Unmögliches möglich

Klartext
Foto: Privat

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Wandel. Er ist Mitarbeiter von zeitzeichen.

Gut katholisch

6. Sonntag nach Trinitatis, 16. Juli

Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht  hat Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei  deinem Namen gerufen; du bist mein! (Jesaja 43,1)

Der zweite Teil dieses Verses wird oft zitiert, vor allem bei evangelischen Taufen, Trauungen und Beerdigungen. Und Protestantinnen und Protestanten, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, dürften die Worte vertraut und ans Herz gewachsen sein. Aber viele dürften übersehen, dass Gott sich hier nicht einem einzelnen Menschen zuwendet, sondern einem Kollektiv, und zwar Jakob und Israel, sprich: den Juden.

Dies zu unterschlagen, wäre fahrlässig. Auch in Jesaja 43 wird deutlich, wie wichtig für die protestantische Frömmigkeit Texte des Alten Testamentes sind, auch solche, die sich wie der oben zitierte Vers an die nach Babylon verschleppten Juden richten. Vor acht Jahren behauptete ein Berliner Theologieprofessor, dass „wir“ (die Christen) „faktisch“ den Texten des Alten Testamentes „in unserer Frömmigkeitspraxis einen minderen Rang“ zuerkennen im Vergleich zu den Texten des Neuen Testaments. Dabei lesen fromme Protestanten jeden Tag die Herrnhuter Losung, ein Vers, der dem Alten Testament entnommen ist. Jeden Sonntag enden Gottesdienste in evangelischen Landeskirchen mit dem Aaronitischen Segen. Die Geschichte von der Befreiung der Juden aus der ägyptischen Sklaverei war für christliche Sklaven in den USA eine Quelle der Hoffnung. Die Erzählung von Josef und seinen Brüdern hat nicht nur Juden inspiriert. Und in dem Abschnitt Jesaja 43, 1–7, der heute in der Predigt ausgelegt wird, können Christen den Gott erkennen, den Jesus als „Vater“ angesprochen und den Paulus Nichtjuden erschlossen hat. Daher ist es verständlich und legitim, wenn Christen Vers 1 auf die Taufe beziehen. Denn durch sie bekräftigt Gott, dass der Getaufte sein ist. Und es gibt immer noch einen Bezug der Taufe zur Namensgebung, auch wenn Täuflinge in katholisch geprägten Gegenden meist nicht mehr den Namen der Heiligen tragen, an deren Gedenktag sie geboren wurden.

Die Taufe hat aber nicht nur einen individuellen, sondern auch einen kollektiven Aspekt. Sie wird in einer christlichen Konfession an einem bestimmten Ort vollzogen. Und das begründet in Deutschland in der Regel die Mitgliedschaft in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Aber darüber hinaus, letztlich, wird der Täufling „in die eine heilige katholische Kirche“
(ecclesia sancta catholica) aufgenommen, die im Apostolischen Glaubensbekenntnis bekannt wird. Wem „katholisch“ zu sehr nach Papstkirche klingt, sollte wenigstens das Adjektiv „universal“ benutzen. Das drückt wie „katholisch“ das Wesen, den Markenkern der Kirche aus: Sie überwölbt Familien, Nationen, Kulturen und die christlichen Konfessionen, zu denen auch die römisch-katholische, die griechisch-katholische und die alt-katholische Kirche gehören.

 

Ort für Fremde

7. Sonntag nach Trinitatis, 23. Juli

Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen. (Apostelgeschichte 2,41)

Früher war alles besser – könnte man meinen, wenn man sich in Religionsstatistiken vertieft. Als ich 1952 in Stuttgart geboren und getauft wurde, waren rund 70 Prozent der Bevölkerung evangelisch und 24 Prozent römisch-katholisch. Nur bei 6,4 Prozent stand in der Rubrik Religionszugehörigkeit: „sonstige/keine“. 70 Jahre später, am Ende des vergangenen Jahres, waren nur noch 20,7 Prozent der Stuttgarterinnen und Stuttgarter evangelisch und 20 Prozent römisch-katholisch. Die Zahl der Muslime wird auf 10 Prozent geschätzt. Und 49 Prozent dürften konfessionslos sein.

