Als die Alarmglocken schrillten

Vor 90 Jahren wurde der Pfarrernotbund gegründet. Ein Anstoß zum Kirchenkampf
Die Historikerin und Theologin Elisabeth Schmitz (1893–1977) warnte früh vor einem Versagen der Kirche.
Foto: Privatbesitz/Reproduktion Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Die Historikerin und Theologin Elisabeth Schmitz (1893–1977) warnte früh vor einem Versagen der Kirche.

Die preußische Generalsynode 1933 wurde wegen der starken Präsenz von Nazi-Uniformen auch „braune Synode“ genannt. Sie beschloss einen „Arierparagraph“ für die größte deutsche Landeskirche in NS-Deutschland. Dagegen wehrte sich der Pfarrernotbund, der vor 90 Jahren in Berlin gegründet wurde. Diese dramatischen Tage voller Mut und Feigheit beschreibt der Berliner Historiker Manfred Gailus.

Aus den Tagebuchaufzeichnungen des aufrechten Landpfarrers spricht die Dramatik der Lage: „Wir fuhren wie immer zu dreien nach Berlin. Emmy und ich bestürmten Jacob unterwegs. Er hatte Minderwertigkeitsgefühle: Wir kleinen Klecker, wir Landpastoren u. s. w. Schließlich versprach er mitzumachen. Zuerst rannten wir (Pfarrer) Messow an. Einverstanden. Dann Niemöller. Einverstanden. Dann verfasste Jacob im Kaffee Trumph die Verpflichtung. Ein fabelhafter Wurf. Ein Geschenk.“

Diese Sätze aus dem Tagebuch des Pfarrers Eugen Weschke aus der Niederlausitz zeichnen eine dramatische Situation im September 1933 nach. Pfarrer Weschke war zusammen mit seinem Kollegen Günter Jacob an der Gründung des oppositionellen Pfarrernotbundes vor 90 Jahren in Berlin beteiligt. Unmittelbarer Anstoß war die preußische Generalsynode, die wegen starker Präsenz von Nazi-Uniformen auch „braune Synode“ genannt wird. Diese Versammlung hatte soeben einen „Arierparagraph“ für die größte deutsche Landeskirche beschlossen. Weschke und Jacob sahen sich als Gegner dieser Entscheidung genötigt, sofort zu handeln. Und nicht immer stießen sie mit ihrer Initiative auf Zustimmung, schon gar nicht in der Führungsebene ihrer Kirche. Im Tagebuch hält Weschke fest: „Inzwischen war ich beim E. O. K. (Evangelischer Oberkirchenrat) und stieß zu (Pfarrer) Peter vor. P. ist ein anderer geworden. Geladen mit Energie war er ja schon immer. Jetzt hat er etwas furchtbar Dämonisches.“

Als Pfarrer Weschke an diesem 11. September seinen Kollegen Friedrich Peter aufsuchte – dieser war ein radikaler Anführer der Deutschen Christen (DC) und inzwischen Mitglied der preußischen Kirchenleitung –, entspann sich eine heftige Debatte. Sie verdeutlicht anschaulich die unüberbrückbaren kirchlichen Gegensätze von 1933. Und wer darin einen Gegenwartsbezug sehen will, weil auch heute wieder an manchen Stellen völkische Denkweisen in die Kirche einziehen, mag nicht ganz falsch liegen. Weschke schreibt im Tagebuch:

