gefunden wurde, aber auch eine auf Prinzipien fixierte pazifistische Friedensethik oder eine staatstützende Begründung des Kirchenbundes der DDR für einen Sozialismus, der sich bereits reichlich desavouiert hatte.

Der Aufarbeitung harrt zudem die angesprochene Ambivalenz im Verhältnis zu Russland im kirchlichen Milieu der 68er-Bewegung in Westdeutschland. In der Auseinandersetzung mit der Rolle der Eltern und Großeltern im Nationalsozialismus gerade auch in protestantischen Eltern- und Pfarrhäusern und der Suche nach einem alternativen sozial gerechteren Gesellschaftsentwurf zum herrschenden Kapitalismus richtete sich der Blick auch auf Russland und die verschiedenen Spielarten des realen Sozialismus. Und erneut wurden im Zuge der wütenden Aufarbeitung des verdrängten Nationalsozialismus die ungeheureren Verbrechen an Menschen in Russland und – es wird gerade vielen erst richtig klar– in der Ukraine bewusst. Daraus wuchs erneut in vielfach persönlicher auch familiärer Betroffenheit ein Gefühl von Schuld, das nach Verständigung und Versöhnung suchte. Die vielfältigen kirchlichen Kontakte und Partnerschaften in die Länder der ehemaligen Sowjetunion, auch auf internationaler Ebene wie dem Weltkirchenrat, dokumentieren diese Bewegung.

Blinder Fleck

So nachvollziehbar diese Betroffenheit auch war, sie hatte für viele einen blinden Fleck: Sich darüber zugleich Rechenschaft abzulegen, welches menschenverachtende System nach der gescheiterten Russischen Revolution unter dem Stalinismus[2] entstanden war und wie es fortwirkte, wie viele Millionen Menschen in Gulags umkamen oder erschossen wurde, wieviel Lüge, Verrat und Menschenverachtung in diesem System bis in die Familien steckte.

Diese Fragen nach dem Charakter des russischen Gesellschaftssystems spaltete den politisch radikaleren Kern der 68er Bewegung teils unversöhnlich in Befürworter und Gegner, was durch den Einmarsch der russischen Armee in Prag und der Zerstörung des Prager Frühlings, der an ein menschliches Gesicht des Sozialismus glauben wollte, noch verstärkt wurde.

Im kirchlichen Milieu wurden diese Differenzen zwischen den Positionen von Befürwortern des realen Sozialismus und Russland-kritischen Positionen, wie meistens, weichgezeichnet. Das war, wie wir heute wissen, ein Einfallstor für die Stasi und den KGB auch in Kirchen und kirchlichen Institutionen im Westen, gleichsam„undercover“ passende Narrative in eigener Sache zu verstärken. Nicht zuletzt für diese Zwecke gut ausbeutbare Schuldgefühle aber auch die Tabuisierung einer wirklichen Auseinandersetzung mit der Beziehung zu Russland waren dafür ein guter Nährboden. Ohne hier deutlicher zu werden, ist es unerfreulich zu bemerken, dass es leider nach der friedlichen Revolution 1989 keine institutionelle Aufarbeitung dieser Verstrickung in Westdeutschland gegeben hatte, wie sie von allen, auch kirchlichen Mitarbeitenden in der DDR erbracht werden mussten.

Ambivalenzen im Verhältnis zu Russland

Jetzt brechen diese sicherlich, vor allem westdeutsche, aber unter anderen Vorzeichen auch ostdeutsche, Ambivalenzen aus Schuldgefühlen, Nicht-wahr-haben-Wollen und unbestreitbar echtem Verständigungswillen einer ganzen kirchlichen Generationslage im Verhältnis zu Russland an der Frage der Selbstverteidigung der Ukraine und den Reaktionen auf den Bruch des Völkerrechts auf.

Eine kritische und selbstkritische Aufarbeitung wird über die verstörenden Einsichten der russischen Aggression nicht die vielfältigen kirchlichen Friedensbemühungen im Kalten Krieg, in der Unterstützung der Ost-Politik und im Engagement für Frieden in den weltweiten Krisenregionen verwerfen. Sie müsste aber die zu Prinzipien geronnenen Formeln einer Friedensethik in der intellektuellen Offenheit und analytischen Schärfe eines Darmstädter Wortes in Augenschein nehmen und sich eingestehen, wo man in die Irre gegangen ist, wo man um des Friedens willen nicht die Fatalität und Zerrissenheit Russlands und des herrschenden Sowjetsystems vor dem Hintergrund seiner eigenen dramatischen Geschichte und Kultur wahrgenommen hat und wo man sehr lange von historisierenden Narrativen der Bedrohung und des Opferseins sich hat einvernehmen lassen, statt zugleich die kriegerische imperiale Ideologie und ihre realen Folgen wahrzunehmen. Bei der Suche nach Gründen für die Polarisierung unter Protestanten bleibt aber letztlich die Frage nach der Recht erhaltenden Gewalt und damit die Frage nach deren Durchsetzbarkeit entscheidend.

In der kritischen Denktradition des Darmstädter Wortes forderte Martin Stöhr bereits in der Auseinandersetzung während des Irak-Krieges 1990/91 die Friedensbewegung auf, ihre Ablehnung gegen Selbstverteidigungswaffen für Israel[3] zu überdenken und nicht „Frieden schaffen ohne Waffen“ zum toten Prinzip zu erheben. Und er fährt fort in Bezug auf das Völkerrecht: „Recht ohne Sanktionsmöglichkeiten, d.h. auch ohne Gewalt, liefert das Recht in die Hände der Mächtigen. Dann verliert es seine Funktion, Minoritäten, bedrohte Gruppen und Völker bzw. deren Rechte und Freiheiten zu schützen“ [4].

Aus dieser kritische Denktradition im Protestantismus sollte auch die Kraft entstehen, sich nicht nur Fehler einzugestehen, sondern im Diskurs auch wieder eine gemeinsame Basis zu finden.

 

[1] Friedensdenkschrift, 2007, vgl. S.65ff Abschnitt: 3.2 »Rechtserhaltende Gewalt« statt »gerechter Krieg«

[2] Die Geschichtsverdrehung und ein geradezu religiös überhöhter Wahrheitsanspruch sind im Original nachzulesen: Josef W.Stalin, Stalinwerke Bd. 13 „Kurzer Lehrgang der KPDSU B“ Ebenso sind darin auch die menschenverachtenden Sprachspiele nachzulesen, die zurzeit wortgleich von führenden Persönlichkeiten Russlands im Gebrauch sind

[3] Es ging um die Frage der Lieferung von Patriot-Abwehrsystemen für Israel gegen Angriffe aus dem Irak

[4] Martin Stöhr: „Von der Notwendigkeit verstärkter Friedensarbeit und von der Notwendigkeit der Selbstkritik“, in: Hrsg: Klaus Müller, Alfred Wittstock „Dreinreden, Essays, Vorträge, Thesen, Meditationen“, Wuppertal 1997

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Franz Grubauer

OKR i. R. Dr. Franz Grubauer, Diplomsoziologe und –pädagoge, leitete von 2008 bis 2018 das Referat für Sozialforschung und Statistik der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Er prägte zuvor lange Jahre als Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland Inhalte und Reformprozesse der Akademien. Ehrenamtlich leitet er als Direktor seit sieben Jahren die Evangelische Stadtakademie Darmstadt. Er ist zudem seit langen Jahren in Organisations- und Unternehmensberatung für den Non-Profit-Bereich aktiv.


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