„We gon’ be alright“

Max Tretter befasst sich in seiner Dissertation mit Hip-Hop und „Black Lives Matter“
Max Tretter
Foto: Isabella Auer/Christian Gürtler

Hip-Hop dient nicht nur der Unterhaltung, sondern ist ein politisches Ausdrucksmittel. Das zeigt sich besonders in den großen „Black Lives Matter“- Protesten in den USA. Max Tretter (30) vom Lehrstuhl für Systematische Theologie (Ethik) der Universität Erlangen-Nürnberg untersucht in seiner Dissertation, wie solche ästhetischen Formen in der Öffentlichkeit wirken und wie sich die Theologie dazu positionieren kann.

Lassen Sie uns gemeinsam auf eine kleine Reise gehen. Eine Reise zurück in den Sommer 2020, als die „Black Lives Matter“-Proteste anlässlich der Ermordung George Floyds gerade ihren Höhepunkt erreichten. Unser erster Stopp ist Washington, D. C., wo sich eine große Menge von Demonstrierenden auf der „Black Lives Matter“-Plaza versammelt hat. Während wir dieses Protestgeschehen verfolgen, nehmen wir wahr, dass aus großen Lautsprecherboxen plötzlich Musik erklingt. Anfangs ist der Song unter dem Stimm- und Rufgewirr der Protestierenden kaum zu hören, doch bereits kurze Zeit später – gerade erklingt der Refrain des Songs, den wir nun als Kendrick Lamars „Alright“ identifizieren können – stimmen viele der Versammelten mit ein und singen die Zeilen „we gon‘ be alright“ lautstark mit.

Unser zweiter Stopp führt uns ins spätnächtliche New York City. Dort können wir beobachten, wie „Black Lives Matter“- Protestierende von einer Reihe schwer gerüsteter Polizistinnen und Polizisten daran gehindert werden, die Manhattan Bridge zu überqueren und ihren Protestzug fortzusetzen. In dieser „festgesetzten“ Situation beginnen erst einige, dann immer mehr Protestierende, der Polizei die Worte „move bitch, get out the way, get out the way, bitch, get out the way“ – hierbei handelt es sich um Verse aus einem Song des Rappers Ludacris – rhythmisch entgegen zu skandieren. Die Art und Weise, wie ich diese Szenen schildere, lässt wahrscheinlich schon durchblicken, dass es sich hierbei nicht um fiktive Situationen handelt. Vielmehr haben sich die geschilderten Ereignisse im Juni 2020 tatsächlich so zugetragen und wurden auf Social Media geteilt. Dort bin auch ich in der frühen Orientierungsphase meiner Dissertation über sie „gestolpert“ – und war sofort angefixt. Als jemand, der dieses Genre leidenschaftlich hört und eine tiefe Verbundenheit gegenüber der Kultur pflegt, weckt Hip-Hop unabdingbar mein Interesse. Und als Systematischer Theologe mit großer Affinität für Themen des Politischen wächst dieses Interesse nochmals an, wenn Hip-Hop für politische Zwecke auf die Straße gebracht wird.

Genau damit haben wir es in beiden eingangs geschilderten Szenen zu tun: mit Hip-Hop, der nicht bloß zu Unterhaltungszwecken gespielt und gesungen wird, sondern der gezielt in „Black Lives Matter“- Protestkontexte eingebracht wird, um dort als eine Form des politischen Ausdrucks in der Öffentlichkeit zu fungieren.

Doch mit der Faszination über diese Verwendung von Hip-Hop taten sich zugleich Folgefragen auf: erstens danach, welche Wirksamkeit diese Form des politischen Ausdrucks in der Öffentlichkeit entwickelt; zweitens danach, wie wir uns als protestantische Theologinnen und Theologen zu solch ästhetischen Artikulationen in der politischen Öffentlichkeit positionieren können. Denn auf der einen Seite dient Hip-Hop hier als Sprachrohr marginalisierter Gruppen und wird für Zwecke ins Feld geführt, die absolut unterstützenswert sind: den Kampf gegen strukturellen Rassismus und überzogene Polizeigewalt. Auf der anderen Seite geschieht dies teils jedoch auf eine Weise, die selbst fragwürdig erscheint: wenn etwa Polizistinnen und Polizisten misogyn als „bitches“ beleidigt werden.

