Zurechtgewiesene Engel

Wie in der Hauptstadt öffentlich für Frieden im Heiligen Land gebetet wurde
House of One
Foto: Philipp Gessler

Voller Entsetzen über den blutigen Terrorüberfall der Hamas auf Israel in den vergangenen Tagen kamen in Berlin die jüdische Gemeinde von Chabad Lubawitsch und Vertreter des interreligiösen Bauprojekts „House of One“ zu öffentlichen Gebeten zusammen. Während in der Synagoge neben Trauer auch Wut und Empörung laut wurden, war das Gedenken am entstehenden Dreireligionen-Gotteshaus in Berlin Mitte stiller. Von religiös-politischen Gebetsstunden in der Hauptstadt berichtet Philipp Gessler.

Die Synagoge voll zu nennen wäre eine Untertreibung. Vollgepackt bis auf den letzten Sitz ist sie. In den Gängen des unteren Männerbetraums ist kaum eine Bewegung möglich, so eng steht man hier, bei den Frauen auf dem Balkon ist es ähnlich. Ein Alptraum ist das sicherlich für Brandschutzbeauftragte, aber noch mehr für die Personenschützer, die in diesem Gewühl wichtige Köpfe des Staates und des Judentums in Deutschland vor Gefahr für Leib und Leben bewahren müssen. Aber all das hat an diesem Abend keine Priorität. Denn hier in der holzgetäfelten Synagoge der orthodoxen jüdischen Gemeinde von „Chabad Lubawitsch“ geht es am Montagabend um Wichtigeres, nämlich darum, Solidarität mit Israel zu zeigen. Und für das Volk Gottes zu beten, dessen Berufung Adonai, der Herr, nie beendet hat, wie es heute auch die christliche Theologie endlich anerkennt.

In ganz Deutschland fanden in den vergangenen Tagen Solidaritätsveranstaltungen und -demonstrationen für Israel statt, ein Land, das völlig überraschend am Samstagmorgen von Hunderten Hamas-Terroristen überfallen wurde. Die Bilder und Berichte von den ungezählten Gräueltaten der islamistischen Mörder an wehrlosen Zivilisten, die massenhaften Geiselnahmen und die Massaker an friedlichen Kibbuzbewohnern oder tanzenden jungen Leuten, sind so unerträglich, dass es viele Menschen, ob jüdisch oder nicht, auch hierzulande auf die Straße treibt. Für die Mitglieder jüdischer Gemeinden ist das alles noch schwerer zu ertragen, weil viele von ihnen familiäre oder freundschaftliche Beziehungen zu Israelis haben – und weil die meisten Opfer Glaubensgeschwister sind.

So herrscht in aller Enge und trotz herumtollender Kinder auch im Gebetsraum eine gedrückte Stimmung an diesem Abend in der Synagoge von Chabad Lubawitsch. Die orthodoxe Frömmigkeitsbewegung ist wegen ihrer konservativen Ausrichtung, etwa der strikten Trennung von Frauen und Männern nicht nur beim Gebet, nicht ganz unumstritten auch in jüdischen Kreisen. Aber sie hat in den vergangenen Jahrzehnten weltweit viel Einfluss im Judentum gewonnen. Und in der deutschen Hauptstadt ist sie aus dem jüdischen Glaubensleben mittlerweile kaum wegzudenken, große Anerkennung und Unterstützung der Politik inklusive.

So wundert es nicht, dass mehrere Bundestagsabgeordnete an diesem Abend ihren Weg in die Synagoge von Chabad Lubawitsch im Stadtteil Wilmersdorf von Berlin gefunden haben. Der prominenteste Politiker aber ist wohl Kai Wegner, der Regierende Bürgermeister der Hauptstadt. Nachdem Rabbiner Yehuda Teichtal, Gründer und Vorsitzender von Chabad Berlin, den Schrecken der ganzen Gemeinde ins Wort gebracht und dazu aufgerufen hat, „Gott um Wunder und Barmherzigkeit“ zu bitten, wird vor allem Wegners Redebeitrag mit Spannung erwartet. Der CDU-Politiker hatte schon am Vortag bei einer Demonstration für Israel am Brandenburger Tor die Solidarität der Berliner Politik und Bevölkerung mit dem jüdischen Staat zum Ausdruck gebracht und dafür viel Beifall erhalten. Nun wird seine Rede in der Synagoge ebenfalls häufig vom Klatschen der Anwesenden unterbrochen – unter anderem, als er fordert, dass die terroristische Hamas keine Gelder von staatlichen und/oder europäischen Stellen erhalten dürfe, auch wenn solches Geld diese Terrororganisation nur über Umwege erreicht.

