Es ist deutlich geworden, dass die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und Grenzüberschreitungen fundamentale Folgen für die evangelische Kirche hat. Es gilt, Schuldgeschichten historisch und systemisch zu analysieren, den Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, zukünftiges Unrecht durch Prävention zu vermeiden und nicht zuletzt das theologische Nachdenken zu verändern. Voraussetzung aber dafür, dass dies so weit wie möglich gelingen kann, ist, dass die Betroffenen gehört werden und die „Nicht-Betroffenen“ ihnen zuhören, sich von ihren Geschichten berühren lassen, sie zu verstehen versuchen und daraus Konsequenzen ziehen.

Dass dies nicht einfach ist, versteht sich von selbst. Wie finden Betroffene ihre eigene Stimme und einen guten Ort für ihre Geschichte? Welche Unterstützung brauchen sie? Wie erreichen sie Menschen, die ihnen zuhören? Wie vermitteln sie eine Ahnung davon, was sie erlebt haben und wie dies ihr Leben seither (mit-)bestimmt? Es gehört wohl zum Selbstverständnis – beziehungsweise zur Rhetorik – der evangelischen Kirche, dass sie auf der Seite der Opfer steht und den Betroffenen einen Vorrang einräumt. Aber in der Wirklichkeit ist das herausfordernder, als es sich sagt.

Deshalb ist dieses Buch so willkommen. Es versammelt Berichte von zehn Menschen, die in der evangelischen Kirche Herabwürdigung, Manipulation, Grenzüberschreitung, Ausbeutung und auch Gewalt erfahren haben. Es sind Berichte aus verschiedenen Zeiten und Kontexten: Heimen, Kirchengemeinden, Pfarrhäusern. Manches liegt weit zurück, ist aber immer noch wirksam. Die Geschichten lassen sich nicht auf einen oder zwei Nenner bringen. Gemeinsam ist ihnen aber eine ebenso erschütternde wie beeindruckende Intensität, Ehrlichkeit und Nachdenklichkeit.

Möglich wurde dieses notwendige Buch durch eine Teamleistung. Erika Kerstner, Christiane Lange und Andreas Stahl sind durch die Initiative „GottesSuche: Glaube nach Gewalterfahrungen“ miteinander verbunden. Nach intensiven Vorarbeiten hatten sie im Februar 2022 über verschiedene Medien dazu aufgerufen, gemeinsam das Schweigen zu brechen. Wer Interesse bekundete, die eigene Geschichte öffentlich zu machen, wurde von ihnen sorgfältig begleitet. Erfreulich schnell, bis zum Oktober des vergangenen Jahres, gelang die Fertigstellung der sehr unterschiedlich gestalteten Berichte.

Das Herausgeber-Team hat sich nicht damit begnügt, diese Berichte einzusammeln. Natürlich unterzieht es sie nicht einer „Deutung“, vielmehr geht es ihnen nach, spürt ihnen nach, denkt ihnen hinter. Das ist sehr hilfreich. Denn die Berichte haben eine Wucht und lösen Fragen aus, mit denen man sich beim Lesen alleingelassen fühlen könnte. So aber vermag man in einen inneren Dialog einzutreten, wichtige Aspekte näher zu betrachten und die unterschiedlichen systemischen und psychologischen Dynamiken besser zu verstehen. Hervorzuheben ist, dass diese Nachbetrachtungen auch ein dezidiert religiös-theologisches Interesse zeigen. Dies ist aus zwei Gründen unerlässlich: Zum einen ermöglichen bestimmte evangelische Vorstellungen den Machtmissbrauch, zum anderen kann ein heilsamer Glaube eine wichtige Ressource für Betroffene – und damit für die ganze Kirche – sein.

Es ist nicht zuletzt ein Verdienst des Herder Verlags, dass nun das fertige Buch vorliegt. Dieser Verlag hat ja inzwischen eine beindruckende Reihe wichtiger Beiträge zu diesem Thema veröffentlicht – viele katholische, inzwischen aber auch einige evangelische, zum Beispiel das empfehlenswerte Buch Wo warst du, Gott? Glaube nach Gewalterfahrungen (2022) von Mitherausgeber Andreas Stahl. Jetzt wartet dieses neue Buch darauf, gelesen zu werden.

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Foto: EKDKultur/Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.


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