„Peter: ‚Wie stehen Sie zu der neuen Kirche?‘ Ich: ‚Ich bin nicht Deutscher Christ.‘ Er: ‚Und Ihre Gemeinde? Wie viele D. Chr. sind da?‘ Ich: ‚Keiner.‘ Er: ‚Das ist ja nicht zu fassen! Wir bauen doch eine neue Kirche!!‘ (...) Er: ‚Werden Sie D. Chr. Werden Sie es um meiner Augen willen.‘ Ich: ‚Das kann ich nicht.‘ Er: ‚Tut mir leid um Sie und Ihre Fähigkeiten in bez. auf Ihre Jugendarbeit.‘ Ich: ‚Warum nehmen Sie uns nicht in die Arbeit, ohne, dass wir D. Chr. werden?‘ Er: ‚Das tun wir, sowie Sie Gehorsam zusichern.‘ Ich: ‚Ohne Weiteres, nur nicht da, wo der status confessionis erreicht wird, z. B. beim Arierparagraphen.‘ Er: ‚Dann ist nichts zu machen.‘ Ich: ,Schade.‘ Er: ‚Wenn Ihnen die Kirche lieber ist als alles andere, kommen Sie zu uns!‘ Ich: ‚Nein, wenn ich dem Arierpar. zustimmen muss.‘ Er: ‚Der ist Gesetz!‘ Ich: ‚Dann ist nichts zu machen.‘ Er: ‚Würden Sie in Niederjeser einem Neger amtliche Befugnisse geben?‘ Ich: ‚Nein, wozu denn? Die Frage ist nicht akut.‘ (...) Er: ... ‚In 30 Jahren soll eine rassenreine ev. Kirche in Dtschl. sein!‘ Ich: ‚Und die Taufe und der 3. Artikel?‘ Er: ‚Sie verwechseln die große, eine Kirche, die bei der 2. Wiederkunft Christi sein wird, mit der gegebenen Volkskirche.‘ Ich: ‚Die Zugehörigkeit zur Kirche wird durch die Taufe bestimmt. Das ist lutherisch.‘ Er: ‚Was bei Luther und in den Bekenntnisschriften fehlt, ergänzen wir. Wir setzen die Dogmengeschichte fort. Wir führen Luthers Werk zu Ende.‘ Ich schweige …“

Am selben Abend versammelten sich etwa 8o Pfarrer aus der Kirchenprovinz Berlin-Brandenburg bei Pfarrer Gerhard Jacobi von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Die Verpflichtungserklärung des Notbunds wird verlesen: „Fast alle stehen auf nach der Verlesung der Verpflichtung. Wie ein Mann. Ein ergreifender Augenblick. Später zähle ich die Unterschriften. 60, Herr Peter, die bereit sind, die letzten Konsequenzen zu ziehen! Auf einen Schlag! Jetzt muss die Verpflichtung in wenigen Tagen durch ganz Deutschland laufen. Noch ist bis zur Nationalsynode Zeit. Es ist kurz vor 12, aber es ist noch nicht 12 Uhr.“

Die Notbunderklärung verpflichtete Pfarrer, ihr Amt ausschließlich in Bindung an die Bibel und die Bekenntnisse der Reformation auszuüben, gegen jede Verletzung des Bekenntnisses zu protestieren und für verfolgte Kollegen einzutreten. Entscheidend war Punkt 4: „In solcher Verpflichtung bezeuge ich, dass eine Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des Arierparagraphen im Raum der Kirche Christi geschaffen ist.“

Die Notbunderklärung war allerdings keine generelle Absage an die rassistische Judenpolitik des NS-Regimes, vielmehr eine theologische Bekräftigung der vorrangigen Geltung des Sakraments der Taufe gegenüber rassistischen Kriterien innerhalb der Kirche. Mit diesem Statement erklärten Pfarrer die Unvereinbarkeit von Christentum und Rassenantisemitismus und positionierten sich gegen die Zielsetzungen einer völkischen Kirche der Deutschen Christen.

Ein erster Erfolg

Am Zustandekommen dieses bedeutenden Dokuments war ein größeres Netzwerk von Theologen mit Entwürfen und Diskussionsbeiträgen beteiligt: neben den beiden Lausitzer Landpfarrern auch Dietrich Bonhoeffer, Franz Hildebrandt, Martin Niemöller und Gerhard Jacobi.

