Befreiung

Karitative Geschichte der Frauen

Als Friedrich-Wilhelm III. 1814 zum ersten Mal einen Orden an eine Reihe von Frauen verlieh – als Anerkennung für ihr Engagement und ihre Spendenbereitschaft während der Befreiungskriege –, war das beinahe ein Tabubruch. Prinzessin Marianne bekam das gleich am Tag nach der Ordensverleihung zu spüren. Der Beitrag der Frauen müsse doch eigentlich ein „stilles Verdienst“ bleiben, man dürfe „kaum darüber sprechen“, sagte der Adjutant des Königs am nächsten Tag in ihrer Anwesenheit. Immerhin: Der Orden war nach einer Frau benannt, nach Luise von Preußen, die vor Marianne die erste Dame im Staat gewesen war. Und das war durchaus programmatisch. Bald wurde Prinzessin Marianne zur Repräsentantin wohltätiger Frauenvereine, die sich seit 1813 in Berlin, aber auch in Norddeutschland und in Frankfurt bildeten und sich für Verwundete, Arme und Hinterbliebene einsetzten. In seinem Buch Nur ein stilles Verdienst? zeichnet Georg-Hinrich Hammer die Entwicklung dieser Vereine, ihrer Initiatorinnen, Gründerinnen und Stifterinnen, aber auch der Schwesternschaften nach, die im 19. Jahrhundert entstanden. Dabei beschäftigt ihn die Frage, ob diese Frauen das patriarchale System ihrer Zeit stabilisiert haben oder doch eher – so der Untertitel des Buches – „karitative Avantgarde im 19. Jahrhundert“ waren.

Tatsächlich kommen die Frauenvereine bei den Veröffentlichungen zur Sozialgeschichte oft zu kurz. Dabei spielt auch eine Rolle, dass Frauen aus rechtlichen Gründen bei der Leitung und Geschäftsführung ihrer Organisationen in der Regel auf Männer angewiesen waren, die dann mit ihrem Namen in den Vordergrund traten und in Erinnerung blieben. Im Zuge seiner differenzierten Darstellung macht Hammer deutlich, welche Rolle dabei der historische Kontext, die Standes- und die Konfessionszugehörigkeit spielten – so hat zum Beispiel die Säkularisation auch des katholischen Kirchenguts nach 1803 eine karitative Finanzquelle versiegen lassen. Er zeigt aber auch, welche Möglichkeiten es für Frauen gab, durch politisches Geschick und persönliche Netzwerke Spielräume für ihr karitatives Engagement zu gewinnen. „Überhaupt sollten Frauen das Armendirektorium sein; tausend Witwen und brave Frauen giebt’s dazu“, schrieb Rahel Varnhagen 1831 nach der Choleraepidemie in Berlin. Sie kritisierte die Oberschicht wegen ihrer Untätigkeit und schlug einen radikalen Wandel in der Armenverwaltung vor. Rahel Varnhagen, geborene Levin, war übrigens nicht die einzige Berliner „Salondame“ , die nicht nur an philosophischen und politischen Debatten interessiert war, sondern sich für Menschen in konfliktären Situationen einsetzte. Still war sie nicht.

Wie in Facetten eines Diamanten geht Hammer immer wieder einzelnen Lebensläufen nach und gibt so einen Einblick in die vielfältigen Aspekte der Entwicklung sozialer Organisationen im 19. Jahrhundert. Der Fokus auf die karitative Frauengeschichte weitet dabei den Blick über die bekannten Gründungen hinaus. Amalie Sieveking, Friederike und Karoline Fliedner oder Eva von Thiele Winkler mögen noch vielen bekannt sein – Hammer stellt aber auch Regine Jolberg und ihre Nonnenweier Schwesternschaft oder Anna von Boerries und ihre Reha-Einrichtung in Hannover vor. So lässt sich das Buch als historischer Abriss einer doppelten Befreiungsgeschichte von Frauen sowie Armen und Hilfebedürftigen lesen – oder auch als Fundgrube für bisher weniger bekannte Persönlichkeiten. Dabei wird klar: Ohne den kirchlichen und sozialpolitischen Einsatz dieser Avantgarde wäre vor allem die Pflegeentwicklung im 19. Jahrhundert nicht möglich gewesen. Und erst dank der zuvor undenkbaren karitativen Frauenvereine konnten gesellschaftliche Schranken durchbrochen und wachsende Teilhabe und Demokratisierung ermöglicht werden.

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Foto: privat

Cornelia Coenen-Marx

Cornelia Coenen-Marx  ist Oberkirchenrätin a. D.  Nach Eintritt in den Ruhestand machte sich Coenen-Marx 2015 mit dem Unternehmen „Seele und Sorge“ selbständig, um soziale und diakonische Organisationen sowie Gemeinden bei der Verwirklichung einer neuen Sorgeethik zu unterstützen.


 

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