Sagen, was an der Zeit ist

Eine Nachlese zu Quinton Ceasars Abschlusspredigt beim Nürnberger Kirchentag
Schlussgottesdienst des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentages am 11. Juni 2023 auf dem Nürnberger Hauptmarkt.
Foto: T. Hartmann
Schlussgottesdienst des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentages am 11. Juni 2023 auf dem Nürnberger Hauptmarkt.

Die Abschlusspredigt von Pastor Quinton Ceasar auf dem Nürnberger Kirchentag sorgt nachhaltig für Aufsehen, besonders durch die Formel „Gott ist queer“. Ulrich Körtner, Professor für Systematische Theologie in Wien, findet darin Licht und Schatten und setzt sich mit bisherigen Reaktionen auf zeitzeichen.net auseinander.

Zugegeben, ich habe Quinton Ceasars Predigt nicht gehört, sondern nur gelesen. Das allerdings mehrmals. Rückblickend kann man sagen, dass sie zum Schlüsseltext des Nürnberger Kirchentages avanciert ist. Diese Ansprache wird vielleicht mehr Erinnerung bleiben als so manche vollbesetzte Podiumsveranstaltung, wenngleich zu befürchten steht, dass schlussendlich nur der provokante Satz: „Gott ist queer“ im öffentlichen Bewusstsein hängen bleibt. Dabei verdient es die Predigt, zur Gänze gelesen und diskutiert zu werden, wie es beispielsweise Horst Gorski in einem lesenswerten Beitrag auf zeitzeichen.net getan hat. Die Sachdiskussion wird allerdings dadurch erschwert, dass sich der Prediger rassistischer Hetze, offenem Hass und Häme ausgesetzt sieht, die auf das Schärfste zu verurteilen sind. Kritik in der Sache kann in den Verdacht geraten, in Wahrheit eine rassistische oder postkoloniale Agenda zu verfolgen.

Ceasar vertritt einen hohen moralischen und theologischen Anspruch, wenn er – in Anspielung an eine Redewendung aus seiner Kindheit – leitmotivisch mehrfach versichert, er wolle seine Zuhörer und -hörerinnen nicht anlügen. Der Prediger will Zeuge der Wahrheit sein. Das ist gut so, wird doch die Frage nach der Wahrheit heutzutage allzu gern relativiert, und zwar nicht nur im Zeichen von Fake News und „alternativen Fakten“, sondern auch in Theologie und Kirche.

Brennpunktartig spricht die Predigt Themen an, die den evangelischen Mainstream bewegen, der sich auf evangelisch.de oder im Magazin chrismon präsentiert: Diversität, Genderdebatte, Postkolonialismus und Rassismuskritik, Klimaschutz, Asyl- und Migrationspolitik. Zum Ukrainekrieg und zur Friedensethik verliert der Prediger hingegen kein Wort, obwohl doch auch dieses Streitthema auf dem Kirchentag präsent war. Beobachter des Kirchentages haben festgestellt, dass die seit Beginn der 1980er-Jahre bestehende Allianz zwischen evangelischer Kirche und Friedensbewegung deutliche Risse zeigt. Insofern passt Ceasars Predigt ins Bild.

Phänomen kirchlicher Popkultur

Was nach prophetischer Zeitansage und Aufruf zur Umkehr klingt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Phänomen einer kirchlichen Popkultur, wie Horst Gorski gut beobachtet hat. „Die Predigt bleibt schillernd. Trotz klarer Sachaussagen bleibt Spielraum, in die Metaphorik hineinzuhören, was man selber hören möchte. Der Prediger wird in dieser schillernden Gemengelage zu einer ‚Marke‘ – was notwendige Voraussetzung für einen popkulturellen Status ist.“

Zur spannungsvollen Mischung des Textes und der Performance gehören nicht nur seine schillernden Aussagen, sondern auch die Rhetorik des „Ihr“ und „Wir“, mit welcher der Prediger spielt. Sie oszilliert zwischen Abgrenzung und Vereinnahmung.