Beifall findet auch Wegners Versicherung, dass Antisemitismus keinen Platz in Berlin habe, was allerdings von der Wirklichkeit immer wieder konterkariert wird, etwa bei der propalästinensischen Al-Quds-Demonstration, die fast alljährlich in der Hauptstadt stattfindet. Noch schlimmer war es am Samstagabend, als immer mehr Horrornachrichten von den Massakern der Hamas-Terroristen Deutschland erreichten. Feierten doch aufgehetzte Menschen im Berliner Stadtteil Neukölln sogleich diese Schandtaten als einen begrüßenswerten Aufstand des palästinensischen Volkes im Gazastreifen. Dass dabei Süßigkeiten verteilt wurden, machte die Feierei auf der Straße umso zynischer.

Und es ist wohl bezeichnend, dass in dieser entsetzlichen Situation selbst Politiker nicht mehr viele Worte finden, sondern eher zum Gebet aufrufen. So auch der Regierende Bürgermeister. Zum Abschluss seiner kurzen Ansprache in der Synagoge sagt er. „Beten wir gemeinsam für die Menschen in Israel. Beten wir für Israel und für den Frieden. Shalom, Israel!“Felix Klein, der „Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus“, betont in seinen Worten eine Tatsache, die in diesen Tagen wie ein zusätzlicher Schock nicht nur durch die jüdische Welt geht: Dass seit dem Holocaust noch nie so viele Juden Opfer von Judenhass wurden wie während der ersten beiden Tage des Hamas-Terrors. Kaum erträglich sind Kleins Schilderungen der Gräueltaten an jüdischen Kindern und selbst an alten Menschen, darunter einer Holocaust-Überlebenden, durch die palästinensischen Terroristen.

Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, kann die Stimmung in seiner Ansprache ebenfalls nicht heben. Er fordert, alle Zahlungen an palästinensische Organisationen einzufrieren, und bekommt dafür viel Beifall. Zum Ende seiner kurzen Rede sagt er: „Wir sind nun im Stadion der Trauer, aber dürfen nicht gelähmt sein. Am Israel chai!“ („Das Volk Israel lebt!)“. Die Rede des Botschafters des Staates Israel in Deutschland, Ron Prosor, schließlich ist, was kaum verwundern mag, kämpferischer. Auch er kritisiert den Missbrauch von Hilfsgeldern an die Palästinenser. Er sagt, dass Israel nun zurückschlage. Der Diplomat schließt mit dem Ausruf: „Wenn wir zusammenstehen, kann uns niemand besiegen!“ Die Solidaritätsfeier in der Synagoge endet mit Gebeten, in denen unter anderem an die Streitwagen des Volkes Israel erinnert wird. Botschafter Prosor und Rabbiner Teichtal entzünden unter Blitzlichtgewitter gemeinsam eine Kerze. Aber das letzte Wort an diesem Abend ist dann doch: Shalom! Friede!

House of One
Foto: Philipp Gessler
 

Das ist auch das wesentliche Wort eines gemeinsamen Gebets am Dienstagabend an der Baustelle des „House of One“. Hier am Petriplatz in Berlin Mitte soll in den kommenden Jahren etwas weltweit Einmaliges entstehen: ein gemeinsames Gebetshaus der drei monotheistischen Religionen, also des Judentums, des Christentums und des Islams. Das ambitionierte Projekt, das Millionen Euro kosten wird, ist trotz Jahre langer Planung und eifrigen Spendensammelns noch nicht sehr weit vorangeschritten. Aber die Bagger rollen schon – und das ist überaus wörtlich zu nehmen. Tatsächlich ist wegen des rauschenden Verkehrs an der Baubude, wegen vorbeifahrender Baustellenfahrzeuge und vor allem wegen des Fehlens eines Mikrofons vieles bei diesem öffentlichen Gebet nicht zu verstehen.

