Atonales Denken

Theodor W. Adorno als Philosoph zwischen Licht und Schatten der Aufklärung
Theodor W. Adorno (1903–1969), Foto von 1960.
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Theodor W. Adorno (1903–1969), Foto von 1960.

Vor genau 120 Jahren wurde Theodor W. Adorno geboren. Der Philosoph gilt heute als Ikone der „Frankfurter Schule“. Berühmt wurde er durch seine mit Max Horkheimer im Jahre 1944 veröffentlichte „Dialektik der Aufklärung“. Zeitlebens mühte er sich kritisch am Werk Martin Heideggers ab. Insgesamt war Adornos Wirken umstritten, wie der Theologe Eberhard Pausch, Studienleiter der Evangelischen Akademie Frankfurt, zeigt.

Der Philosoph Richard Wisser (1927–2019) berichtet von einem Gespräch, das er 1969 mit Martin Heidegger (1889–1976) geführt hatte. Es ging dabei um Heideggers philosophischen „Antipoden“ Adorno, der sich nach seiner Rückkehr aus dem Exil in den USA sehr kritisch mit Heideggers Person und dessen Philosophie beschäftigt hatte. Heidegger selbst hatte nie eine Zeile von Adorno gelesen. Er meinte, dieser sei ein reiner Soziologe und daher kein Philosoph. Auch sei Adorno offenbar fest entschlossen, ihn „kleinzumachen“ und habe allerlei „adornierende Nachahmer“ gefunden (ein bösartiges Wortspiel mit Adornos Namen: „adorierend“ würde bedeuten: „anbetend“).

Auf die mehrfach gestellte Frage, bei wem Adorno denn studiert habe, konnte Richard Wisser nicht antworten. Die Antwort wäre gewesen: bei dem Neukantianer und Transzendentalphilosophen Hans Cornelius (1863–1947). Diese Auskunft hätte Heidegger sicher erstaunt. Mehr noch aber hätte er sich darüber gewundert, dass Adorno über Heideggers Lehrer Edmund Husserl (1859–1938) promoviert hatte und dessen phänomenologisches Denken daher recht gut kannte.

Theodor W. Adorno (1903–1969) stammte aus einer großbürgerlichen Familie mit internationalen Wurzeln. Er war musikalisch und sprachlich herausragend begabt und wurde von seinen Eltern in jeder Hinsicht gefördert, vor allem auch finanziell unbegrenzt unterstützt. Der intellektuelle Überflieger reichte zu Beginn des Jahres 1924 seine Dissertation über „Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie“ ein und bestand das Rigorosum im Juli dieses Jahres. Mit dem Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ hatte Adorno damals noch nahezu nichts zu tun, weder inhaltlich noch institutionell gab es Berührungspunkte.

Aus heutiger Sicht wirkt Adornos Dissertation ebenso solide wie schlicht. Sie ist sehr knapp gehalten, aus den Quellen gearbeitet, verwendet kaum Sekundärliteratur und entfaltet im Grunde genommen nur ein einziges Argument: dass Husserls Phänomenologie logisch nicht konsistent sei, weil sie auf einer Doppeldeutigkeit des Begriffes „Noema“ beruhe, der ja sowohl den Gedanken selbst wie den Inhalt des Gedanken bezeichne. Die Arbeit wurde mit „summa cum laude“ bewertet. Originell aber war sie keineswegs, denn der Autor reproduzierte im Grunde genommen nur die kritische Position des Doktorvaters Cornelius gegenüber Husserl.