Spricht Ceasar seine Hörerschaft eingangs als „liebe Gemeinde“ und als Geschwister an, so unterscheidet er im weiteren Verlauf der Predigt zwischen sich und denen, die er im engeren Sinne als seine Geschwister und anderen Anwesenden unterscheidet. Die geschwisterliche Gemeinschaft im Glauben wird im Grunde in Frage gestellt, wenn Ceasar von sich und seinen Geschwistern spricht, die für sich in Anspruch nehmen, Kirche zu sein, in den Kirchen der anderen – „in euren Kirchen“ keinen sicheren Ort haben. „Meine Geschwister und ich […] vertrauen eurer Liebe nicht“, kurz: Wir vertrauen euch nicht, weil Ihr „meine Geschwister und mich diskriminiert – wegen unseres Einkommen, unserer Hautfarbe, unserer Behinderung oder unserer queeren Identität“.

Ruf zur Umkehr

Das „Wir“, in dessen Namen zu sprechen sich Ceasar autorisiert fühlt, sind „Menschen, die Veränderungen anstreben, Aktivist*innen und marginalisierte Menschen“. Es sind Menschen, „die das Gute wollen“ und sich bereits auf dem richtigen Weg befinden, während an die übrigen Menschen – „Menschen, die keine Diskriminierungen erfahren und auch nicht sehen, dass andre sie erfahren“ – der Ruf zur Umkehr ergeht.

Konkret heißt das, sich Ceasar und seinen Mitstreitern anzuschließen und in ihr Bekenntnis, ihre Zeitansage einzustimmen: „Wir sind alle die Letzte Generation. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Black lives always matter. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: We leave no one to die. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Wir schicken ein Schiff. UND wir empfangen Menschen in sicheren Häfen. Safer spaces for all.“

Das klingt griffig und handfest auf den Punkt gebracht, ist aber doch schillernd und weckt Rückfragen. Die Absage an jede Form von Rassismus, die aus der Parole „Black lives always matters“ spricht, darf in Kirche und Gesellschaft mit ungeteilter Zustimmung rechnen. Sie versteht sich allerdings keineswegs von selbst, wenn es darum geht, selbstkritisch auch subtile Formen von Rassismus zu erkennen und zu überwinden. Ceasar benennt insofern einen wunden Punkt.

Moralische Pflicht zur Solidarisierung?

Was aber soll genau heißen, dass „wir alle“ die Letzte Generation sind? Augenscheinlich soll die Haltung der EKD bekräftigt werden, die sich mit der gleichnamigen Klimaschutzbewegung solidarisiert hat. Soll Ceasars prophetische Zeitansage dazu dienen, sich gegen jede Kritik am Auftritt der Letzten Generation auf der EKD-Synode im November 2022 zu immunisieren? Soll sich die Kirche mit den Zielen der Bewegung solidarisieren oder auch mit ihren Methoden? Gilt die Solidarisierung auch dem fragwürdigen Verständnis der „Letzten Generation“ von Demokratie und Rechtsstaat? Ist es Christenpflicht, gegen die Ermittlungen zu protestieren, die gegen die Organisation wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung laufen? Hat die Kirche die moralische Pflicht, sich mit denen zu solidarisieren, die wegen Nötigung und Sachbeschädigung rechtskräftig verurteilt worden sind oder wegen der Ankündigung fortgesetzt Straftaten begehen zu wollen, in Präventivhaft genommen werden? Stellt sich hier gar die Frage des status confessionis? Hier besteht nach wie vor erheblicher Diskussionsbedarf innerhalb der evangelischen Kirche.

Das gilt auch für die Forderung: „Wir schicken ein Schiff. UND wir empfangen Menschen in sicheren Häfen.“ An die Zusammenarbeit der EKD mit der Organisation Sea Watch im Bündnis „United4Rescue“ hat man sich in der evangelischen Kirche augenscheinlich gewöhnt. Ceasars Zeitansage liest sich als „weiter so!“ Aber was hat die EKD substantiell zur laufenden Diskussion über Änderungen in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik beizutragen? Eine Politik der offenen Grenzen führt zu gesellschaftlichen Verwerfungen, auf welche die Kirche bislang keine überzeugenden Antworten gibt.

Und dann wäre da noch der Satz: „Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer.“ Als neue Bekenntnisformel ist er, wie Horst Gorski zu recht kritisiert, nicht tragbar. Der theologische Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtsbereiches der VELKD möchte den Satz stattdessen als „diskursiven Aneignungssatz“ lesen, der besage: „Er ist auch mein Gott, unser Gott“.

Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart

Hier geht es nun allerdings auch im Gespräch mit Gorski ans theologisch Eingemachte, wobei theologisch einiges miteinander vermischt wird. Gorski steigt bei der dogmatischen Lehre des IV. Laterankonzils 1215 ein, wonach bei aller Ähnlichkeit, die zwischen Gott und seiner Schöpfung ausgesagt wird, die Unähnlichkeit überwiegt. Grundlage diese Aussage ist die Lehre von der Analogia entis, also die These von der seinsmäßigen Entsprechung zwischen Gott und seiner Schöpfung. Sie spielt eine tragende Rolle in der Lehre von den göttlichen Eigenschaften, zu denen klassisch seine Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, seine Güte und Barmherzigkeit, seiner Heiligkeit und seiner Gerechtigkeit zählen. Davon ist nochmals die Besinnung auf den grundlegend metaphorischen Charakter jeder Rede von Gott zu unterscheiden. Auf sie zielt Gorski ab, wenn er feststellt, Gott sei weder Vater noch Mutter noch Adler oder Burg – und eben auch nicht queer.

Ob man dem Satz, dass Gott queer ist, zustimmen oder widersprechen möchte, hängt freilich auch davon ab, welche Bedeutung des Wortes „queer“ zu Grunde gelegt wird. In einem für die Debatte hilfreichen Beitrag unterscheidet Ruth Heß vom EKD-Studienzentrum für Genderfragen zwischen vier möglichen Bedeutungen: 1. ‚queer‘ als ambivalente bis negative Beschreibung für beliebige Sachverhalte, 2. ‚queer‘ als Schmähwort für Homosexuelle, 3. ‚queer‘ als positive Selbstbezeichnung für verschiedene sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten, 4. ‚queer‘ als Identitätskritik. Je nachdem, welche Bedeutung gemeint ist, bekommt der Satz „Gott ist queer“ einen anderen Sinn.

Nun besteht allerdings nochmals ein kategorialer Unterschied zwischen unterschiedlichen bildhaften Ausdrücken für Gott und seiner Benennung als Vater, ist doch die Rede vom Vater neben dem Sohn und dem Heiligen Geist tragender Bestandteil der christlichen Rede vom dreieinigen Gott. Auch ist die Anrede Gottes als Vater – auch wenn wir uns ihres metaphorischen Charakters stets bewusst sein sollten – durch das Vaterunser, das Jesus seine Jünger zu beten gelehrt hat, für den christlichen Glauben grundlegend. Dass ausgerechnet der Vatername nicht zu den 99 Namen Allahs im Islam gehört, sei nur am Rande angemerkt. Die Probleme der christlichen Trinitätslehre im Detail zu diskutieren, würde an dieser Stelle zu weit führen. Im christlichen Kontext lässt sich über die Sinnhaftigkeit oder Unangemessenheit der Aussage „Gott ist queer“ theologisch jedenfalls nur im Zusammenhang mit der Rede von der Dreieinigkeit oder Dreifaltigkeit Gottes diskutieren.

Stets der ,Ganz Andere‘

Ruth Heß spricht das Thema nur beiläufig kurz an, und Horst Gorski bleibt in dieser Frage meines Erachtens zu unbestimmt. Für ihn ist Gott stets „der ‚Ganz Andere‘, das Geheimnis der Welt“. Der erste Teil der Aussage stammt von Karl Barth, der zweite von Eberhard Jüngel. Beide stehen allerdings für einen offenbarungstheologischen Ansatz, der bei Gorski nicht zum Tragen kommt und auch sonst in der gegenwärtigen Theologie eher eine Minderheitenposition darstellt. Von Gottes Selbstoffenbarung hört man in kirchlichen Äußerungen heutzutage nur wenig, und auch Gorski weiß nicht von seiner Offenbarung, sondern nur von Gottes Verborgenheit zu sprechen. „Gottesprädikationen“, so liest man bei Gorski, „sagen letztlich nichts über Gott, der der Verborgene bleibt.“ Deshalb müsse auch niemand das versuchsweise rhetorische Spiel mit neuen Gottesbezeichnungen für Blasphemie halten.

