Eine Kugel kam geflogen

Warum die Traditionspflege der Bundeswehr in der deutschen Gesellschaft isoliert ist
Bunter Panzer vor dem Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden.
Foto: picture alliance/Andreas Franke
Bunter Panzer vor dem Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden.

Die Bundeswehr hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Und mit ihr auch ihre Gedenk- und Erinnerungskultur. Doch was ist ein zeitgemäßes Erinnern? Dieser Frage geht Olaf Zimmermann nach. Er ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber von zeitzeichen.

Ich hatt’ einen Kameraden, Einen bessern findst du nit. Die Trommel schlug zum Streite, Er ging an meiner Seite, Im gleichen Schritt und Tritt. Eine Kugel kam geflogen, Gilt sie mir oder gilt sie dir? Ihn hat sie weggerissen, …“

Ludwig Uhland hat 1809 dieses Lied gedichtet, das in meiner Kindheit Ende der 1960er-Jahre am Volkstrauertag auf dem kleinen Taunusfriedhof von allen Schülerinnen und Schülern der Volksschule gesungen wurde. Mit viel Pathos wurde der im Ersten und Zweiten Weltkrieg getöteten Dorfbewohner gedacht.

Auch nach mehr als einem halben Jahrhundert kann ich mich gut entsinnen, wie unbehaglich diese jährliche Veranstaltung für mich war. „Eine Kugel kam geflogen, Gilt sie mir oder gilt sie dir?“, hat mich bis in meine Träume verfolgt.

Und jetzt Mitte 2023, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine tobt seit eineinhalb Jahren, hat dieser Krieg mitten in Europa, etwas bis vor kurzem Undenkbares, bereits etwas vertraut Normales angenommen. Ich schreibe dies nicht leichtfertig, sondern mit einer großen Erschütterung.

Als ich 1980 den Dienst mit den Waffen verweigerte und Zivildienst leistete, war die Welt ebenfalls von Kriegen durchseucht. Die USA und die Sowjetunion standen sich jeweils zusammen mit ihren Verbündeten, NATO oder Warschauer Pakt, gegenüber. Die Rüstungsspirale drehte sich nach oben, und ich erinnere mich genau, dass die Sorge bestand, der Kalte Krieg würde in einen bewaffneten Konflikt zwischen Ost und West münden. Der Vietnamkrieg war erst fünf Jahre zu Ende und der Erste Golfkrieg nahm gerade seinen Anfang. Der Sowjetisch-Afghanische Krieg tobte ebenso wie der Bürgerkrieg in Angola. Aber all diesen schrecklichen Kriegen war gemeinsam, dass deutsche Truppen, weder die westdeutsche Bundeswehr noch die ostdeutsche Nationale Volksarmee (NVA), an den Kämpfen direkt beteiligt waren.

Erinnern, aber wie?

Heute sieht das Engagement der Bundeswehr anders aus. Die Bundeswehr selbst nennt mit Stolz die Zahlen: Zurzeit engagiert sich die Bundeswehr in 13 Einsätzen auf drei Kontinenten mit 3 500 Soldatinnen und Soldaten. Die erste Operation mit dem Namen UNSCOM (United Nations Special Commission) startete die Bundeswehr im August 1991 im Irak. Seit dieser Zeit hat die Bundeswehr 25 Auslandseinsätze abgeschlossen und mehr als eine halbe Million Soldatinnen und Soldaten dabei eingesetzt.

Unfälle mit Todesfolge im Dienst hat es in der Bundeswehr und der NVA immer gegeben, doch im Oktober 1993 starb der Feldwebel Alexander Arndt durch zwei Kugeln während der UNTAC-Mission in Phnom Penh. Eine öffentliche Trauerfeier gab es damals nicht, aber der Verteidigungsminister und der Generalinspekteur der Bundeswehr hielten eine Ansprache beim Gedenkapell auf dem Flughafen in Wunstorf. Alexander Arndt war der erste im Ausland gefallene deutsche Soldat nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist nun dreißig Jahre her, mittlerweile muss man 115 Gefallene der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen beklagen.