Heidegger und Adorno, die sich in den 1950er- und 1960er-Jahren feindselig gegenüberstanden, hatten also in der Phänomenologie wenigstens einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Sonst aber waren sie durchaus verschieden: Stammte Heidegger aus kleinbürgerlich-katholischen Kreisen, so war Adorno ein Repräsentant des großbürgerlich-säkularen Protestantismus mit jüdischem Hintergrund (sein Vater war zum evangelischen Glauben konvertiert). Musterschüler waren sie beide gewesen, brillant vor allem in den alten Sprachen, wobei Heidegger auch in Mathematik glänzte, während Adorno im Abitur in diesem Fach nur 11. von 13 Mitschülern war und in der Prüfung nur „mit Bedenken“ des Prüfers noch ein „Genügend“ erhielt. Heidegger fühlte sich auf dem Land zu Hause und erkundete dort „Wald-, Feld- und Holzwege“, während Adorno die Kulturluft der Großstädte Frankfurt und Berlin atmete. Der wohl gravierendste Unterschied: Heidegger war Nationalsozialist und Antisemit, Adorno aber Demokrat und jüdischer Herkunft, weshalb er Deutschland bald nach Hitlers Machtergreifung verlassen musste.

Adornos Weg in die Frankfurter Schule führte über Paul Tillich (1886–1965), bei dem er sich 1931 habilitierte, nachdem Cornelius seine Habilitation abgelehnt hatte. Dabei enthielt der von Adorno im Jahr 1927 – dem Jahr, in dem Heideggers „Sein und Zeit“ erschien – vorgelegte Text, mit dem er sich habilitieren wollte, zumindest im Vorwort noch ein Bekenntnis zur „Aufklärung“: „Aufklärung ist die Absicht dieser Arbeit ... in der umfassenden Bedeutung, die Geschichte dem Begriff verleiht: Destruktion dogmatischer Theorien und Bildung von solchen an ihrer Stelle, die in Erfahrung gründen und für Erfahrung zweifelsfrei gewiss sind.“ Der Text bietet dann aber im Fortgang einige ideologiekritische Passagen zum Primat der Ökonomie in der Gesellschaft, zum „verderblichen Imperialismus“ und zum „Fascismus“ (!), die Cornelius nicht behagen konnten. Vor allem aber löste Adorno aus Cornelius’ Sicht nicht ein, was er im Vorwort versprach: zum Projekt der Aufklärung beizutragen.

Anderthalb Jahrzehnte später sollte Adorno die Aufklärung dann als auf rücksichtslose Naturbeherrschung zielende instrumentelle Vernunft und somit völlig anders definieren – und entsprechend kritisch bewerten. Tillich aber ebnete Adorno – ebenso wie dessen Freund Max Horkheimer (1895–1973) – den Weg in das Institut für Sozialforschung, in dem beide dann auch über die Zeit des Exils hinweg mehr als drei Jahrzehnte wirken sollten.

Adornos Rolle im Rahmen des Instituts wurde im Laufe der 1930er-Jahre immer bestimmender. Er scheute dabei weder vor Beleidigungen (gegenüber Martin Buber, den er einen „Religionstiroler“ nannte) noch vor Mobbing (gegenüber Leo Löwenthal und Erich Fromm) noch vor „Ideenklau“ und Parasitismus zurück. Erich Fromm (1900–1980), der als Psychoanalytiker vom Fach anfangs noch ein Star des Instituts gewesen war, wurde von Adorno systematisch demontiert, Herbert Marcuse (1898–1979) des Faschismus verdächtigt, weil er zuvor bei Heidegger gearbeitet hatte. Der Sachbuchautor Wolfgang Martynkewicz nennt Adorno einen „Intriganten“ und beschreibt eindringlich, wie dieser alle Personen, die sich sonst noch im Umfeld des Direktors Horkheimer bewegten, erfolgreich verdrängte.

Sicher ist: Ein besonders angenehmer Kollege war Adorno in jenen Jahren nicht. Zudem vertrat er eine extrem elitäre Auffassung von Kunst und Musik. Dass er Schlagermusik verachtete, weil sie nicht „atonal“ war, versteht sich von selbst. Aber auch Jazz lehnte er ab, weil das Wort „Jazz“ sich von „Hatz“ ableite und diese Art von Musik bei den Zuhörenden unweigerlich „Kastrationsängste“ wecken müsse.

