Trompete des weißen Riesen

Wenn Felsen fallen, geht das unter die (Alabaster)-Haut
Foto: Privat

Alabasterhaut – so lautete im Barock das Schönheitsideal adeliger Frauen, eine weiße, durchsichtig scheinende Haut mit leichtem, unaufdringlichem Glanz. Als Mineral kommt es, wenig exquisit, sehr häufig vor und ist eine Variante des Minerals Gips, ein Baustoff, auf den mein Vater als Asthmatiker besonders heftig allergisch reagierte. Ich habe mich in dieses Mineral in Gestalt der weißen Klippen in der Normandie verliebt, ein langer, mächtiger und erhaben-verspielter Küstenzug – dagegen sind die Kreidefelsen auf Rügen nur die armen Schwestern. Das schönste Küsten-Kino bietet Étretat: Maupassant deutete die Falaise d’Aval als einen weißen Elefanten, der den Rüssel ins Wasser hält. Étretat war und ist ein Inspirationsort für Künstler – und wird im Sommer von Tagestouristen überflutet.

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© Superjuju10, Les Petites Dalles, Normandie

Ich verbringe einige Wochen im Jahr in der Nähe des kleinen Badeortes Les Petites Dalles, der sich von Touristenströme freigehalten hat, obwohl hier 1874 im Schlosshotel die österreichische Kaiserin Sisi (franz.: Sissi) aus Gründen, die jedes Jahr in der Gerüchteküche delikat arrangiert werden, einen Sommer verbrachte. Auch deshalb liebe ich die Alabasterküste: Hitzeperioden fallen bescheiden aus, kein surrender und schnaufender Ventilator stört die Arbeitsruhe, häufiger gießt der Regen mit großer Lust und ein wenig angeberisch die meterhohen Hortensien mit den blauen und rosafarbenen Dolden. In der Badehütte am Strand (auf dem Foto die sechstletzte Hütte von links) habe ich einen prächtigen Blick auf die Falaises, die sich rechts und links stolz erheben. Häufig mache ich einen Spaziergang vom Dorf aus auf die Klippen und laufe zum nächsten Badeort, Grandes Dalles, dann auf dem Rückweg bei Ebbe am Meer vorbei, lege öfter eine Hand auf den Stein, der, anders als der kalte Marmor, die Hitze handwarm speichert. Marmor gegen Alabaster, kalter Logos gegen warmer Eros.

Keine Brüstung, nirgends

Auf dem Hinweg komme ich an einer Stelle vorbei, die gefährlich nah an den Klippenrand führt. Keine Brüstung, nirgends. Diese Stelle hat eine traurige Berühmtheit, denn nahezu jährlich stürzen sich von diesem Punkt aus Menschen in die Tiefe, auch eine Frau, Mutter von zwei noch kleinen Kindern, die im Dorf in einer mächtigen Orangerie Einrichtungsgegenstände vor allem für die Ferienhäuser verkaufte. Häufig habe ich dort kleine Möbel und Seligkeitsdinge erstanden und mich kurz mit ihr unterhalten. Jedes Mal, wenn ich bei den Besuchen an der Alabasterküste am verwaisten Wintergarten vorbeifahre, verkantet sich mein Atem. Noch immer steht das Gesicht der Frau mir konturenscharf vor Augen und verblast nicht.

Bei Ebbe gehe ich gerne weit raus, um einen Weitwinkel-Blick auf die Klippen zu werfen. Ich lese sie als alte, leicht verwitterte Papiere, die eine mit wenigen Schnörkeln auskommende Handschrift, die sich eingeritzt hat, verraten. Oben am Rand sind Einkerbungen und Abbruchkanten auszumachen, dann wird die Schrift nahezu unleserlich, verlangt kreative Fantasie, um die Lücke sinnfüllend zu schließen. Aber es gibt auch Wundmale in der Schrift, dort, wo jüngere Abgänge helle oder bereits verwitterte Narben geschlagen haben. Eine neue Herausforderung für die Dechiffrierkunst. Eine kleinteilige Klippenschrift, die nicht einmal google translate entziffern kann.