Wie wird heute an sie erinnert, wie werden die Auslandseinsätze und die Arbeit der Soldatinnen und Soldaten in der Gesellschaft diskutiert? Welchen Stellenwert hat die Bundeswehr – insbesondere seit der Aussetzung der Wehrpflicht im März 2011? Zuvor war jeder junge Mann und damit auch jede Familie mit der Bundeswehr und der Entscheidung, Wehrpflicht oder Zivildienst zu leisten, konfrontiert. Die Bundeswehr war präsent.

Ende Juli dieses Jahres fand der sechste Marsch des Verbandes der Reservisten der deutschen Bundeswehr zum Gedenken an verstorbene Kameradinnen und Kameraden statt. Die Marschstrecke führte an vier Tagen vom Truppenübungsplatz Lehnin über den Wald der Erinnerung bei Potsdam nach Berlin, vorbei am Reichstagsgebäude und dem Brandenburger Tor zum Ehrenmal der Bundeswehr am Bendlerblock. Dort fand der Marsch mit einer feierlichen Kranzniederlegung seinen Abschluss. Alles weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Die Bundeswehr schreibt auf ihrer Webseite: „Beim Ehrenmal der Bundeswehr und beim Wald der Erinnerung geht es nicht um Heldenverehrung, sondern vor allem um Respekt.“ Das ist gut und richtig, aber wie respektiert eine Gesellschaft „ihre“ Soldatinnen und Soldaten?

Die Gesellschaft der Bundesrepublik ist geprägt durch ein tief ambivalentes Verhältnis zu ihrer Armee und damit auch zu den Soldatinnen und Soldaten. Der Militarismus des Kaiserreichs, das mangelnde demokratische Bewusstsein eines erheblichen Teils der geschlagenen deutschen Armee während der Weimarer Republik, das Engagement der Freikorps gegen die Demokratie und vor allem der Nationalsozialismus und die Rolle der Wehrmacht in dem Unrechtssystem haben sich fest in das kollektive Gedächtnis eingeprägt. Die bereits erwähnte Aussetzung der Wehrpflicht 2011 hat diese Distanz der deutschen Gesellschaft zur Armee noch einmal befördert.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat ein sehr großes Unsicherheitsgefühl ausgelöst und mancher Friedensaktivist wurde gar zum Bellizisten. Gleichzeitig wird in vielen Medien so viel über Kriegswaffen und Kriegstaktik, über Gut und Böse im Krieg berichtet, wie schon lange nicht mehr. Was aber fehlt, ist eine breite erinnerungskulturelle Debatte, wie sie über den Mord an den Juden, der Shoa, über Jahrzehnte in Deutschland geführt wird.

Am Anfang fand eine erinnerungskulturelle Debatte hauptsächlich innerhalb der Bundeswehr statt. Besonders die so genannten Veteranenvereine haben sich bis heute der Erinnerungskultur verschrieben. Das erinnungskulturelle Denken für die Zeit der Bundeswehr begann schon am Ende des Zweiten Weltkrieges. Im letzten Wehrmachtsbericht vom 9. Mai 1945 sagte Hitler-Nachfolger Großadmiral Karl Dönitz: „Die Wehrmacht gedenkt in dieser schweren Stunde ihrer vor dem Feind gebliebenen Kameraden. Die Toten verpflichten zu bedingungsloser Treue, zu Gehorsam und Disziplin gegenüber dem aus zahllosen Wunden blutenden Vaterland.“ Soldatenehre und Soldatenpflicht haben, so das damalige Narrativ, den deutschen Wehrmachtssoldaten angetrieben, nicht der nationalsozialistische Wahn.

Eine deutliche Verbreiterung der Debatte fand erst durch die „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung statt. Die beiden Wanderausstellungen (1995 bis 1999 und 2001 bis 2004) nahmen die Verbrechen der Wehrmacht unter die Lupe. Die öffentliche Aufregung war groß. Der Mythos des ehrenhaften, sauberen Kämpfers zerbrach damals unter der Last der vom Hamburger Institut für Sozialforschung vorgelegten Beweise. Die Wehrmacht war am Vernichtungskrieg des NS-Regimes gegen die Sowjetunion und am Holocaust aktiv beteiligt gewesen. Spätestens seit dieser Zeit ringt die Bundeswehr mit „ihrer“ Erinnerungskultur.

