Weniger Belehrung, mehr Austausch

Warum praktischer Umgang mit der Bibel ins Zentrum der Kirchenentwicklung gehört
Bibel
Foto: Bibelgesellschaft

Sie ist ein Klassiker, aber es braucht einen neuen Schub, damit sie auch gelesen wird: die Bibel. Die Referentin für Perspektiven missionarischen Handelns im EKD-Kirchenamt in Hannover, Claudia Kusch, und Johannes Wischmeyer, Leiter der dortigen Abteilung Kirchliche Handlungsfelder, berichten über neue Erkenntnisse zum Bibelgebrauch und fordern vermehrte Anstrengungen, um die Bibel wieder stärker ins Spiel zu bringen.

Eine gute Bibel ist eine gebrauchte Bibel. „Bibel wird gebraucht“, das ist mit Absicht doppeldeutig formuliert. Christ:innen brauchen die Bibel, um ihren evangelischen Glauben zu leben, um ihr Leben im Lichte des Evangeliums zu verorten, zur Hoffnung und als Korrekturmaßstab. Die Bibel, in welcher Form auch immer, ist nur etwas wert, wenn sie vielfältig be- und genutzt wird.

Wenn Kirchenentwicklung zum Ziel hat, Menschen zu befähigen, ihren christlichen Glauben als Individuum und in Gemeinschaft zu leben, dann rückt gelebte Bibelpraxis mitten ins Zentrum. Die diesjährige EKD-Synodaltagung hat das Leitthema „Sprach- und handlungsfähig glauben“. Das geht nicht ohne einen lebendigen Bezug zur Bibel.

Um zu verstehen, warum die Bibel gebraucht wird oder nicht, ist ein Blick in die Statistik nötig: Die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6) fragt, welche Rolle die Bibel im Leben von Christinnen und Christen spielt. Beinahe 85 Prozent der Mitglieder christlicher Kirchen und Konfessionslosen geben an, dass zum Christsein gehört, „ein anständiger und zuverlässiger Mensch zu sein“. Immerhin 45 Prozent halten die Taufe für ein unerlässliches Kennzeichen. Doch nur 18 Prozent meinen, dass Lesen in der Bibel dafür essenziell sei. Konfessionslose setzen „Christlich = Bibel lesen“ deutlich häufiger gleich als Durchschnittschristen. Unter Christ:innen schätzt nur die kleine Gruppe der stark Religiösen die Bedeutung der Bibellektüre fürs Christsein sehr hoch ein (55 Prozent).

Dem entspricht die Lesepraxis: Nur zwei Prozent der Deutschen lesen täglich die Bibel, insgesamt vier Prozent mindestens einmal in der Woche; 65 Prozent jedoch nie. Insgesamt sind es 90 Prozent der Bevölkerung, die höchstens einmal im Jahr oder nie in der Bibel lesen. Mehrmals im Jahr lesen in etwa 20 Prozent der Kirchenmitglieder in der Bibel. Bei Konfessionslosen ist die Bibellektüre verschwindend gering. 35 Prozent der Kirchenmitglieder halten die Bibel für eine wichtige Quelle ihres Glaubens – das ist ein eklatanter Unterschied zu den Konfessionslosen. Beinahe ebenso viele sagen, dass die Geschichten der Bibel ihnen schon in manchen Lebenslagen geholfen haben. Doch es sind auch etwas über 50 Prozent der Kirchenmitglieder, die angeben: Die Bibel hat für mein Leben keine Bedeutung.

Großes Interesse

Die Tiefenanalyse erlaubt, einige typbezogene Aussagen darüber zu machen, wen die Bibel besonders anspricht: Entscheidend für eine Orientierung an der Bibel ist, ob Religion im konkreten Leben als bedeutsam erlebt wird. Alle anderen Faktoren sind nachgeordnet. Dabei besteht bei vielen Menschen großes Interesse, sich mit der Bibel auseinanderzusetzen. Die evangelische Kirche erreichen rund um die Bibel jede Menge Fragen, teilweise sehr elementare. Ein typisches Beispiel ist die Zuschrift einer ALG-II-Empfängerin: „Ich habe einige Fragen, was die Bibel angeht. Ich würde gerne wieder mehr in der Bibel lesen. 1. Aber wie liest man denn die Bibel? Mein Opa hat sie von vorne bis hinten gelesen und vorne wieder angefangen. 2. Was für eine Bibel wäre gut für mich?“ Die Bibel zugänglich machen, Bibelpraxis fördern – das ist eine zentrale Aufgabe für die evangelische Kirche auf allen Ebenen, insbesondere für ihre Bibelgesellschaften.