Natürlich warnen Schilder davor, sich bei Flut zu nah an den Steilfelsen vorbei zu zwängen. Und doch ist die Versuchung groß, den Handteller auf den warmen Stein zu drücken, sich mit dem Rücken in eine kleine Ausbuchtung zu lehnen, um die abstrahlende Wärme an Tagen, an denen die Wolken einen entschlossenen Spaß daran finden, sich dauernd vor die Sonne zu schieben, am ganzen Körper zu spüren, eine Umarmung, die auch erschaudern lässt, weil sie dem verbotenen Noli me tangere nicht nachkommt.

Übermächtiger Trompetenstoß

Das Meer kennt an dieser Stelle ein eigenes Abstandsgebot, schützt sich vor dem Ansturm der Badewilligen durch den Steinstrand, eine kibbelige Barriere, die zunächst überwunden werden muss, bevor der Körper leicht wird. Wer ohne passendes Schuhwerk ins Wasser will, führt eine unwürdige Choreographie auf, die sich wiederholt, wenn der steinige Weg zurück aus dem Wasser zum Handtuch oder zur Badehütte ansteht. Ohne Würde darf man sich diesem Wasser nicht nähern. Der Steinstrand in Les Petites Dalles, darin unterschieden von den verlotterten Sandstränden in Cabourg, hält auf sich.

Und dann ist es doch einmal passiert. Der weiße Riese trompetete. Ich saß vor der Hütte, ein fetter Roman lag beleidigt, weil ich ihm keine Aufmerksamkeit schenkte, auf den Knien, ich döste etwas, blinzelte zum Strand, eingehüllt von dem tröstlichen Geschrei und Lachen der Badenden. Dann mischte sich ein zunächst leises, dumpfes Knarzen und Grollen in das festliche Lärmen und zerstörte als übermächtiger Trompetenstoß den Spaß. Plötzlich trat eine schauderhafte Stille ein, alle Köpfe richteten sich wie in einer geheimen Choreographie Richtung Klippen. Die Zeit dehnte sich im Schrecken, bis Namen gerufen wurden, ängstlich, oft kreischend. Gott sei Dank war noch Flut, die Orte, wo Kinder bei Ebbe nahe der Felsen häufig Muscheln suchten, waren unter Wasser. Durch das Megaphon forderte der Bademeister, vom Schreien alarmiert, dazu auf, einen Teil des Strandes zu räumen und Personen, die vermisst würden, sofort zu melden. Polizei und Feuerwehr erschienen. Ein Chaos blieb aus, der Schrecken geordnet.

Es war nicht eine markante Nase am Gipfelrand, die ich stets für riskant und abbruchgefährdet gehalten hatte, die sich gelöst hatte, sondern aus der Mitte der Klippe war ein mächtiger Teil abgerutscht. Wir standen lange in großen Trauben nebeneinander. Ein Hüttennachbar bot mir einen Calvados an, das ist der Tröster der Normandie. Jeder kannte eine Geschichte eines Abgangs, oft lagen sie Jahre, sogar Jahrzehnte zurück. Aber: Nein. Verzichten wolle man nicht darauf, an den Klippen vorbei zum nächsten Badeort zu wandern. Im gebührenden Abstand natürlich. Und möglichst bei Ebbe. An diesem Abend waren die Restaurants, obwohl Nachsaison war, überfüllt. Ein rotes Absperrband erinnerte am nächsten Tag an das Beben. Erst am letzten Ferientag traute ich mich, zu der Klippe zu gehen und meine Hand auf das warme Gestein dieses weißen Riesen zu drücken. Aufgeschreckt, verwundert, demütig und dankbar.

Lesetipp:

Gert Heidenreich: Der Fall. Kriminalroman, Stuttgart 2014.

Gert Heidenreich: Die Steinesammlerin von Etretat, Neuausgabe Hamburg 2004.

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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