Publizistische Silberhochzeit

Vor 25 Jahren erschien das EKD-Gesamtkonzept „Mandat und Markt“
Ein Text, der viel verändert hat: „Mandat und Markt“.
Foto: Rolf Zöllner
Ein Text, der viel verändert hat: „Mandat und Markt“.

Ein Zufallsfund in seinem Bücherregal erinnert zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick an Zeiten, in denen auf EKD-Ebene noch strategisch über evangelische Publizistik nachgedacht wurde. 25 Jahre nach dem publizistischen Gesamtkonzept „Mandat und Markt“ stellt sich ihm die Frage: Wäre es wieder an der Zeit, etwas in der Richtung zu versuchen? 

Vor ziemlich genau einem Vierteljahrhundert ergriff der Autor dieser Zeilen den Hauptberuf des Journalisten. Halbwegs spontan, denn der lange angestrebte Berufsweg, hauptberuflich als Pfarrer zu arbeiten, hatte sich zerschlagen. Der Grund: Meine eher kleine Heimatlandeskirche wollte unseren kompletten Vikariatsjahrgang nicht in den Pfarrdienst übernehmen. Zustände, die heute schwer zu begreifen sind, die so schnell nicht wiederkehren werden und die deshalb hier nicht vertieft werden müssen …

Glücklicherweise ergab sich für mich die Möglichkeit, zunächst als Volontär und dann ab 1999 als Redakteur beim Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt zu arbeiten, jener Wochenzeitung, die 1948 vom Hannoveraner Bischof Hanns Lilje gegründet worden war und die in den 1960er-Jahren eine höhere Auflage als die ZEIT hatte. Ende des Jahres 1997 aber sah die Lage dort nicht sehr rosig aus: Seit langem überlebte die Zeitung wirtschaftlich nur durch Millionenzuschüsse der EKD. So konnte es nicht weitergehen, es musste etwas geschehen. Und es geschah etwas, denn als ich in die Redaktion des Sonntagsblatts eintrat, die damals noch in einer Villa am Hamburger Mittelweg residierte, war gerade ein schmales grünes Buch erschienen, das den Titel trug: „Mandat und Markt – Perspektiven evangelischer Publizistik“. Das Buch verstand sich – auch das stand groß auf dem vom Layout her eher anspruchslos gestalteten Buchtitel – als „Publizistisches Gesamtkonzept 1997“, herausgegeben vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Damals war ich so sehr mit dem Ankommen und Fuß fassen beim Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt beschäftigt, dass ich mich nicht erinnere, das grüne Buch in der Hand gehabt zu haben. Aber zumindest in den gehobenen Kreisen der Redaktion war häufig die Rede davon. Vor einigen Monaten aber, als ich in meinem Büro das Bücherregal aufräumte, fiel mir dieses grüne Buch in die Hände, ich hatte es jahrelang gar nicht bemerkt. Auf dem Titel prangt, bemerkenswert unvergilbt, ein Aufkleber mit der Aufschrift „Sperrfrist: 24. September 1997“.

Alle Medien

Neugierig begann ich darin zu lesen. Mandat und Markt enthält im Kern zweierlei: Zum einen eine Auflistung aller Medien in evangelisch-kirchlicher Trägerschaft beziehungsweise mit kirchlicher Beteiligung oder Unterstützung. Alle Genres werden gelistet und gewertet: Angefangen beim Gemeindebrief, über die Kirchengebietspresse, die überregionale Wochenpresse (dahinter verbarg sich damals einzig und allein mein Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt), die Monatspublizistik (dahinter verbarg sich damals noch nicht zeitzeichen, sondern vier andere Publikationen), zudem noch Kinder- und Jugendzeitschriften, Zeitschriften für junge Erwachsene und vieles mehr, um nur im Bereich der Printpublizistik zu bleiben.

