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Jüdisch-arabisches Leben

Zum 75-jährigen Bestehen des Staates Israel hat der in Berlin lebende Journalist Igal Avidan ein bemerkenswertes kleines Büchlein vorgelegt. Bereits im ersten Kapitel begegnen die Lesenden einer palästinensisch-arabischen, muslimischen Israelin, die im Kibbuz der Ghettokämpfer (Lochamei haGetaot) jüdische und arabische Schulklassen zum gemeinsamen Lernen über die Shoah zusammenbringt. Von ganz anderen Persönlichkeiten jenseits aller Klischees ist schließlich im Schlusskapitel die Rede – etwa von jenem der Hamas nahestehenden Chef einer arabischen Großfamilie im Osten Jerusalems: Sein von Israel annektiertes Dorf vertritt der Mann im Palästinenserparlament in Ramallah. Gleichzeitig aber vermietet er das Erdgeschoss seines Hauses an die israelische Allgemeine Krankenkasse, um so die Lebensqualität in der palästinensischen Nachbarschaft zu verbessern.

Zwischen dem Kibbuz und Jerusalem zeichnet das Buch … und es wurde Licht! eine Reise durch zahlreiche gemischte, also arabisch-jüdische Orte Israels wie Akko, Haifa, Jaffa, Lod und Ramle. Prägnante Beschreibungen der Realität vor Ort wechseln sich ab mit einfühlsamen Interviews. Im Zentrum stehen dabei immer wieder jene brutalen Gewaltausbrüche zwischen jüdischen und arabischen Einwohnern, die im Mai 2021 das Land erschütterten.

Avidan geht in den Gesprächen der Vor- und Nachgeschichte dieser Unruhen nach und zeichnet ein präzises Bild von struktureller Benachteiligung der arabischen Bevölkerung (trotz formaler demokratischer Gleichberechtigung) in vielen Bereichen des Staates, der Nicht-Anerkennung ihrer Traumata von 1948, von gegenseitigem Misstrauen zwischen jüdischen und arabischen Nachbarn, aber auch von anhaltenden innerarabischen Familienrivalitäten.

Das Genre des Buches, jene Mischung von Reisebericht und Interviews, mag sich anlehnen an den Klassiker von Amos Oz Im Lande Israel (1982). Auch andere Autoren haben sich erkennbar von einer solchen Quelle inspirieren lassen. Aber anders als etwa Nir Baram (Im Land der Verzweiflung, 2016) findet Avidan funktionierende Modelle des Miteinander-Lebens gerade nicht im Schulterschluss der Religiösen auf allen Seiten des Konfliktes, die ein liberales Gesellschaftsmodell eher ablehnen. Er findet sie auch nicht in den bemerkenswerten Initiativen und NGOs, die besonders im Ausland immer wieder Beachtung finden, weil sie gegen alle Widerstände für die Rechte der Palästinenser eintreten oder israelisch-palästinensische Dialoge befördern.

Anders als Oz, dessen Reisebericht beide Seiten der „Grünen Linie“ in den Blick nimmt, oder Baram, der sich ganz überwiegend im Westjordanland bewegt, beschränkt sich Igal Avidan fast ausschließlich auf Kern-Israel in den Grenzen von 1967 (plus Ostjerusalem). Dabei stellt er zumeist völlig unbekannte Menschen in den Mittelpunkt, die jenseits der Schlagzeilen genau eines miteinander gemein haben: dass sie im Moment der Krise am richtigen Ort schlicht und einfach das Richtige tun.

Einer der Interviewten bekräftigt gegen Ende des Buches seine These, dass „der gemeinsame Alltag oft stärker sei als der nationale Konflikt“. Auch der Autor selbst scheint an einer solch hoffnungsvollen Sicht festhalten zu wollen – trotz der Demontage der israelischen Demokratie durch die Regierenden im Jahr 2023.

In seinem Nachwort beschreibt Avidan den im Gang befindlichen Umbau der staatlichen Gewaltenteilung mit ebensolcher Klarheit wie den Kampf weiter Teile der jüdischen Öffentlichkeit dagegen sowie die Gründe, warum gerade der arabische Bevölkerungsteil an dieser Auseinandersetzung kaum beteiligt ist. Vor diesem Hintergrund mag der biblische Buchtitel fast wie ein frommer Wunsch für die Zukunft des Staates Israel wirken. Ein absolut lesenswertes Buch.

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Foto: EMS

Uwe Gräbe

Pfarrer Dr. Uwe Gräbe ist Nahostreferent der Evangelischen Mission in Solidarität und Geschäftsführer des Evangelischen Verein für die Schneller-Schulen.


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