Die Schönheit der Diaspora

Wie die Delegierten der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in die polnische Provinz aufbrachen
Die lutherische Kirche von Częstochowa
Foto: Philipp Gessler
Die lutherische Kirche von Częstochowa.

Am Sonntag tagte die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Krakau nicht, stattdessen brachen die Delegierten aus aller Welt auf, um kleine Gemeinden überall in Polen kennenzulernen. Und um gemeinsam mit ihnen einen Gottesdienst zu feiern. Eine Reportage von Philipp Gessler über gequetschte Lutheraner, eine ziemlich lange Reise im Minibus und den Charme der Vielfalt christlicher Frömmigkeit.

Wenn das Volk Gottes im 21. Jahrhundert aufbricht, ist zunächst ein Piepen zu hören. Dann teilt sich nicht wirklich das Meer, vielmehr schwenkt auf einem Parkplatz zwischen Plattenbauten eine ganze Kolonne von Reisebussen rückwärts mit nervigem Warnpiepen auf einen großen Parkplatz ein. Die Busarmada soll die bunte Christenheit lutherischer Prägung aus aller Welt aufnehmen. So geschehen zur eher unchristlichen Zeit kurz vor sieben Uhr am Sonntagmorgen im noch sozialistisch angehauchten Areal der Wissenschaftlich-Technischen Universität AGH am Stadtrand von Krakau, in der die meisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen der 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) untergebracht sind. Ungefähr 300 Delegierte aus fast allen Ländern rund um den Globus, seit Mittwoch vergangener Woche in der polnischen Königsstadt vereint, verteilten sich an diesem Tag des Herrn auf rund ein Dutzend Reisebusse. Mit ihnen ging es in kleineren Gruppen meist in die polnische Provinz: zum evangelischen Sonntagsgottesdienst natürlich, eingeladen von örtlichen lutherischen Gemeinden.

In den kleinsten Bus mit der Nummer 10, einen schwarzen Minibus japanischer Bauart, quetschten sich neben den Reporter zwei Bischöfe, Joseph Bvumbwe von der evangelisch-lutherischen Kirche im afrikanischen Malawi und Vijaya Bhaskar Entrapati der South Andhra Lutheran Church in Südindien. Zu ihnen gesellten sich in prächtig-bunten Kleidern mit Sari-Anklängen die nicht ordinierte Delegierte Elizabeth Dhinagar und die Pastorin Sosirite Kandulna, beide ebenfalls aus Indien, sowie der dänische Intellektuelle und Kirchenexperte Søren Abildgaard und Pastor Hakan Nilsson aus dem schwedischen Uppsala – eine angemessen bunte Truppe, kann man sagen.

Unweit der Schwarzen Madonna

Fast zwei Stunden lang ging es übers platte Land ins südpolnische Częstochowa (auf Deutsch: Tschenstochau). Und wenn es für Lutheraner überhaupt so etwas gibt wie Diaspora, dann ist sie dort zu finden, mitten in dieser Großstadt mit rund 220.000 Einwohnern, gelegen in der Woiwodschaft Schlesien. Denn Częstochowa ist unbestritten das Herz des katholischen Polen: Die Ikone der Schwarzen Madonnaim Kloster Jasna Góra (Heller Berg)ist in Częstochowa seit Jahrhunderten ein Symbol von überaus großer nationaler Bedeutung. Das Marienbildnis gilt als wundertätig und wird jedes Jahr von mehreren Millionen Pilgern aufgesucht. Es braucht schon einiges an Gottvertrauen und protestantischer Zuversicht, um in einer solch tiefkatholischen Umgebung ausgerechnet eine lutherische Kirche zu leiten.

Lutherischer Gottesdienst in Tschenstochau mit Predigt aus Indien.