Am 12. November 1955 wurde mit Theodor Blank der erste Bundesminister für Verteidigung der Bundesrepublik ernannt und die ersten 101 Freiwilligen zogen in die Kasernen. Im März 1956 wurde vom Deutschen Bundestag das „Soldatengesetz“ verabschiedet, die neue deutsche Armee hieß nun „Bundeswehr“. Im selben Jahr trat die allgemeine Wehrpflicht in Kraft.

Im März 1956 nahm die Nationale Volksarmee ihre Arbeit auf. Willi Stoph war der erste Verteidigungsminister der DDR. Die NVA war zunächst eine Freiwilligenarmee, die an die Kasernierte Volkspolizei anschloss. Erst im Januar 1962 trat die allgemeine Wehrpflicht in der DDR in Kraft.

Am 3. Oktober 1990, nach der Wiedervereinigung, ging die NVA in der Bundeswehr auf. In allen Kasernen Ostdeutschlands gelobten an diesem Tag NVA-Soldaten und -Offiziere, fortan der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und Recht und Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.

Die Bundeswehr hat in den vergangenen fast siebzig Jahren viele Veränderungen durchgemacht. Besonders das Konzept der Inneren Führung setzte sich deutlich von der Wehrmacht ab und postulierte den „Staatsbürger in Uniform“. Politische Bildung sowie die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Bundeswehr gehören zu diesem Konzept ebenso dazu wie die Demokratiebildung. Die Bundeswehr ist die Armee eines demokratischen Rechtsstaats. Ihre Auslandseinsätze werden durch den Deutschen Bundestag beschlossen. Nicht von ungefähr ist die Rede von der Parlamentsarmee Bundeswehr. Die Einbindung in die NATO veränderte die Streitkräfte ebenso wie ihre „out-of-area“-Einsätze außerhalb der Landes- und Bündnisgrenzen ab den 1990er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Als Freiwilligenarmee muss sie eine eigene attraktive Identität entwickeln. Sie muss ein guter Arbeitgeber sein, damit junge Menschen, Männer und Frauen sich freiwillig melden und den Militärdienst zu ihrem Beruf machen.

Zur Identität der Bundeswehr, insbesondere der aktuellen Freiwilligenarmee, gehört, sich der eigenen Geschichte zu vergewissern. Das Selbstverständnis einer demokratischen Armee auszubilden und zu leben, Vielfalt zuzulassen. Dazu gehört, dass neben den traditionellen evangelischen und katholischen Militärgeistlichen nun auch ein Militärrabiner eingesetzt wurde. Die Etablierung eines Militärimans steht noch aus. Gerade die Geistlichen haben neben der individuellen Seelsorge für die Soldatinnen und Soldaten auch Aufgaben in der Erinnerungskultur und Traditionsbildung.

Dabei ist inzwischen die Erinnerung an die Wehrmacht nur noch ein Aspekt der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Mindestens ebenso wichtig ist es, sich mit den nunmehr fast siebzig Jahren Geschichte seit der Gründung der Bundeswehr auseinanderzusetzen. Hierzu zählt die Befassung mit dem Kalten Krieg, den unterschiedlichen Konzepten von Bundeswehr und NVA und nicht zuletzt mit der Geschichte der deutschen Einheit in der Bundeswehr.

Wenn von Erinnerungskultur in der Bundeswehr in den vergangenen Jahren in öffentlichen Diskussionen die Rede war, ging es zumeist um die Namen von Kasernen und um Traditionsecken in Kasernen. Es wurde teils belustigt, teils mit Schrecken über eine mangelnde Distanz und Distanzierung von der Wehrmacht berichtet. Es schien das Bild einer Armee auf, die noch an alten Traditionen festhält. Das ist aber – zum Glück – nur ein kleiner Teil der Erinnerungskultur der Bundeswehr und vielerorts sind die Traditionsecken inzwischen geräumt, Kasernen wurden umbenannt.