Primat des Marktes

Spätestens seit 1939 waren Horkheimer und Adorno die „Dioskuren“, das Zwillingsgestirn, des Instituts, die anderen wirkten wie austauschbare Randfiguren. Beider bis heute bewundertes Hauptwerk, bei dem vor allem Adorno federführend gewesen war, wurde 1944 fertiggestellt: die Dialektik der Aufklärung, ein düsteres, pessimistisches Buch, in dem die Katastrophe des Nationalsozialismus von den in den USA lebenden Exilanten als ein Versagen der „Aufklärung“ gedeutet wurde. Diese habe sich auf „Naturbeherrschung“ verengt. Der Primat der Logik bedeute einen Primat des Rechnens, und dieser wiederum führe zum Primat des Marktes, der sich die Gesellschaft insgesamt unterworfen habe.

Die philosophische Anschlussfähigkeit dieser Position war von Anfang an begrenzt. Das mussten im US-amerikanischen Exil auch die „New York Intellectuals“ um Otto Neurath (1882–1945) erleben, eine Linke, die logisch statt „dialektisch“ denken wollte. Die Debatten der beiden „marxistischen Häresien“ (Stuart Jeffries) in den Jahren 1936/37 endeten ohne Verständigung. Im Grunde waren sie ein Präludium zu der großen, fälschlich „Positivismusstreit“ genannten Auseinandersetzung zwischen Adorno/Habermas auf der einen und Karl Popper/Hans Albert auf der anderen Seite in den 1960er-Jahren. Drei eng miteinander verbundene Differenzen der beiden Denkschulen zeigten sich in beiden Kontroversen: Erstens teilten die Kontrahenten keinen gemeinsamen Begriff von „Logik“: Ging es den einen um „die konkrete Verfahrungsweise der Soziologie“ (Adorno), so den anderen um rein formale Regeln des Denkens. Zweitens bezeichneten die einen mit „Widersprüchen“ dynamische Ambivalenzen in der gesellschaftlichen Realität, die anderen aber eine rein logische Kategorie, die sich auf das Verhältnis von Aussagen zueinander bezog. Drittens verwendete Adorno einen weiten und emphatischen Wahrheitsbegriff, der zugleich auch Prädikate wie „gut“ und „gerecht“ einschloss, während für Popper der rein formale Wahrheitsbegriff Alfred Tarskis (Der Satz „Der Schnee ist weiß“ ist genau dann wahr, wenn der Schnee weiß ist) maßgeblich war.

Resultat beider Kontroversen, von denen die zweite sich über Jahre hinzog: gegenseitige Vorwürfe, bleibendes Unverständnis, tiefer und schmerzhafter Dissens. Immerhin fühlte Habermas sich von der analytischen Philosophie und dem kritischen Rationalismus herausgefordert, eine neue Grundlage für die Kritische Theorie zu suchen, die einen, wenn schon nicht substanziellen, so doch wenigstens prozeduralen Vernunftbegriff zu retten versuchte. Für Adorno kam dieser Weg nicht (mehr) in Frage.

Als das „Institut für Sozialforschung“ in den frühen 1950er-Jahren aus dem Exil zurückkehrte und sich in der Goethe-Universität etablierte, hatte es mit den marxistischen Analysen der 1920er-Jahre und den Hoffnungen auf eine Gesellschaftsveränderung im Geiste eines menschenfreundlichen Sozialismus nur noch wenig im Sinn. Ralf Dahrendorf (1929–2009) hielt es 1954 nur zwei Monate dort aus; zu autoritär und zu esoterisch wirkte das um Horkheimer und Adorno herum aufgebaute Institut. Jürgen Habermas (geboren 1929) blieb zwar länger, erhielt aber im Institut keine Chance auf eine Habilitation, obwohl Adorno – das muss man ihm lassen – ihn sehr schätzte und förderte. Jedoch: Wer nach Revolutions- und Hoffnungspotenzial suchte, der tat in den Folgejahren gut daran, dies nicht in der dunkel-düsteren negativen Dialektik Adornos zu tun, sondern der wurde bei Ernst Bloch, Erich Fromm und Herbert Marcuse fündig.