Wie werden Kontakte hergestellt, die Menschen zur Bibelpraxis befähigen? Es gibt dafür viele Stationen jenseits der ausgefeilten Predigt, der Liturgie im Sonntagsgottesdienst, des Bibelgesprächskreises. Dort kommt es auf hohem Niveau zur Beschäftigung mit biblischen Texten. Aber diese Formate sind für viele Menschen zu exklusiv und eröffnen ihnen keinen Zugang. Wie kommt die Bibel im Alltag ins Spiel? Und das angesichts der Tatsache, dass religiöse Erziehung, Bildung und Weitergabe der Tradition wie Beten oder Singen in Familien immer weniger praktiziert werden? Kindertagesstätten, Schulen, Kasualien und Kirchenmusik sind mittlerweile die wichtigsten Schnittstellen. Denn das stellt die aktuelle Studie des Leipziger Theologen Alexander Deeg und anderer zum Bibelgebrauch fest: Die Sozialisation mit der Bibel findet im Wesentlichen zwischen dem vierten und dem 14. Lebensjahr statt. Das heißt: Kita, schulischer Religionsunterricht und Kasualgottesdienste werden immer häufiger der Ort der Erstbegegnung mit der Bibel. Elementarisierung, Übersetzung in heutige Lebenswelten und biografische Verankerung sind entscheidend. Ohne eine kontinuierliche Begleitung und Ermutigung zur Bibelpraxis wird die am Tauftag verschenkte Bibel nicht in die Hand genommen.

Durch Musik berührt

Die biblische Botschaft wird nicht nur über das gesprochene Wort persönlich vernehmbar. Auch geistliche Musik, Chöre, Kindermusicals – in allen Stilrichtungen – bieten oft eine Erstbegegnung. Durch Wiederholungen, Melodie und Rhythmus prägt sich der Text ein und bleibt im Gedächtnis. Wenn es gut geht, werden Seelen berührt – durch die Musik und durch das gemeinsame Musizieren. Gerade die Musik erreicht auch kirchenferne Menschen, wie eine derzeit im Umfeld der KMU 6 entstehende Studie nachweisen wird. Deswegen ist die Arbeit von kirchlichen Kinder- und Jugendchören für die Bibelpraxis nicht hoch genug einzuschätzen. Dort geht es nicht nur ums Üben, sondern auch um die Auseinandersetzung mit der Botschaft, von der da gesungen wird. Die Kantorkatechet:innen in den ostdeutschen Landeskirchen verkörpern beispielhaft einen solch ganzheitlichen Ansatz in der Kirchenmusik.

Auch im kirchlichen „inner circle“ fehlt häufig die Einübung im praktischen und selbstverständlichen Schriftgebrauch. 2021 hat die EKD den Grundlagentext „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“ herausgegeben. Zurecht halten die Autor:innen fest: „Biblische Texte entfalten ihre theologische Bedeutung oft nicht in Form einer primär begrifflichen Argumentation, sondern in Form von Erzählung, Gleichnis, Bekenntnis und Gebet. Dies erfordert es, dass bei der Suche nach biblischer Orientierung nicht einseitig die begrifflich normativen Texte bevorzugt werden dürfen, sondern Orientierung im Hören und Lesen der biblischen Texte als ein mehrdimensionales, den Menschen in seinen rationalen, emotionalen, biografischen und leiblichen Bezügen bewegendes Geschehen ernst genommen wird.“ Was dann aber zu einer Praxis des Schriftgebrauchs formuliert wird, die solche Perspektiven fördert, ist eher enttäuschend. Es wird lapidar festgehalten: Kirchenleitende Schriftauslegung geschieht durch Predigten, Stellungnahmen von Amtsträgern, durch kirchliche Grundlagentexte und Orientierungshilfen.

Ein jüngst im EKD-Kammernetzwerk angestoßenes Projekt möchte jetzt die Probe aufs Exempel machen. Die Forschenden fragen, wie der Erfahrungsfundus biblischer Texte konkret in den vom Kammernetzwerk unterstützten Beratungs- und Entscheidungsprozessen der evangelischen Kirche zum Tragen kommt und damit zur Unterscheidbarkeit kirchlichen Handelns beiträgt.

