Das Selbstverstehen des Menschen

Bastian König durchdringt die Theologie Rudolf Bultmanns mithilfe anderer Denker der Geschichte
Bastian König
Foto: Jens Schulze

„Das Kerygma als Narration. Rudolf Bultmanns Theologie im Gespräch mit Paul Ricœurs Hermeneutik.“ So lautet die Dissertation des Theologen Bastian König. Was sich kompliziert anhört, ist eine faszinierende Reise über die Frage, wie sich der Mensch selbst versteht und die Theologie dabei helfen kann.

Ursprünglich wollte ich Geschichte, Philosophie und Deutsch auf Lehramt studieren – aber die Eltern eines Freundes waren Pastoren und brachten mich auf die Idee, dass ich auch Theologie studieren könnte. Das lag nicht nahe, da ich zwar getauft wurde, Religion in meiner Familie aber keine große Rolle spielte. Erst über einen guten Konfirmandenunterricht und eigenes Engagement für andere Konfirmanden fand ich Gefallen an Religion, Glaube und Kirche. Das Theologiestudium hat mich schlicht begeistert.

Zu meinem Thema „Das Kerygma als Narration. Rudolf Bultmanns Theologie im Gespräch mit Paul Ricœurs Hermeneutik“ kam ich vor allem über Vorlesungen und Seminare im Rahmen meines Studiums der Systematischen Theologie in Göttingen. Dort stieß ich auf den französischen Philosophen Paul Ricœur (1913–2005), der von 1999 bis 2001 übrigens einen aufstrebenden wissenschaftlichen Assistenten mit Namen Emmanuel Macron hatte. Seit sechs Jahren ist dieser der Präsident der Republik Frankreich.

Während meiner Promotion habe ich den großen Marburger Theologen Rudolf Bultmann (1884–1976) regelrecht lieben gelernt. Er ist nicht mehr so en vogue und wird oft missverstanden, als wolle er mit seinem zentralen Konzept einer Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (Kerygma) die Bibel irgendwie als Quelle des Glaubens abschaffen, was natürlich überhaupt nicht der Fall ist. Im Gegenteil können wir durch Bultmann unseren Glauben besser verstehen.

Besonders gelungen hat das Bultmann selbst einmal in einer Predigt so ausgedrückt: „Gottes Ruf, höchst störend und unbequem, rüttelt uns auf, ruft uns zu unserem eigentlichen Leben zurück und gibt uns wieder das rechte Maß für die Dinge und das Treiben, in dem wir uns bewegen. Bereit sein für den Augenblick, der jeweils der entscheidende Augenblick ist! Der christliche Glaube ist ja kein ruhender Besitz; er ist nicht einfach die Überzeugung von bestimmten Lehren, die man sich ein für allemal zu eigen machen kann. Sondern der christliche Glaube ist eine Haltung des Willens. Er ist in uns nur lebendig, wenn er sich immer aufs Neue bewährt.“

In meiner Dissertation geht es mir zentral um das Selbstverstehen des Menschen. Das menschliche Dasein zeichnet sich ja dadurch aus, dass es sich auf ständiger Selbstsuche befindet. Ich will zeigen, wie sich das Selbst aus christlicher Überzeugung verstehen kann. Dabei unternehme ich, grob gesagt, einen Dreischritt: Zunächst gehe ich auf die zeittheoretische Arbeit des spätantiken Theologen und Kirchenlehrers Augustinus (354–430) ein. Dieser schildert sehr eindrucksvoll, wie wir in der Zeit leben und sie uns dennoch als wichtige Kategorie unseres Lebens rätselhaft bleibt. Denn sie entschwindet uns, sobald wir glauben, sie fassen zu können. Demnach können wir uns nur über Umwege als Selbst in der Zeit begreifen.

Ich bringe diese Ideen, ganz in der Tradition von Ricœur, in Verbindung mit der „Poetik“ des griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 vor Christus). Für ihn war die Frage zentral, was eine Erzählung mit uns macht und wie sie Wirklichkeit gestaltet. Wir sind als Menschen, so glaube ich, immer auf der Suche nach Erzählungen, mithilfe derer wir uns besser verstehen können. Uns gelingt es manchmal, uns und unsere Position erzählerisch, auch im Sinne von Aristoteles, zu erklären. Ricœur macht deutlich, dass Erzählungen dem aufnehmenden Selbst eine „bewohnbare Welt“ anbieten. Das ermöglicht ein tieferes, neues Selbstverständnis.

Es lässt sich also durch Augustin aufweisen, dass inhaltlich ein Selbstverstehen nur über ein Zeitverstehen möglich ist. Durch die aristotelische Poetik können wir konstatieren, dass sich das menschliche Dasein mimetisch-kreativ die Wirklichkeit erschließt und damit dem Selbst auf die Spur kommt. Schließlich macht die Hermeneutik des Selbst nach Ricœur auf den grundsätzlichen Umweg aufmerksam, den das Selbst genötigt ist zu gehen, um zu einem Verstehen zu gelangen.

Gerade Fremderzählungen können uns verändern, auch die Erzählungen von und über Christus. Hier vor allem kommt Bultmann ins Spiel. Ein wirkliches Verstehen lässt sich ihm zufolge nur aufgrund eines Verstandenseins durch Gott erreichen. Das umfängliche Erkanntsein bedingt das Erkennen auf Seiten des Selbst, wie auch Paulus dies in einer bekannten Stelle seines ersten Briefs an die Korinther schildert (1. Korinther 13,12).

Bultmann wurde in der ihm nachfolgenden Theologie zurecht vorgeworfen, er führe den Begriff des Kerygma zu eng. Meine These ist, dass dieser Engführung mithilfe von Ricœur, genauer: der ricœurschen Hermeneutik, begegnet werden kann, nämlich indem das Kerygma als Narration im Sinne von Ricœur und vor dem Hintergrund von Augustin und Aristoteles verstanden wird. Durch die Begegnung mit dem christologischen Kerygma werde der Mensch, so versteht es Bultmann, existenziell getroffen. Es ist ein entscheidender Moment auf dem Weg zum Selbstverstehen. Erst im Kerygma begegne Gott dem Menschen, und aufgrund des Kerygmas habe er Anteil am Heilsgeschehen. Ich glaube, gerade durch die ricœursche Hermeneutik des Selbst lässt sich Bultmanns Idee vom Kerygma als Angebot einer bewohnbaren Welt verstehen, durch die sich das Selbst neu verstehen kann.

Bultmann wirft in seinen meist kurzen Aufsätzen Fragen auf, die noch heute aktuell sind, auch wenn er seine Ideen nicht immer sehr klar in ihrer Entstehung nachvollziehbar macht. Ich will nicht zuletzt die vielen Missverständnisse über ihn verringern, etwa dies, dass sein berühmter Entmythologisierungs-Aufsatz von 1941 dem Christentum den Zauber geraubt habe. Nein, es ging Bultmann vielmehr darum, die biblischen Erzählungen existenzial zu interpretieren, sie also so auszulegen, dass sie dem hörenden Selbst von Bedeutung werden können. Dies ist und bleibt die Aufgabe von Theologie und Verkündigung in der Moderne. Das hat Bultmann unter der Überschrift „Glauben und Verstehen“ pointiert zum Ausdruck gebracht. 
 

Information
Bastian Königs Dissertation ist soeben unter dem Titel „Das Kerygma als Narration. Rudolf Bultmanns Theologie im Gespräch mit Paul Ricœurs Hermeneutik“ bei Mohr Siebeck erschienen. Das Buch hat 295 Seiten und kostet 94 Euro.

 

Aufgezeichnet von Philipp Gessler

 

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