Existenzform Exodus

Israels Auszug aus Ägypten als Archetypus des Pilgerns
Luftaufnahme der baumlosen felsigen Berge und der Wüste im Süden der Sinai-Halbinsel bei Sharm El Sheikh
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Luftaufnahme der baumlosen felsigen Berge und der Wüste im Süden der Sinai-Halbinsel bei Sharm El Sheikh.

War der Auszug Israels aus Ägypten eine Pilgerfahrt? Sicher nicht im landläufigen Sinne. Aber der Exodus hat die menschliche Selbstwahrnehmung im Judentum und im Christentum grundlegend geprägt, wie sie auch im Pilgern zum Ausdruck kommt: Menschsein ist Unterwegssein und Ziele bleiben dann Ziele, wenn sie nicht erreicht werden. Das erläutert Konrad Schmid, Professor für Altes Testament an der Universität Zürich.

War der Exodus eine Pilgerreise ins Gelobte Land? Auf diese Frage lässt sich keine klare Antwort geben. Dagegen spricht, dass eine Pilgerfahrt in der Regel von zu Hause wegführt, nicht in die Heimat, auch wenn der Zielpunkt im Falle Israels erst die künftige Heimat sein wird.

Weiter gehören zu einer Pilgerfahrt unabdingbar die eigene Motivation und ein klarer Zielort, eine heilige Stätte. Dies ist beim Exodus nicht oder nur teilweise gegeben: Es ist Gott, der Israel aus Ägypten herausführt, das sich zudem immer wieder nach dessen Fleischtöpfen sehnt, und Israel gelangt in ein Land, das in der Bibel nicht als Ganzes als heilige Stätte angesehen wird, dieser Status bleibt im Wesentlichen Jerusalem vorbehalten.Zudem scheint beim Exodus die Auszugsperspektive wichtiger zu sein als die Ankunftsperspektive: Israel wird aus Ägypten befreit. Gleichwohl lässt sich der Auszug aus Ägypten auch in die Nähe einer Pilgerfahrt rücken, er ist eine religiös bedeutsame Reise, die alle an ihr Beteiligten grundlegend transformiert. Die Antwort ist also uneindeutig. In der Bibel selbst finden sich auch kaum Bestrebungen, den Exodus als Pilgerreise zu identifizieren oder zu definieren. Gleichwohl lassen sich einige Elemente erkennen, die den Auszug aus Ägypten in die Nähe einer Pilgerfahrt rücken. So zunächst in der Erklärung Moses und Aarons vor dem Pharao in 2. Mose 5,1–3:

Danach gingen Mose und Aaron hinein und sprachen zum Pharao: So spricht Jhwh, der Gott Israels: Lass mein Volk ziehen, damit sie mir in der Wüste ein Fest feiern. Der Pharao aber sagte: Wer ist Jhwh, dass ich auf seine Stimme hören und Israel ziehen lassen sollte? Ich kenne Jhwh nicht und werde auch Israel nicht ziehen lassen. Da sprachen sie: Der Gott der Hebräer ist uns begegnet. Drei Tagereisen weit wollen wir in die Wüste gehen und Jhwh, unserem Gott, opfern, damit er uns nicht schlägt mit Pest oder Schwert.

Zumindest der von Mose und Aaron angegebene Grund, weshalb der Pharao das Volk Israel ziehen lassen soll, lautet dahingehend, dass Israel für seinen Gott ein Pilgerfest in der Wüste feiern will, auch wenn es dann anders kommen wird. Dann findet sich im Schilfmeerlied in 2. Mose 15 die Perspektive der Ankunft auf dem heiligen Berg. Gemeint können hier nur Jerusalem oder der Zion sein, denn am Berg Sinai wird Israel ja nicht „eingepflanzt“ (15,17):

Du bringst sie hin zum Berg deines Erbes und pflanzt sie ein, eine Wohnstätte hast du dir gemacht, Jhwh, ein Heiligtum, Jhwh, haben deine Hände gegründet.

Hier wird die grundsätzlich theozentrische Perspektive des Exodusbuches erkennbar: Israel zieht in sein Land, aber eigentlich ist es Gott, der sein Volk dorthin bringt, ja mitunter sogar gegen dessen erklärten Willen. Man sieht so: Insgesamt ist die biblische Exoduserzählung kein Pilgerbericht, auch wenn sie von Anklängen oder Anspielungen daran nicht frei ist. Gleichwohl lohnt es sich, vom Exodusbuch her auf die Thematik des Pilgerns zu blicken.