Mit theologischer Urteilsbildung alleine ist es aber nicht getan. Im kirchlichen Verkündigungsdienst wächst in vielen Kontexten die Erfahrung: Wer anderen Menschen die biblische Botschaft nahebringen möchte, muss zuerst selbst von dieser Botschaft überzeugt sein. Eine missionale Grundhaltung, oder – als Lernziel für die christliche Gemeinschaft formuliert – geistliches Empowerment ist eine zentrale Aufgabe für die evangelische Kirche. Dafür ist ein vertrauendes, erfahrungsbasiertes Verhältnis zur Bibel die Voraussetzung – die Schrift als „Lebens-Mittel“. Der Grundansatz, um andere Menschen zu empowern, lautet: nicht Appellieren, sondern Zeigen und ins Gespräch bringen. Kirchliche Positionen werden nur überzeugen, wenn dahinter die glaubhafte Motivation von Verbundenen und Mitarbeitenden steht, im Modus des persönlichen Überzeugt-Seins. Die Bibel als Lebensbuch ist dabei eine Erklärhilfe und ein großes Identifikationsfeld für die christliche Community. Eingeübte Bibelpraxis heißt: Menschen trauen sich, im Licht biblischer Erfahrungen über ihr Leben und über das, was sie verbindet, zu reden.

Um auf allen Ebenen und ohne Glaubensscham zu zeigen, welchen Beitrag Glaubensidentität für das gute Leben von Menschen leistet, braucht es neue Ideen dafür, wie die Bibel im Alltagsleben Platz findet. Über die richtigen Methoden einer zeitgemäßen Bibelkommunikation wurde schon viel nachgedacht. Doch es gibt keine reifen Früchte, die irgendwo nur zu pflücken wären. Bereits bibelkundliche Grundkenntnisse kann niemand einfach voraussetzen. Bibelvermittlung braucht Vielsprachlichkeit, in den Zugängen wie in den Methoden, digital wie analog. Sie geschieht auf verschiedenen Foren, auch jenseits der genannten kirchlichen Arbeitsbereiche. Es kann sehr anspruchsvoll sein, die jeweilige Aufmerksamkeitslogik zu bedienen.

Bibel als Diskursraum

Dabei geht es ums Ganze. Kirche und Theologie tragen dafür Verantwortung, dass die Bibel auch als Gesamtheit wahrgenommen wird. Der Kanon steht für die Weite und gleichzeitig die Widerständigkeit der biblischen Botschaft. Initiativen sind gefragt, die auf eine brauchbare Weise kanonische Perspektiven eröffnen. Die kulturprägende Wirkung des Kanons geht in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft weit über eine kirchliche und auch eine religiöse Perspektive hinaus.

Ein inspirierendes Beispiel stellt das „Projekt 929“ dar, gestartet 2014 in Israel. Das Projekt ist ein Angebot an die israelische Gesellschaft, die 929 Kapitel des Tanach, also der Heiligen Schriften des Judentums, gemeinsam zu erkunden. Die Lektüre begleiten historische Hintergrundinformationen, Videos, Bilder, Erzählungen, Eindrücke von Personen und Schulklassen. Das Ziel ist, um die Lektüre herum eine Community zu bilden, die gemeinsam liest und reflektiert – in immer neuen Konstellationen. Es wäre eine großartige Herausforderung, diesen Ansatz auf den deutschen Sprachraum zu übertragen – ein neuartiger Zugang zur gesamten Bibel als Diskursraum.