Früher war alles besser – könnte man meinen, wenn man den Abschnitt aus der Apostelgeschichte liest oder hört, der heute auf den Kanzeln der deutschen Landeskirchen ausgelegt wird. Er beginnt in Vers 41 mit einer Erfolgsmeldung (siehe oben) und endet in Vers 47 mit einer solchen: „Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.“

Aber verklären sollte man weder die Urgemeinde, die die Apostelgeschichte beschreibt, noch den Aufschwung der beiden deutschen Großkirchen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Parolen wie „Wachsen gegen den Trend“ nimmt niemand mehr in den Mund. Denn die Statistiken spiegeln nun einmal eine zunehmende Entkirchlichung und den damit verbundenen Traditionsabbruch. Aber: Die Geschichte ist offen. Für diese Erkenntnis, die manchen erst beim Zusammenbruch des Kommunismus bewusst wurde, braucht man nicht einmal Gott zu bemühen. Aber gerade Christen sollten damit rechnen, dass möglich werden kann, was selbst sie für unmöglich halten. Warum sollte es nicht wieder Erweckungen und geistige Umbrüche geben, die die Kirchen erneuern und beleben, wie so manches Mal in der Geschichte?

Aber vorher, jetzt, sollten die Kirchen einfach das tun, was – oft ohne allzu großen Aufwand – möglich ist: Dazu gehört: Die „Lehre der Apostel“ neu bedenken und so auslegen, dass die Zeitgenossen sie verstehen. Und in einer Zeit, in der Menschen flexibel sein und oft umziehen müssen, sollten Kirchengemeinden die Chance als Anlaufpunkte für Neuzugezogene nutzen, die sich in einer fremden (Groß-)Stadt orientieren müssen. Dabei wäre schon viel gewonnen, wenn es nach dem Gottesdienst einen Kirchenkaffee gibt und dort nicht nur Bekannte zusammenglucken, sondern man auf Fremde zugeht. Und Geistliche sollten zeigen, auch vormachen, wie man richtig betet. Ob und wie solche – und andere, noch bessere – Ideen wirken, sei Gott anheimgestellt.

 

Gute Werke

8. Sonntag nach Trinitatis, 30. Juli

Ihr seid das Salz der Erde …Ihr seid das Licht der Welt. (Matthäus 5,13–14)

Lange habe ich die beiden Aussagen als Aufforderung verstanden, als Imperativ: „Seid!“ und nicht als Feststellung, als Indikativ: „Ihr seid“. Dass ich intuitiv beides vermischte, war wohl kein Zufall. Jedenfalls betont der Göttinger Neutestamentler Georg Strecker (1929–1994) in seinem Bergpredigt-Kommentar 1984 mit Blick auf die beiden Aussagen: „Dieser Indikativ, die Zustandsbeschreibung der Jüngerschaft ist vom Imperativ nicht abzulösen.“

Meinen Glauben haben Menschen geprägt und befördert, die ein „Christentum der Tat“ auszeichnete. Am Anfang stand meine Mutter, die mich freiheitlich erzog und die gegen die Prügelstrafe kämpfte, die in den Sechzigerjahren nicht nur in Familien, sondern auch in Schulen verbreitet war. Mit fünf Jahren hatte ich im Kino den damals erschienenen Dokumentarfilm Albert Schweitzer gesehen.

Als ich 15 und 16 Jahre alt war, las ein junger Pfarrer mit uns Texte von Martin Luther King. Und als Theologiestudent begegnete ich württembergischen Ruhestandspfarrern, die in ihrer Tätigkeit während der Nazizeit zur „Pfarrhauskette“ gehört und Juden versteckt hatten. Einer ihrer Schützlinge schrieb über seine Erlebnisse ein Buch mit dem Titel Lichter im Dunkel. Da liegt eine Assoziation mit dem Licht der Welt nahe.