Mit den Erinnerungsorten an den Bundeswehrstandorten der Auslandseinsätze wurden neuen Formen des Gedenkens eingeführt. Keine Kriegerdenkmale, sondern Orte, die bewusst machen, dass Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz gefallen sind. Der bereits genannte Wald der Erinnerung in der Nähe von Potsdam ist ein weiterer Ort, ebenso wie der Marsch der Erinnerung oder die 2014 gegründeten Invictus Games, die im September dieses Jahres erstmals in Deutschland stattfinden. Hier treten versehrte und verwundete Soldatinnen und Soldaten in einem sportlichen Wettbewerb gegeneinander an. Sport als Chance, neuen Lebensmut zu fassen und sich zu messen.

Verhältnis zur Zivilgesellschaft

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge betreut Soldatenfriedhöfe in Deutschland und im Ausland. Kriegsgräberstätten sind heute Orte der Erinnerung, des Gedenkens und der Versöhnung. Jugendbegegnungen widmen sich dem Kennenlernen und der Versöhnung. Gewaltgeschichte wird hier zum Ausgangspunkt für gemeinsames friedliches Zusammensein. Das Ehrenmal der Bundeswehr befindet sich auf dem Gelände des Bundesverteidigungsministeriums in Berlin. Es erinnert an die über 3 300 Bundeswehrangehörigen, die in Folge ihres Dienstes, im Kampf gefallen oder im Dienst verunglückt, verstorben sind. Zum Ehrenmal gehören auch ein Raum der Stille sowie eine Ausstellung zur Geschichte der Bundeswehr.

Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden widmet sich als Geschichtsmuseum dem Thema Krieg und Frieden. In der Dauerausstellung wird ein weiter Bogen der Geschichte von Krieg und Gewalt seit dem Mittelalter gespannt. In den Sonderausstellungen wird sich insbesondere mit der Geschichte von Krieg und Frieden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs befasst. Dabei wird politisches Handeln in einen historischen Kontext gerückt und befragt. Die Grenzen von durch die Bundeswehr selbst organisierter militärischer Erinnerungskultur wird zum Beispiel auf dem Flugplatz Gatow in Berlin sichtbar. Hier wird sich besonders der Geschichte der Luftwaffe gewidmet. Hunderte von alten Militärflugzeugen und anderes Kriegsgerät stehen auf dem alten Flugfeld zur kontextlosen Besichtigung. In einem Hangargebäude wird zwar versucht, ein auch kritisches Bild auf die Geschichte der Luftwaffe zu werfen, doch werden diese guten Ansätze durch die „Materialschlacht“ an Kriegsgeräten im wahrsten Sinne des Wortes begraben.

Es bleibt das Gefühl, dass die Traditionspflege der Bundeswehr oftmals merkwürdig unverbunden zu anderen gesellschaftlichen Akteuren und damit auch Diskussionen ist. Die Zivilgesellschaft und Bundeswehr haben viel Distanz zueinander. Mehr Transparenz und Dialog sind daher erforderlich. Der Deutsche Kulturrat widmet sich in Zusammenarbeit mit der Wehrbeauftragen des Deutschen Bundestages, Eva Högl, dem Thema Erinnerungskultur und Bundeswehr. Der Gedanke ist dabei, das Verständnis für demokratische Werte, Menschenrechte und Frieden zu schärfen und das gesellschaftliche Verständnis für die Bundeswehr zu erhöhen. Der Kulturbereich und die Bundeswehr sollen, intensiver als bislang, miteinander sprechen.

„Eine Kugel kam geflogen, Gilt sie mir oder gilt sie dir?“, hat in der heutigen politischen Realität an trauriger Bedeutung gewonnen. Die Bundeswehr gehört mit ihrer Geschichte in all ihren Facetten und mit ihrem aktuellen Handeln in die Mitte der gesellschaftlichen Debatten. 

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