Die Rede vom verborgenen Gott spielt insbesondere bei Martin Luther eine zentrale Rolle. Sie gewinnt ihr theologisches Profil freilich in Luthers Unterscheidung zwischen dem verborgenen und dem offenbaren Gott. Das aber ist der gepredigte, verkündigte Gott des Evangeliums. Und auch wenn Eberhard Jüngel von Gott als Geheimnis der Welt spricht, meint er das Geheimnis, das im Evangelium offenbar geworden ist, ohne darum seinen Charakter als Geheimnis zu verlieren. Mit einem halbierten Luther und einem verkürzten Jüngel lassen sich die theologischen Herausforderungen der Gegenwart nicht bewältigen. Meines Erachtens ist es Zeit, das Anliegen einer Theologie der Selbstoffenbarung Gottes neu zur Geltung zu bringen.

Unverkürzt sollte auch noch einmal das Bibelwort nachgelesen werden, aus dem das Motto des Kirchentages stammte und über das Ceasars Predigt ging. In Markus 1,15 sagt Jesus: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“ Für Zeit steht im griechischen Text das Wort kairós. Das ist die rechte Zeit, die erfüllte Zeit, nicht die leere Zeit des immer Gleichen.

Man muss zwischen dem Wort Jesu und dem berühmten Wort aus Kohelet, dem Prediger Salomo, wonach alles seine Zeit hat (Kohelet 3), keinen Gegensatz konstruieren, wie es Ceasar in seiner Predigt tut. Dass alles seine Zeit hat, gilt auch von der anbrechenden Gottesherrschaft. Nicht die Aussage als solche, dass alles seine Zeit hat, sondern ihr Missbrauch als Vorwand, um anstehende Entscheidungen zu vertagen, ist das Problem. Alles hat seine Zeit: Eben jetzt ist die Zeit!

Gängiger kirchlicher Jargon

Worin aber besteht die anbrechende Gottesherrschaft, und was ist das Evangelium? Kann man wirklich sagen, mit dem Auftreten der Letzten Generation und so weiter ist das Reich Gottes nahe herbeigekommen? Wird hier nicht eine zugegebenermaßen entscheidungsträchtige Zeit mit dem großen Kairos Gottes verwechselt, um eine Begrifflichkeit des evangelischen Theologen Paul Tillich zu gebrauchen? Und erschöpft sich das Evangelium wirklich in der Aussage Ceasars, dass Gott immer auf der Seite derer steht, „die am Rand stehen, die nicht gesehen oder nicht benannt werden“, und dass er parteiisch ist? Das ist heute zwar gängiger kirchlicher Jargon, aber doch keine erschöpfende Auslegung dessen, was Tod und Auferstehung Jesu für uns Menschen und die Welt bedeuten.

Gorski deutet Ceasars Predigt als Beispiel für eine neue Phase der Inkulturation des Evangeliums. Als Stationen aus der Vergangenheit nennt er die hellenistische Kultur, Luther rund die Reformation, europäische Aufklärung und Pietismus. „in den vergangenen Jahrzehnten“, so Gorski, „galten offene Gesellschaft, Toleranz und Freiheit als Erfüllung des Evangeliums. Und nun kommen Diversität, queere Lebensstile, Rassismuskritik und Netzwerklogiken von Kommunikation und Leitung hinzu.“

Ob Diversitäts- und Identitätspolitiken, Genderdiskurs, postkolonialistische Theologien und Netzwerklogiken, nach denen die Kirche neue Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Akteuren schmiedet, die Inkulturationsdynamik des Evangeliums nur erweitern oder vielleicht auch zu theologischen Auflösungserscheinungen führen, ist gegenwärtig eine Streitfrage, die den christlichen Glauben, das reformatorische Erbe und die Zukunft der evangelischen Kirche in ihrem Kern betrifft. Quinton Ceasar ist Optimist, wie er am Ende seiner Predigt sagt. Horst Gorski zeigt sich, nicht zuletzt unter dem Eindruck von Ceasars Predigt, hoffnungsfroh gespannt. Zuversicht ist ein Grundzug des Glaubens. Notwendige Abschiede und Neuaufbrüche werden freilich von Anzeichen theologischer Auszehrung begleitet, die Anlass zu ernster Sorge geben. Es ist Zeit, sich diesen redlich zu stellen.

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