Die erwähnten Christen vertrauten, glaubten der „Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart“. An ihnen wird deutlich, dass es unsinnig ist, Glaube und gute Werke aufgrund einer falsch verstandenen lutherischen Theologie als Gegensätze zu begreifen.

Jesus fordert diejenigen, die ihm nachfolgen (wollen), auf, „ihr Licht leuchten“ zu lassen „vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Matthäus 5, 16). Strecker schreibt: Nur „durch den Einsatz für die Gerechtigkeit unter den Menschen“ könne die Kirche „für sich in Anspruch nehmen, Licht der Welt zu sein, nicht als einen Besitz, über den man verfügen könne, sondern die Qualität des Lichtseins steht jeden Tag neu auf dem Spiel und muss jeden Tag neu errungen werden.“

Georg Strecker war kein Linksprotestant, sondern ein konservativer Lutheraner. Umso bemerkenswerter sein Plädoyer, dass die Kirche sich „für die Gerechtigkeit unter Menschen“ einsetzen muss.

 

Stille Andacht

9. Sonntag nach Trinitatis, 6. August

In Gibeon erschien der Herr dem Salomo nachts im Traum, und Gott sprach: Erbitte, was ich dir geben soll. Da sagte Salomo: So gib deinem Diener ein Herz, das hört, damit er deinem Volk Recht verschaffen und unterscheiden kann zwischen Gut und Böse. (1. Könige 3,5+9)

Salomo gilt als das Ideal eines weisen und gerechten Herrschers. Das „salomonische Urteil“, das 1. Könige 3,16–27 schildert, ist sprichwörtlich für einen klugen und gerechten Richterspruch geworden. Aber für Christen, die kein Richter- oder Staatsamt bekleiden, dürfte ein anderer Aspekt wichtiger sein: Als Gott Salomo im Traum fragt, was er erbitte, sagt er nicht: Geld, Reichtum, Macht und Ruhm. Vielmehr bittet Salomo um ein hörendes Herz. Und damit ist kein Organ gemeint, das wie das Ohr akustische Zeichen aufnimmt. Vielmehr steht das hörende Herz für die Offenheit eines Menschen gegenüber Anderen: Gott, Mitmenschen, Kultur, Natur und was ihn sonst noch umgibt.

Beispiel für ein hörendes Herz ist das Gebet. Es ist nicht, wie Außenstehende meinen, ein Selbstgespräch. Wer vor einer wichtigen Entscheidung mit sich selber spricht, wägt Argumente ab, pro und kontra. Ein Selbstgespräch vollzieht sich also im Kopf. Das Gebet reicht dagegen tiefer. Beterinnen und Beter versenken sich, gehen auf Empfang und hören. Zuvor haben sie in Worten ein Anliegen geäußert und Gott vorgetragen. Das ist eine verbreitete Form des Gebets, privat im „stillen Kämmerlein“ wie öffentlich im Gottesdienst. Aber darüber wird leider oft vergessen, dass Gebete auch ohne Worte auskommen.

Während meines Auslandssemesters in Edinburgh besuchte ich sonntags aus Neugier immer den Gottesdienst einer anderen christlichen Konfession. Einmal kündigte ich meinen Freunden an, die Stille Andacht der Quäker aufzusuchen. Und dabei wird eine Stunde lang geschwiegen. Die Freunde haben gelacht und gefrotzelt: „Eine Stunde nicht sprechen, das hältst Du doch gar nicht aus!“ Aber ich hielt aus. Und mich erfüllte ein tiefer innerer Frieden. Diese Quäkerandacht ist einer der eindrücklichsten Gottesdienste meines Lebens gewesen.

Christen, aber auch Angehörige anderer Religionen, erwarten, dass beten wirkt und bei ihnen etwas bewirkt und uns berührt. Gerhard Tersteegen beschreibt das so: „Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte. Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten, lass mich so still und froh deine Strahlen fassen und dich wirken lassen.“ 

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