Was natürlich damals fast völlig fehlte, war – salopp gesagt – „alles mit Internet“. Die rasante digitale Entwicklung des 21. Jahrhunderts zeichnete sich erst vage am Horizont ab. Es erscheint geradezu rührend, was dazu in Mandat und Markt zu lesen ist. Der Abschnitt „Neue technische Entwicklungen“ beginnt so: „Der Zusammenhang verschiedener Bereiche der Informations- und Kommunikationstechnik, die sich bisher weitgehend getrennt entwickelten (Rundfunk, Unterhaltungselektronik, Telekommunikation und Datenverarbeitung) führt zu sprunghaften Fortschritten herkömmlicher und zur Einführung neuer Anwendungen. (…) Das weltweit nutzbare Internet entwickelt sich zu einem Multimedia-Netzwerk mit immer mehr Nutzerinnen und Nutzern.“

Man ist zunächst versucht, mit Loriot „Ach, was …“ zu sagen, aber andererseits machen solche Lesefrüchte doch bewusst, was für gewaltige Umwälzungen die digitale Revolution in nur einem Vierteljahrhundert mit sich gebracht hat.

Doch zurück zum grünen Buch: In Mandat und Markt werden die verschiedenen Medien und Mediengruppen nach und nach vorgestellt und ihr Aggregatzustand taxiert, wie er sich damals darbot. Dann wurde das publizistische Ziel in ein paar Sätzen umrissen und schließlich eine Empfehlung ausgesprochen, was künftig mit dem Medium geschehen sollte. Das nahm den größten Raum der 152-seitigen Schrift ein.

Was mein Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt anging, so wurde 1997 im Lagebericht festgeschrieben, dass sich die EKD entweder klar für die Subvention der Zeitung entscheiden solle, „im Wissen, daß diese Publikation und Anzeigenaufkommen marktwirtschaftlichen Kriterien nicht genügen kann“. Oder, zweitens, die evangelische Kirche „gibt das Ziel der Herausgabe einer überregionalen Wochenzeitschrift auf zugunsten einer neu zu konzipierenden protestantischen Zeitschrift“. Als Drittes wurde vorgeschlagen, das Sonntagsblatt könnte „integraler Bestandteil der regionalen Wochenpresse“ werden, „entweder als Mantelblatt für die Kirchengebietspresse oder als gesondertes ,Buch‘ innerhalb dieser Zeitungen“.

Ich bestieg also vor einem Vierteljahrhundert mit dem Eintritt in die Hamburger Redaktion des Sonntagsblatts ein sinkendes Schiff, denn sehr bald wurde klar, dass die EKD nicht bereit war, eine „klare Entscheidung für die subventionierte Wochenzeitung“ zu treffen. Allerdings verwandelte sich die Wochenzeitung binnen eines guten Jahres auf Geheiß der EKD und dank des enormen Einsatzes unseres Chefredakteurs und Geschäftsführers Arnd Brummer in die im grünen Buch empfohlene „protestantische Zeitschrift“. Nämlich in Gestalt des Magazins chrismon, das ich mit aus der Taufe heben und bei dem ich dann viele Jahre arbeiten durfte. Lösungsvorschlag zwei aus dem grünen Buch brachte für das Sonntagsblatt zwar das Ende, ermöglichte aber der Redaktion eine Transformation, die seit bald 22 Jahren trägt.

Von vier zu eins

Die Zeitschrift zeitzeichen, die Sie gerade in der Hand halten oder – heute eine Selbstverständlichkeit – in irgendeinem Digitalformat konsumieren, gab es 1997 noch nicht. Stattdessen gab es vier andere bundesweit operierende Monatspublikationen: die Lutherischen Monatshefte in Hannover, die Evangelischen Kommentare in Stuttgart, die Reformierte Kirchenzeitung in Leer und die Zeichen der Zeit aus Leipzig. Für diese vier intellektuell anspruchsvollen protestantischen Monatszeitschriften aus verschiedenen konfessionellen Ecken wurde 1997 im grünen Buch nur eine deutliche Empfehlung ausgesprochen: „Es muss der Weg zur Herausgabe einer anspruchsvollen, öffentlich einflussreichen Monatszeitschrift gefunden werden, welche die Eigenheiten und Vorzüge der vorhandenen Zeitschriften zu einem wirkungsvollen Konzept integriert.“ Diese Empfehlung wurde im Jahr 2000 umgesetzt. Seitdem gibt es mit zeitzeichen – Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft nur noch eine überregionale Monatszeitschrift, die von allen evangelischen Landeskirchen über die konfessionellen Bünde VELKD, UEK und den Reformierten Bund herausgegeben wird.