Dass allerdings die biblische Darstellung historisch nicht vertrauenswürdig ist, haben bereits Aufklärer wie Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) herausgestellt. Man hat zwar auch in der Folgezeit immer wieder naturwissenschaftliche Erklärungen für die Plagen und den Durchzug durch das Meer gesucht, doch gehen diese Deutungen am Sinn des Textes vorbei: Dieser ist gerade an der Analogielosigkeit und Übernatürlichkeit des Auszugs interessiert. Auch wenn die Bibel keinen geschichtlichen Bericht über den Auszug Israels aus Ägypten bietet, so hat dieser wohl durchaus historische Hintergründe. Allerdings sind diese vielfältigerer und andersartiger Natur, als was die biblische Erzählung berichtet: Sie verarbeitet wahrscheinlich Erinnerungen an den Zusammenbruch der ägyptischen Herrschaft im spätbronzezeitlichen Palästina – historisch gesehen reflektiert der Auszug Israels aus Ägypten eher einen Auszug Ägyptens aus Israel als umgekehrt –, an die ägyptische Intervention des Pharaos Scheschonq (in der Bibel: Schischak, vergleiche 1. Könige 14,25 f.) in Nordisrael im zehnten Jahrhundert vor Christus, aber auch an Wanderungsbewegungen von Asiaten aus dem Nildelta zurück in die Levante, wie sie inschriftlich mehrfach bezeugt sind, vielleicht auch an die Vertreibung der Hyksos, eines syrischen Fremdherrschergeschlechts, aus Ägypten in der Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus.

Religiöse Reise

Diese Hintergründe sind in der vorliegenden Exoduserzählung zu einem Ursprungsereignis verschmolzen, das so nie stattgefunden hat, aber eine Vielzahl von Erinnerungen mythisch synthetisiert. Die Exoduserzählung formuliert so einen Ursprungsmythos für Israel, der von einer religiösen Reise erzählt, die Israel im Sinne einer konstruierten Erinnerung auch dann noch prägt, wenn es in seinem Land angekommen ist, aber auch wenn es dieses wieder verloren hat und in der Diaspora lebt. Für Israel ist der Exodus über die längste Zeit seiner Geschichte hinweg eine Existenzform gewesen und geblieben. Die literarische Erzählung vom Auszug Israels berichtet von einer schwierigen, gefahrvollen, mühseligen, letztlich aber erfolgreichen und identitätsstiftenden Reise Israels in sein Land. Doch dem Exodusbuch geht es nicht nur um die geografische Ortsveränderung des Volkes Israel. Sie erzählt vom Auszug Israels in das Gelobte Land, aber darüber hinaus auch vom Auszug Israels in die politische Freiheit. Israel ist keiner irdischen Macht, sondern nur seinem eigenen Gott verpflichtet. Die Imperien dieser Welt, versinnbildlicht in der Person des ägyptischen Pharaos, haben nie absolute, sondern nur abgeleitete Macht. Auch sie sind dem einen Gott unterworfen, der die Geschichte bestimmt und lenkt.

Abgeleitete Macht

Wie die bekannte Studie des Politikwissenschaftlers und Philosophen Michael Walzer zu Exodus und Revolution (1985) gezeigt hat, konnte sich die biblische Exoduserzählung in ihren mannigfachen Rezeptionen in der Neuzeit zu einer Grunderzählung menschlicher Freiheitsbestrebungen etablieren. Schon die Reformation mit ihrer Hervorhebung der menschlichen Freiheit gegenüber der Macht der Amtskirche bediente sich oft der Exodussymbolik. Luther etwa konnte den neuen Glauben als Auszug aus dem alten interpretieren:

Das jüdische Volk ist leiblich aus dem leiblichen Land Ägypten durch viele Wunderzeichen gezogen, wie in 2. Mose steht. Diese Figur bedeutet nicht, dass wir auch leiblich aus Ägypten ziehen sollen, sondern dass unsere Seele durch einen rechten Glauben auszieht von den Sünden und der geistlichen Gewalt des Teufels, so dass gleichsam des jüdischen Volks leibliche Versammlung die geistliche, innerliche Versammlung des Christenvolks bedeutet. (Von dem Papsttum zu Rom, wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig, 1520).