Und der erste Erfolg des Bundes war bemerkenswert: Sofort gingen Hunderte von Unterschriften bei der Geschäftsstelle des Notbunds in Dahlem ein, bis Monatsende waren es bereits 2 000. Gleichwohl vermochte diese Pfarrerinitiative nicht, die seit Monaten anschwellende DC-Bewegung zu stoppen. Am 27. September trat in Wittenberg die erste Nationalsynode der seit Juli 1933 neu projektierten Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) zusammen. In der Lutherstadt nahm ein deutschchristlich geprägtes Massenschauspiel an den prominenten Stätten der Reformation seinen fatalen Lauf. Evangelium im Dritten Reich, das Wochenblatt der DC, berichtete:

„Und dann bricht der Tag an, der 27. September 1933! Wieder lacht eine festliche Sonne vom wolkenlosen Himmel. Und festlich und feierlich läuten die Glocken. Ganz Wittenberg ist auf den Beinen. Kurz nach 11 Uhr setzt sich der riesige Zug zur Stadtkirche in Bewegung: Die Fahnen der SA-Stürme von Wittenberg, die Fahnen der evangelischen Jugendorganisationen, der Handwerksinnungen, der Vereine. In feierlichem Ornat die theologischen Fakultäten, im Talar die Geistlichen der Lutherstadt, die Synodalen, im Braunhemd die Lutheraner, die Bischöfe der deutschen Landeskirchen mit den goldenen Brustkreuzen ihrer Würde und – der Mann, den alle Augen ehrfürchtig, fragend und hoffnungsvoll suchen: der kommende Reichsbischof Ludwig Müller!“

Die Predigt im Festgottesdienst in der Schlosskirche hielt der württembergische Landesbischof Theophil Wurm über Mt. 22,2–14 (das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl). Er sprach auffallend vage über Auftrag, Not und Ziel „der Kirche“. Die Verkündigung des Evangeliums könne nur durch „Verdeutschung und Vergegenwärtigung“ geschehen. Ziel kirchlicher Arbeit sei nicht allein, dass die Gotteshäuser wieder voll würden, vielmehr müsse „Reinigung und Erneuerung“ wichtigstes Ziel sein. Man könne sich auch durch „unreine Begehrlichkeit am Himmelreich versündigen“ – was immer damit gemeint sein mochte. Jeder konnte sich seinen eigenen Reim darauf machen.

Während dieses Gottesdienstes hatte ein im braunen Zeitgeist ausstaffierter „Theologensturm“, gebildet aus sächsischen Theologiestudenten, in Uniform und mit NS-Symbolen am Arm, im Chor Aufstellung genommen. Am späten Nachmittag versammelten sich die sechzig Mitglieder der Nationalsynode in der Stadtkirche, wo einst Luther predigte, um den nominierten Kandidaten und „Schirmherrn“ der DC-Bewegung, Ludwig Müller, zum Reichsbischof zu küren. Karl Fezer, Tübinger Professor für Praktische Theologie, teilte der Versammlung mit, der preußische Landesbischof Müller sei von allen Führern der Landeskirchen einstimmig zum Reichsbischof vorgeschlagen worden. Währenddessen hatten sich die Versammelten von ihren Plätzen erhoben. Im offiziellen Bericht heißt es: „‚Ich bitte die Synode um Kundgabe ihres Willens‘ klingt die Stimme Professor Fezers durch den Raum. Ein einstimmiges ‚Ja‘ ist die Antwort (...) Dann folgt die Gegenprobe. Wer dagegen ist, soll die Hand erheben. Nichts rührt sich. Ludwig Müller ist einstimmig von der Ersten Deutschen Evangelischen Nationalsynode zum Reichsbischof gewählt worden! (...) Das protestantische Deutschland hat seinen Führer.“

Anschließend dankte Müller vor der Nationalsynode Gott für das Geschenk der „deutschen Freiheitsbewegung mit Ihrem Führer, unserem Kanzler“. Letztlich bekräftigte der ohne Gegenstimme bestätigte Reichsbischof, NSDAP-Mitglied seit 1931 und „Schirmherr“ der DC-Bewegung, in seiner Ansprache indirekt auch die Geltung eines Arierparagraphen in der kommenden Kirche. Es werde sich als Selbstverständlichkeit erweisen, meinte er, dass die Träger öffentlicher Ämter in Deutschland „unserer Art und Abstammung sein müssen“. Müller schloss seine Rede mit der Parole: „Der kirchenpolitische Kampf ist vorbei. Der Kampf um die Seele des Volkes beginnt.“