Beiden Fragen bin ich in meiner Dissertation interdisziplinär nachgegangen, indem ich unter anderem politiktheoretische, philosophische und theologische Ansätze miteinander kombinierte und auch Ansätze der Hip-Hop und African American Studies heranzog. Mein Ziel war es, theoretische Wahrnehmungs- und Beurteilungswerkzeuge zu entwickeln, die es ermöglichen, präzise wahrzunehmen, welche öffentliche Wirksamkeit derlei ästhetische Artikulationen entfalten, und begründet Stellung gegenüber diesen spezifischen Ausdrucksformen zu beziehen.

Die Entwicklung des anvisierten Wahrnehmungswerkzeugs gestaltete sich verhältnismäßig geradlinig. In Auseinandersetzung mit verschiedenen Öffentlichkeitstheorien identifizierte ich mehrere Perspektiven, die dazu genutzt werden können, die öffentliche Wirksamkeit ästhetischer Momente wahrzunehmen.

Das Beurteilungswerkzeug zu entwickeln, erwies sich als deutlich komplizierter. Denn auf der einen Seite lag mir daran, eine kritische Perspektive einzunehmen und diejenigen Ausformungen und Verwendungsweisen des Hip-Hops, die problematisch sind – etwa die „bitches-Ansprache oder andere Formen von Sexismus oder gruppenbezogener Feindlichkeit –, nicht unkommentiert stehen zu lassen. Auf der anderen Seite war es mir äußerst wichtig, zu vermeiden, als Weißer Mann aus einem westlichen Kanon heraus Kriterien zu entwickeln, an denen sich Hip-Hop – eine ästhetische Ausdruckskultur, die eng mit der Lebenssituation Schwarzer Personen in den USA verbunden ist – bei „Black Lives Matter“-Protesten vermeintlich messen lassen soll.

Um solche Übergriffigkeit so weit wie möglich zu vermeiden, wählte ich ein rekonstruktionshermeneutisches Verfahren: Ich arbeitete zuerst heraus, welche Anliegen in der Hip-Hop-Kultur selbst verkörpert sind und sich in Schwarzen Befreiungsbewegungen finden lassen. Diese brachte ich dann mit diversen philosophischen wie theologischen Ansätzen – unter anderem der Black Theology und der Öffentlichen Theologie – ins Gespräch. Dies erlaubte es mir, die Konturen dieser Anliegen zu schärfen und sie als fundierte Beurteilungskriterien zu plausibilisieren, die es ermöglichen, konkrete Formen des Hip-Hops beziehungsweise Hip-Hop-Artikulationsformen in öffentlichen (Protest-) Kontexten gleichermaßen sensibel wie begründet zu beurteilen und gegebenenfalls immanent zu kritisieren.

Die Ergebnisse meiner Forschung habe ich Anfang Februar 2024 offiziell als Dissertation eingereicht. Doch damit ist das Thema für mich nicht abgeschlossen. Mein Plan ist es, auch in Zukunft weiter am und mit Hip-Hop zu arbeiten und zu fragen, was wir gerade in Deutschland – in den USA ist die akademische Auseinandersetzung mit Hip-Hop schon deutlich weiter – als Evangelische Theologie und Ethik von ihm lernen können. Denn als eine der einflussreichsten (Jugend-)Kulturen der Gegenwart bietet Hip-Hop tiefe Einblicke in urbane Lebensformen, die Herausforderungen, mit denen Personen alltäglich konfrontiert sind, sowie die dort tradierten Vorstellungen und Werte. Darüber hinaus ist Hip-Hop insgesamt auch viel zu faszinierend, um ihn theologisch wie ethisch nicht zu beachten. Aber vielleicht bin ich an dieser Stelle auch einfach ästhetisch voreingenommen. 

Aufgezeichnet von Kathrin Jütte

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Foto: privat

Max Tretter

Max Tretter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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