Auch beim Schweizer Reformator Ulrich Zwingli finden sich starke Exodusreminiszenzen. Bei ihm ist der Auszug allerdings stärker politisch akzentuiert, er bezieht ihn auf die Lossagung von der verkommenen Amtskirche des Papstes:

Denn leider sind wir während langer Zeit durch habsüchtige Menschen in eine solch verwirrende Finsternis gehüllt worden, dass wir alles genau so erdulden mussten wie das Volk Israel die Knechtschaft in Ägypten. Aber der Schöpfer aller Dinge hat unsere Gewissensnot nicht weniger gesehen als den Kummer der Kinder Israels und hat das Licht seines Wortes offenbart, damit wir in diesem Licht klar erkennen können, was uns bisher so gefährlich verführt hat (Zwingli, Commentarius, 1525)

In jüngster Zeit hat der Philosoph Christoph Menke (*1958) eine Theorie der Befreiung (Frankfurt 2022) vorgelegt, die sich in wesentlichen Zügen vom Exodus Israels aus Ägypten inspirieren lässt und auf diesen Bezug nimmt. Menke thematisiert in seinem Buch das Problem der Freiheit in sehr grundsätzlicher Weise. Was ist Freiheit? Wie kann sie bewahrt und gelebt werden? Aus Menkes Sicht leiden die bisherigen Interpretationen daran, dass sie die Herrschaftsformen, die sich aus Freiheitsbewegungen ergeben, dramatisch unterschätzen. Aufbrüche in die Freiheit enden oft in neuen Abhängigkeiten, da die herrschenden Klassen ihre Privilegien verfestigen. Freiheit und Herrschaft sind unauflöslich miteinander verbunden, wahre Freiheit gibt es nur im Vollzug der Befreiung. Deshalb ist die biblische Exoduserzählung ein besonders geeignetes Modell, Freiheit darzustellen, indem sie ihren Fokus auf den Akt der Befreiung des Volkes Israel aus Ägypten legt und nicht auf die Darstellung einer freien Existenz. Für die zeitgenössische politische Philosophie bedeutet diese Analyse, dass die Kritik auf Dauer gestellt werden muss: Es gibt keinen Endzustand der Freiheit, der als solcher stabil und nicht der Kritik fähig und würdig wäre.

Trotz der Prominenz und der politischen Tragweite des Exodusmotivs in seiner Tradition hat sich der Protestantismus erst in jüngerer Zeit konkret mit dem Pilgern anfreunden können. Erst 1953 wurde das Pilgern in Norwegen wieder erlaubt, nachdem es seit 1537 verboten gewesen war. Zu skeptisch war man gegenüber den katholischen Heiligtümern und den damit verbundenen Wallfahrten. Pilgerfahrten mussten deshalb unterbunden werden. Doch mit der Kontemplation im Unterwegssein, mit der Privilegierung des Wegs gegenüber dem Ziel, wusste der moderne Protestantismus viel anzufangen und Pilgern gehört heute zum Repertoire christlicher Existenz auch in protestantischen Kreisen. Der Rückbezug auf die Bibel ist für diese Interpretation des Pilgerns naheliegend: Das Gottesvolk ist unterwegs, die bedingungslose Zuwendung Gottes erfährt es auf seiner Reise, das Ziel wird in der Bibel zwar erreicht, die Landnahme wird aber sehr ambivalent gezeichnet und sie ist auch vorläufig: Nach der Königszeit wird Israel wieder aus seinem Land vertrieben.

Was bleibt, ist nicht das Ankommen, sondern das Unterwegssein. Klassisches Pilgern ist zwar auf das Erreichen des ins Auge gefassten geografischen Ziels ausgerichtet, doch die Pilgerfahrt strebt in der Regel höhere Ziele an, die über das einmalige Ankommen an einem bestimmten Ort hinausgehen. Ziele bleiben dann Ziele, wenn sie nicht erreicht werden. Bestimmt man Exodus als Existenzform, so wird menschliches Leben in eine Resonanzsphäre höherer Bestimmung eingezeichnet, die diesem Leben immer voraus liegt. 

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Foto: privat

Konrad Schmid

Konrad Schmid ist Porfessor für alttestamentliche Wissenschaft und frühjüdische Religionsgeschichte an der Universität Zürich.


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