Immerhin, zu verstehen ist Rabbiner Andreas Nachama, der schon lange beim „House of One“ engagiert ist. Er sagt: „Das Töten, das Verschleppen von Kindern, Frauen, Männern ist ein Verbrechen und mit nichts zu rechtfertigen. Diese jetzt in Kämpfen zu beklagende Eruption von Gewalt ist das Gegenteil dessen, was das Heilige Land unserer drei Religionen braucht, nämlich Frieden. Und zwar Frieden für die ganze Region. Dafür beten wir jetzt hier.“ Der liberale Rabbiner erinnert an die biblische Erzählung des Untergangs der Soldaten aus Ägypten (Mizrajim), die in Fluten des Meeres starben, als sie versuchten, das aus der Knechtschaft fliehende Volk Israel zu verfolgen und zu vernichten: „Ein Midrasch, eine Jahrtausend alte Predigt, berichtet, dass dann die Engel im Himmel ein Freudentanz begannen – ihnen aber Gott in seiner Heiligkeit gebot, sofort damit aufzuhören, schließlich seien auch die Leute aus Mizrajim seine Geschöpfe, in seinem Ebenbild erschaffen, mit einem Funken seiner Einzigartigkeit in sich – es gäbe also auch bei ihrem Tod keinen Grund zur Freude.“ Und Nachama ergänzt: „Und so beklagen wir bei allen Kriegen die Opfer aller Seiten! Es ist unser Versagen, dass an so vielen Stellen in der Welt es uns nicht gelingt, den Frieden, der im Himmel herrscht, hier auf Erden einzurichten.“

Imam Kadir Sanci, ebenfalls seit Jahren engagiert beim „House of One“, zitiert einen Vers aus der Sure el-baqara des Koran: „O ihr, die ihr glaubt! Tretet allesamt ein in den Frieden! Und folgt nicht den Schritten Satans! Siehe, er ist euch ein klarer Feind.“ Der Geistliche betont in auch biblisch gefärbter Sprache: „Ich weigere mich die Menschen in Israeliten und Araber, in Juden und Muslime, in Besitzer und Besatzer zu teilen. Es sind alle Menschen. Und wir sind allesamt Opfer von Hass und Gier. Es gibt nur das ‚eine Welthaus‘, so wie es Martin Luther King einst sagte. Entweder werden wir gemeinsam in Frieden leben oder wir werden gemeinsam unser Verderben vorbereiten. Einen dritten Weg wird es nicht geben. Wir haben uns bereits für den Frieden entschieden und werden unermüdlich dafür beten und kämpfen, damit sich die anderen uns anschließen.“

Pfarrer Michael Kösling, von der evangelischen Kirchgemeinde St. Marien-Friedrichswerder zitiert die Bergpredigt, in der Wanderrabbiner Jesus von Nazareth die als selig bezeichnet, die Frieden schaffen. Kösling betet: „Schleiche Dich ein, großer Gott, in die Dunkelheiten dieser Welt. Heile die Wunden der Menschen und der Welt. Du hast den Tod überwunden, glauben wir als Christinnen und Christen. Überwinde ihn wieder und wieder und führe endlich deinen Frieden herauf und das Leben.“

An diesem Abend sprach auch Angelica Hilsebein, die Beauftragte für interreligiösen Dialog des Erzbistums Berlin, an der Baustelle des „House of One“ ein Gebet, ebenso wie Peter Amsler von der Baha’i-Gemeinde Deutschland und auf Französisch Pastor Clotaire Siribi von der Evangelischen Allianz der Zentralafrikanischen Republik (ZAR). Imam Abdoulaye Ouasselegue vom Nationalen Islamischen Rat der ZAR rezitierte auswendig offenbar eine ganze Sure aus dem Koran. Die wenigsten der rund 50 Teilnehmer des öffentlichen Gebets am Petriplatz dürften ihn verstanden haben. Aber am Ende haben wohl alle begriffen, was er gemeint hat: Es ging um den Frieden!

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