Bischof Entrapati aus Südindien predigt in dem liebevoll gestalteten Gottesdienst in der polnischen Diaspora. Foto: Philipp Gessler

Der Gottesdienst ist sehr liebevoll gestaltet, es werden Bach und Händel an der Orgel und mit der Violine gespielt. Alle machen tapfer mit, die lutherische Frömmigkeit funktioniert eben auch weltweit. Aufhorchen lässt ein Satz aus der in Englisch gehaltenen Predigt von Bischof Entrapati aus Südindien. Er erwähnt knapp die derzeitige Verfolgung, ja sogar Folter und Morde, die seine Gläubigen, darunter Priester seiner Kirche, zu erleiden hätten. Pastorin Kandulna bestätigt eine zunehmend feindselige Stimmung gegenüber Christinnen und Christen in Indien. Die Hetze wird angefacht und verstärkt durch einen ausgrenzenden Hindu-Nationalismus, für den auch der indische Premier Narendra Modi seit zehn Jahren Verantwortung trägt.Wie friedlich und respektvoll sind dagegen das religiöse Zusammenleben und das Staat-Kirche-Verhältnis in Polen, überhaupt in Europa! Das wird auch nach dem Gottesdienst deutlich beim Austausch mit anderen Gläubigen im schlichten Gemeindesaal der lutherischen Kirche von Częstochowa. Mit Händen und Füßen, in Polnisch, Englisch und auch etwas Deutsch finden einige intensive Gespräche statt, die das eifrig bemühte Schlagwort vom gegenseitigen Lernen plötzlich gar nicht mehr als eine Plattitüde erscheinen lassen.

Gespräch im Gemeinderaum

Gespräch im Gemeinderaum. Foto: Philipp Gessler
 

Beim nach polnischer Vorliebe überaus fleischlastigen Mittagessen mit dem Bürgermeister von Częstochowa, Krzysztof Matyjaszczyk von der sozialdemokratischen SLD, mittlerweile in der „Nowa Lewica“ (Neue Linke) aufgegangen ist,  geht es danach in einem Restaurant ein paar Straßen weiter an einer Ecke des langen Tisches um die protestantischen Kirchen in Dänemark, Deutschland und Schweden. Aber deren Probleme sind, auch wenn sie natürlich drücken, am Ende lächerlich im Vergleich zu denen der lutherischen Gemeinschaften etwa in Indien oder in Afrika. Und das gilt, auch wenn diese Kirchen im globalen Süden im Gegensatz zum europäischen Luthertum wachsen. Aber deren kirchliches Leben, das wird im Laufe des Tages an den Erzählungen der bunten Truppe im Minibus deutlich, ist in der Regel ungleich härter. Wenn es in den Schriften des Neuen Testaments um die Bedrängung, Verleumdung und Verfolgung der jungen Christenheit geht, wird dies etwa in Indien ganz anders und viel unmittelbarer gelesen und verstanden als in Europa. Und die Bitte um Gebete für diese eher jungen Kirchen in großer Not haben vor allem eines: eine viel größere Dringlichkeit.

Am Sonntagnachmittag ergibt sich anschließend für die gequetschten Lutheranerinnen und Lutheraner im Minibus noch die Möglichkeit, einer Führung zur berühmten Schwarzen Madonna im Kloster Jasna Góra beizuwohnen. Die barocke Pracht, die hemmungslose Heiligenverehrung und die demonstrative katholische Frömmigkeit vor der braunen Ikone mit dem Narbengesicht sind so ziemlich das Gegenteil zur eher zurückhaltenden lutherischen Spiritualität, zumindest in ihrer europäischen Tradition. Aber ein guter Lutheraner der Reisegruppe lässt sich ob der besonderen Atmosphäre auf dem Hellen Berg dann doch zu einer kurzen Kniebeuge vor der Ikone hinreißen … wer, wird nicht verraten.

So ist das an diesem Tag im südpolnischen Częstochowa. Pastor Glajcar hat noch einen kurzen Besuch in der polnisch-orthodoxen Kirche organisiert, die genau gegenüber seiner lutherischen Kirche deutscher Herkunft steht. Der dortige Pope erläutert mit großer Freundlichkeit und Humor einige grundlegende architektonische und theologische Prinzipien seiner Kirche. Und so, wie er sich mit Pastor Glajcar gleich mehrmals und herzlich umarmt, nimmt man den beiden sofort ab, dass hier in den vergangenen Jahren nicht nur eine fruchtbare ökumenische Zusammenarbeit gewachsen ist, sondern auch eine tiefe Freundschaft. So schön, vielfältig, respektvoll und bunt kann das Christentum eben sein, sei es lutherisch, katholisch oder polnisch-orthodox. Auch das war an diesem Sonntag in Częstochowa, in der tiefen protestantischen Diaspora, zu lernen.

Besuch bei der "Schwaren Madonna"

Besuch bei der Schwarzen Madonna. Foto: Philipp Gessler

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