Im Falle von chrismon und zeitzeichen wurden also die Empfehlungen aus dem Publizistischen Gesamtkonzept umgesetzt, was allerdings unterschiedliche Transformationsgrade erforderte. Die Crew des Sonntagsblatts, jener Wochenzeitung, die sich Ende der 1990er-Jahre zwar nicht mehr in Sachen Auflagenhöhe, aber doch in Sachen Selbstverständnis eher in der ZEIT-Liga wähnte, musste sich zur Redaktion eines Magazins wandeln, die nun im Feld des Corporate Publishing tätig werden musste beziehungsweise auf dem Feld einer qualitativ hochstehenden Öffentlichkeitsarbeit für die EKD. Das war eine große Umstellung, zumal sich das Format der Wochenzeitung zu dem einer kostenlosen monatliche Beilage überregionaler Tageszeitungen wandelte. Anders bei zeitzeichen. Dort ging es in erster Linie nur darum, aus vier Publikationen eine zu machen, aber das journalistische Format wurde beibehalten.

Kooperation gefordert

Im Jahr 1997 gab es mit 18 evangelischen Kirchengebietszeitungen noch ein paar mehr als heute (zum Beispiel den Aufbruch in Baden oder Der Weg im Rheinland) mit einer Auflage von gut 550 000 Exemplaren. Bezüglich dieser „regionale(n) Kirchenpresse“ urteilte das grüne Buch, sie könne sich „nur dann zur qualifizierten, marktorientierten Wochenpresse entwickeln, wenn intensive Kooperationen verwirklicht werden bis hin zur Herausgabe von Mantelblättern mit unterschiedlichen regionalen und lokalen Aufgaben“. Damit war intendiert, dass die Kirchengebietszeitungen ihre regionale Berichterstattung als Mantel um zentral hergestellte, inhaltsgleiche Seiten einfügen sollten – natürlich in erster Linie, um Kosten zu sparen. Ein Prinzip, das die meisten deutschen Tageszeitungen schon lange praktizieren und das bis heute ausgebaut wird, parallel zur Ausdünnung der Redaktionen „vor Ort“, leider.

Anders als das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt und die Vorgängerpublikationen von zeitzeichen wurden hier die Vorschläge aus Mandat und Markt damals nicht umgesetzt, was bei der Vielzahl der Publikationen und der noch größeren Zahl von Kirchenleitungen wenig verwunderlich ist. Zwar gab es immer wieder Zusammenarbeiten verschiedener regionaler Kirchenzeitungen, die sich aber wieder zerschlugen, wobei seit einiger Zeit einige Kirchenzeitungen dieses Modell erneut praktizieren.

1997 hatten die Kirchengebietszeitungen eine Auflage von gut 550 000 Exemplaren. Die aktuelle Gesamtauflage wird heute nicht veröffentlicht, aber dass sie mutmaßlich nur noch ein Fünftel des damaligen Bestands, also knapp 125 000 Exemplare hat, scheint eine realistische Annahme. Den Kirchenleitungen gaben die Autoren von Mandat und Markt damals, 1997, jedenfalls eine klare Empfehlung: „Die Landeskirchen als Zuschußgeber der regionalen Kirchenpresse sollen nachdrücklich die Kooperation der Verlage und Herausgeber der Zeitungen einfordern.“ Allerdings hielten sie auch fest: „Die Überführung der journalistisch unabhängigen Kirchenzeitungen in das Feld der kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit ist keine sinnvolle Lösung. Die Wochenpresse hat eine eigenständige Aufgabe, die nicht durch Inhalte der Öffentlichkeitsarbeit ersetzt werden kann.“

Kirchlicher Journalismus versus kirchliche Öffentlichkeitsarbeit – ein ewiges Thema. Häufig sind die Grenzen nicht klar, besonders kirchlichen Leitungsverantwortlichen nicht, denn diese goutieren den Grundsatz der redaktionellen Unabhängigkeit häufig nur so lange, bis nicht sie selbst oder ihnen liebe Projekte kritisiert werden. Und natürlich gibt es durchaus auch Überschneidungen zwischen beiden Bereichen.