Faschistische Substanz

Konsequent blieb Adorno gegenüber Heidegger und dessen Philosophie: In seinen beiden Schlüsselwerken „Jargon der Eigentlichkeit“ (1964) und „Negative Dialektik“ (1966) kritisierte er heftig dessen hermetische Sprache und seine letztlich nihilistische Fundamentalontologie.
Adornos Argumentation zielte darauf, die faschistische Substanz von Heideggers politischer Option an seinem Werk selbst aufzuzeigen. Ob ihm dies gelungen ist, darüber kann man streiten. Nach dem Erscheinen der „Schwarzen Hefte“ Heideg­gers aber kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass es diese faschistische Substanz auch lange nach 1934 (Heideggers Rücktritt vom Rektorat an der Freiburger Universität) noch gab und dass sie auch antisemitische Elemente barg.

Adornos Spätwerk enthält, wie das postum erschiene Büchlein Erziehung zur Mündigkeit beweist, sehr viele kluge, menschenfreundliche, zukunftsweisende Gedanken. Erst recht heute – nach dem politisch erschreckenden Auftreten der AfD in unseren Parlamenten – sollte sein Postulat gelten: „Aller politische Unterricht endlich sollte zentriert sein darin, dass Auschwitz sich nicht wiederhole.“ Selbst zu einem positiven Begriff von Aufklärung fand er zurück, indem er sich explizit auf Kant berief und Aufklärung als eine „dynamische Kategorie“ wiederentdeckte, die der Mündigkeit verpflichtet sei, dass sie freilich im „Werden“ begriffen sei und nicht statisch verstanden werden dürfe. Dass dieser Prozess bedroht ist durch den globalisierten Kapitalismus, die „verwaltete Welt“ und die „Kulturindustrie“, wird heute kaum jemand ernsthaft bestreiten. Im Gegenteil ist die Aufklärung heute noch zusätzlich herausgefordert durch die wild wuchernden „sozialen Medien“ und die anarchische Welt des Internets (und Darknets), in der wir leben. Dass Adorno zu den aufklärerischen Intentionen seines Frühwerks der 1920er-Jahre zurückkehrte, ist aller Ehren wert.

Dennoch bleibt die Bilanz seines Werkes zwiespältig. Es lag zwar nahe, dass der „atonal“ denkende Philosoph für eine „negative Dialektik“ plädierte. Denn der Hegelsche Dreiklang von These, Antithese und Synthese war ihm vor dem Hintergrund der Barbarei des 20. Jahrhunderts gar zu harmonistisch und tonal gestimmt. Adorno blieb daher bei Antithese und Negation stehen, ein atonaler Denker in dürftiger Zeit. Aber Negativität bedeutete zugleich Pessimismus und Hoffnungsarmut, und die Forderung nach einem konsequent „dialektischen“ Denken zerschnitt leichtfertig die dünnen Fäden zur analytischen Philosophie und zum kritischen Rationalismus, um deren Rekonstruktion sich dann Habermas bemühte.

Auch andere Fäden müssen heute geknüpft werden, um die „Frankfurter Schule“ in den aktuellen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen zukunftsfest zu vernetzen. Axel Honneths „Kampf um Anerkennung“, der in den 1990er-Jahren seinen Ausgang nahm, war und ist dabei bedeutsam, aber auch die weite Perspektive des aktuellen Direktors des Instituts für Sozialforschung, Stephan Lessenich, der für ein „global solidarisches Denken“ eintritt. Also für eine grenzüberschreitende Wahrnehmung der neben uns wütenden Sintfluten und für ein Handeln, das das Wohl aller, vor allem auch der ärmsten, Menschen dieser Erde im Blick hat. Früher nannte man ein solches Handeln „Sozialismus“ und verstand es als ein Projekt der Aufklärung. Wenn die Erinnerung an Theodor W. Adorno und die Besinnung auf die Wurzeln der „Frankfurter Schule“ diesem Projekt diente, dann wäre schon sehr viel gewonnen.

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