Tatsächlich war „der kirchenpolitische Kampf“ natürlich nicht vorbei, vielmehr begann er mit dem Kirchenregiment Müllers erst richtig. Bereits am Tag der Wittenberger Feierlichkeiten war spontan eine kleine Delegation des Pfarrernotbunds von Berlin aus in die Lutherstadt geeilt, um einen kritischen „Aufruf“ zu verteilen. Im Namen von 2 000 Unterzeichnern der Notbunderklärung wurde die Aufhebung bekenntniswidriger landeskirchlicher Gesetze, namentlich des Arierparagraphen, verlangt. Das von 22 Theologen unterzeichnete Flugblatt kündigte an: „Wir werden nicht aufhören, gegen jede Verletzung des Bekenntnisses laut und weithin vernehmlich Einspruch zu erheben.“

Wichtige Weichen

Während der ereignisreichen Septemberwochen 1933 wurden wichtige kirchenpolitische Weichen für die kommenden Jahre des Kirchenkampfes gestellt. Das von Ludwig Müller angeführte Gewaltregiment einer zentralisierten Reichskirche scheiterte im Laufe des Jahres 1934 darin, die 28 deutschen Landeskirchen unter seine deutschchristliche Herrschaft zu zwingen. Gleichwohl sollten die DC die meisten der 28 Landeskirchen für lange Zeit beherrschen, darunter auch die große Evangelische Kirche der altpreußischen Union. In vielen wurde ein Arierparagraph praktiziert.

Aber auch die Opposition in der Kirche blieb nicht untätig. Der Pfarrernotbund, der mit einer kleinen, spontanen Versammlung am 11. September 1933 im Pfarrhaus Jacobi begann, repräsentierte zu Jahresende 1933 bereits mehrere Tausend Pfarrer. Zugleich sammelte er bekennende Gemeinden, die sich 1934 zu „freien Synoden“ vereinten. Sie erhielten schließlich durch die maßgeblich durch Karl Barth verfasste Barmer Theologische Erklärung vom 30. Mai 1934 ihre wegweisende Richtschnur.

Ein führender Kopf der oppositionellen Bewegung war Dietrich Bonhoeffer. Für den jungen Privatdozenten der Theologie fand sich im Laufe des Jahres 1933 trotz wiederholter Bewerbungen keine Pfarrstelle in Berlin. Seit Oktober hatte er eine Auslandspfarrstelle in London angetreten, blieb aber den Kirchenkämpfen über Telefon, Briefwechsel und Besuchsreisen eng verbunden. „Wir müssen jetzt“, so schrieb er am 15. Dezember von London aus an Niemöller, „gerade in allen Punkten, also auch beim Arierparagraphen, radikal sein und vor keiner Konsequenz, die uns Unannehmlichkeiten bringen könnte, zurückscheuen. Wenn wir jetzt hier irgendwie untreu werden, diskreditieren wir unseren ganzen Kampf im Sommer. Bitte, bitte sorgen Sie dafür, dass hier alles klar, mutig und sauber bleibt.“

Aber gelang dies, klar, mutig und sauber zu bleiben? Sehr kritisch fiel die Rückschau gegen Jahresende bei der Historikerin und Studienrätin Elisabeth Schmitz in Berlin aus, die den Kirchenkampf von Beginn an engagiert mit eigenen klugen Beiträgen begleitete. In ihrem Brief vom 1. Januar 1934 an Karl Barth, damals in Bonn, beklagte sie vor allem die Schicksale evangelischer „Nichtarier“: „Wo hätte man ein Trostwort der Kirche an ihre verfolgten Glieder gehört, geschweige denn ein mitfühlendes Gedenken an die Verfolgten – von Christen verfolgten – überhaupt? Was die Kirche am nötigsten braucht, ist weder ein neues Bekenntnis noch die Verfassung, noch theologische Auseinandersetzungen über Volk und Rasse, sondern die ganz einfache, schlichte, selbstverständliche christliche Liebe. Auf keinem Gebiet hat die Kirche u. die deutsche Christenheit so rettungslos versagt wie auf diesem.“ 

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