Zu diesen komplexen inhaltlichen Fragen ist in Mandat und Markt viel Interessantes niedergelegt. Aber auch manches, was verwundert und bis heute der inhaltlichen Entschlüsselung harrt, zum Beispiel, dass „die evangelische Publizistik … in Wahrnehmung ihres Mandats selbst zum institutionellen Bestandteil der Kirche“ wird und dass – eigentlich eine Selbstverständlichkeit – „das der evangelischen Publizistik übertragene Mandat (…) ein Ja zur verfaßten Kirche und die Bereitschaft, den Fortbestand der Kirche publizistisch zu stützen“, einschließt. Es gäbe viel zu besprechen, nicht nur für die real existierende kirchliche Printpublizistik, die heute natürlich auch und immer im Raum des Digitalen wirkt, sondern auch im Hinblick auf die unzähligen Formate von Social Media, (Video-)Podcast und so weiter, von denen es in, mit und unter der evangelischen Kirche immer mehr gibt.

Schlussfrage: Braucht die evangelische Kirche ein Vierteljahrhundert nach Mandat und Markt ein neues „Publizistisches Gesamtkonzept“? Antwort: Wohl nicht, denn die Zeiten sind andere. Der Anspruch, kirchliche Inhalte und Strukturen zentral zu regeln, ist vorbei, da sinnlos. Mandat und Markt entstand in den Jahren bis 1997 in einem neoliberal geprägten Umfeld, in dem sich Gedanken des Zentralismus auch im evangelisch-kirchlichen Bereich ausbreiteten. Damals gab es zum Beispiel Kongresse, die „Unternehmen Kirche“ hießen. Heute kaum zu glauben, wo mit Recht Netzwerkdenken en vogue ist, das allerdings noch der Konkretion und Umsetzung harrt.

Aber wäre es nicht trotzdem sinnvoll, wieder grundsätzlich und gemeinsam über kirchliche Publizistik nachzudenken? Und zwar besonders über die, die keine Öffentlichkeitsarbeit ist, sondern die in nicht weisungsgebundenen Redaktionen ganz selbstverständlich und aus Neigung das weite Themenspektrum aus Kirche und Religion in ihrer gesellschaftlichen Verankerung begleitet? Eine Publizistik, die insofern auch regelmäßig die Funktion institutionalisierter kirchlicher Selbstkritik erfüllt? Eine Publizistik, die sich seit Jahrzehnten dem Spagat von Mandat und Markt stellt, weil sie natürlich interessierter und zahlender Kundschaft bedarf, aber die, wie bereits im grünen Buch festgehalten, nicht „gänzlich kostendeckend arbeiten“ kann und insofern auf Zuschüsse angewiesen ist?

Das grüne Buch mit dem weißen Aufkleber steht wieder in meinem Bücherregal. Da steht es gut. Eine Neuauflage in dieser Art ist wohl nicht nötig, klar. Aber ein neuer organisierter Austausch aller interessierten Beteiligten mit der Brücke des Mutterschiffs Kirche? Der wäre an der Zeit. Denn seit 1997 ist eine Menge passiert und eine Menge liegen geblieben. Vielleicht träten neue Vernetzungsmöglichkeiten zutage, die der Sache gut tun. Einen Versuch wäre es wert. Und sicher würde der EKD heute nicht das passieren, was ihr in den 1990er-Jahren bei der Zusammenstellung der Ad-hoc-Kommission für das grüne Buch passierte: elf Männer, keine Frau. Sie glauben es nicht? Doch, doch, es ist wahr. 

 

Information

Auf www.ekd.de sind Teile von Mandat und Markt einsehbar, allerdings ohne den Empfehlungsteil für die einzelnen Medien. Das komplette „Grüne Buch“ von 1997 ist antiquarisch erhältlich. Preis ab Euro 8,50.

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