Die Leipziger Studie zum Bibelgebrauch stellt einerseits – nicht wirklich überraschend – fest, dass Bibellektüre eine soziale und individuelle Praxis ist, die sich mit auch sonst intensiv gelebter Religiosität verbindet. Bibelpraxis hat mit einer bestimmten Sozialisation, vor allem aber einer gegenwärtigen Anbindung an gottesdienstliches und gemeindliches Leben zu tun. Die meisten, die nicht Bibel lesen, sagen, dass sie keinen Grund erkennen, warum sie das tun sollten. Aber: Auf dieser Basis gibt es ein durchaus vorhandenes, nicht geringes Interesse an der Bibel, auch bei Nichtlesenden – bei Kirchenmitgliedern liegt es der Studie zufolge immerhin bei knapp 70 Prozent. Selbst 40 Prozent der Menschen ohne Religionszugehörigkeit geben an, sie fänden interessant, was in der Bibel steht. Das spricht dafür, dass eine umfassende Themenkommunikation zur Bibelpraxis durchaus Erfolg haben kann. Der Zugang zur Bibel muss diverser werden: elementar, konkret, alltagstauglich – umsetzbar in Gemeinden und mit der Möglichkeit, Botschaften zu personalisieren. Etwas provokanter formuliert: weniger Belehrung, dafür mehr Austausch. Weniger Predigt, dafür mehr Community. Weniger Richtigkeiten, dafür mehr Konkretion. Am Anfang steht die Alphabetisierung: Menschen benötigen elementare Glaubensinformation, um Glaubenskommunikation, die auf persönlicher Frömmigkeit basiert, überhaupt verstehen zu können.

Wenig Innovation

Die Forschungsgruppe um Alexander Deeg hat noch weitere, teilweise überraschende Ergebnisse zutage gefördert: etwa die Bedeutung der Bibel als gedrucktes Buch, auch für jüngere Leser:innen. Digitale Formate ersetzen die gedruckte Bibel (noch) nicht. Ungefähr 11 Prozent der Bibellesenden nutzen die Bibel als E-Book, als App oder auf Webseiten im Internet häufig. Hörbibeln werden vor allem von älteren Befragten häufig genutzt (9 Prozent).

Menschen in Bibelpraxis zu involvieren ist das eine. Auch wenn das gelingt, muss bewusst bleiben: Nicht alle lesen dasselbe in der Bibel. Gemeindepfarrer:innen erleben regelmäßig Diskussionen, die wenig von den religionspädagogischen Innovationen der vergangenen beiden Generationen spiegeln: „Mein Pfarrer hat mir das aber so erklärt …“ „Ich habe das einmal so gelernt …“ „Ich benutze meine alte Familienbibel.“ „Darf man die Bibel überhaupt auslegen?“ Ein entwickeltes hermeneutisches Bewusstsein ist auch unter kirchlich Hochverbundenen Mangelware. Selbst einfache hermeneutische Duale wie das Konzept „Wort Gottes als Gesetz und Evangelium“ sind nur wenigen eingängig. Konzepte für eine künftige evangelische Bibelpraxis müssen den unterschiedlichen Aspekten von Vermittlung und Alphabetisierung, von Exegese und Glaubensinformation gerecht werden und gleichzeitig mit verschiedenen Lebensstilen und Lebenseinsichten produktiv umgehen. Ein neues Verständnis von religiöser Bildung lässt sich nur gewinnen, wenn die evangelische Kirche sich als Ziel setzt, diese verschiedenen Perspektiven vor dem Hintergrund eines persönlichen, biografischen Lern- und Entwicklungsprozesses zu integrieren.

Die Pfarrer:innen allein können diese Herausforderung kaum meistern. In Zukunft wird die evangelische Kirche noch mehr in die Fort- und Weiterbildung Ehrenamtlicher und Nebenamtlicher investieren (müssen). Ein leuchtendes Beispiel im Bereich des Verkündigungsdienstes stellt der Kirchliche Fernunterricht (KFU) der vier ostdeutschen Landeskirchen dar: Er legt großen Wert auf umfassende Kenntnis der Bibel, der Exegese, verschiedener Übersetzungen und Auslegungsmethoden. Weiterbildungsangebote zur Bibelpraxis, gerade auch mit dem Schwerpunkt Digitale Kirche, werden dringend gebraucht.

Gleichwohl: Den einen Masterplan in Sachen Kirchenentwicklung gibt es nicht. Auch nicht in Sachen Vermittlung der Bibel, ihrer Themen und Botschaften. Es geht vielmehr um Empowerment und Stärkung der Bibelpraxis – für Gemeinden, für Kirchenmitglieder und nicht zuletzt für alle, die sich schlicht als christlich verstehen möchten.

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Claudia Kusch

Claudia Kusch ist Referentin für Perspektiven missionarischen Handelns bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover.
 

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Johannes Wischmeyer

Dr. Johannes Wischmeyer (Jahrgang 1977) ist seit 2021 Leiter der Abteilung „Kirchliche Handlungsfelder“ im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und unter anderem zuständig für Catholica-Fragen.


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