Wie nützlich sind wir?

Eine Selbstbefragung über die Bedeutung des Pfarrberufs für die Gesellschaft
Pfarrer mit verschränkten Händen hinter dem Rücken
Foto: epd
Evangelischer Pfarrer am Rande einer Konfirmationsfeier im Sommer 2023.

Wie nützlich ist Arbeit einer Pfarrperson? Hans Jürgen Benedict stellt sich diese Frage nicht nur, wenn er an Kassiererinnen, Pflegepersonal und Bauarbeiter denkt. Er war Gemeindepfarrer, bevor er Professor für diakonische Theologie in Hamburg wurde. Seit 2006 ist er im Ruhestand und blickt sich selbst und die Kirche befragend zurück und in die Zukunft.

In meiner Straße werden seit einiger Zeit die Leitungen für das Stromnetz erneuert. Ein Plakat zeigt eine Arbeiterin in Kluft und mit Helm, die erklärt: „Nicht lang reden, wir tun etwas für die Zukunft Hamburgs.“ Die Erde wird aufgerissen, der Schutt abtransportiert. Es ist trotz aller modernen Baggertechnik harte Arbeit. StraßenbauarbeiterIn zu sein, ist ein körperlich anstrengender Beruf.

Wenn ich an diesen Baustellen vorbeigehe, empfinde ich immer ein Schuldgefühl. Ich sehe, wie hart diese Menschen arbeiten, sehe wie  munter sie dabei trotz aller Anstrengung oft sind. Ähnlich beeindruckend  die schlecht bezahlten Kassiererinnen an den Kassen der Supermärkte. Ich sehe aber auch, wie die Arbeit Menschen mitnimmt, sehe müde Gesichter abends in Bussen und Bahnen. Dann denke ich an die im  Gesundheitswesen tätigen ÄrztInnen und PflegerInnen, die in der Corona-Krise oft überfordert waren.  An die LehrerInnen im Erziehungswesen und an den Universitäten, an die Sozialarbeiterinnen, die sehr viele Menschen in ihren Lebensschwierigkeiten begleiten.

Welche Folgen hätte ein Predigtstreik?

Alle diese Menschen tragen zum Funktionieren der Gesellschaft bei, indem sie andere in den Notsituationen von Krankheit, psychischer Not und Armut unterstützen.  Als einer, der im Religions- und Erziehungssystem der Gesellschaft tätig war, empfinde ich eine besondere Achtung gegenüber diesen Menschen, die den Zusammenhalt der Gesellschaft  fördern. Ich frage mich dann, wie steht es im Vergleich dazu mit der Tätigkeit, die ich zehn Jahre lang als Pastor ausgeübt habe - der christlichen  Verkündigung, der pastoralen Praxis der Amtshandlungen, der religiösen Erziehung und der Mitarbeit im Gemeinwesen. Es ist auf den ersten Blick keine Tätigkeit, die unmittelbar zum Funktionieren  der  Gesellschaft beiträgt. Würde die PastorInnen in einen Predigtstreik eintreten, würde die Gesellschaft nicht in Schwierigkeiten geraten. Dennoch darf man wohl davon ausgehen, dass das gemeinsame Beten, Danken und Loben, Hören und Nachdenken Kräfte für den Alltag stärkt. So wie für andere der Spaziergang im Wald, das Erlebnis des Meeres oder des Hochgebirges. „Es führen viele Wege zu Gott. Einer führt über die Berge“ heißt im Evangelischen Gesangbuch der Bayrischen evangelisch-lutherischen Kirche.

Während der Covid-Pandemie wurde deutlich: Nur für eine kleine kirchentreue Gruppe war der Ausfall der Gottesdienste schmerzlich. Für sie fehlte etwas ohne die Gottesdienste und die sonstigen Angebote der Kirchengemeinden. Für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung, aber auch für viele distanzierte Kirchenmitglieder war dieser Mangel nicht so spürbar. Was hat sie getragen in den schwierigen Zeiten der Corona-Krise? Die von Bundespräsident Steinmeier initiierte säkulare Gedenkveranstaltung zum Gedenken an die 80.000 Corona-Toten am 2.Sonntag nach Ostern 2021 in Berlin zeigte etwas vom der tragenden Kraft des Gedenkens, vor allem, als Angehörige von fünf Corona-Toten in kurzen Ansprachen vom Leben, Leiden und Sterben ihrer Liebsten erzählten. Es ging auch ohne die Beteiligung der Kirche, aber man merkte doch, dass diese Gedenkveranstaltung in einer vom Christentum geprägten Gesellschaft stattfand. Besonders, als aus Brahms Deutschem Requiem vom Berliner Rundfunkchor das „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“ vorgetragen wurde.

Aktive Frauen

Zurück zum Verhältnis von körperlicher Arbeit und spiritueller Tätigkeit. Ich musste in meinem Berufsleben als sogenannter Geistesarbeiter selten körperlich arbeiten. Wenn ich mich an meine Tätigkeit als Pastor in den 1980er-Jahren erinnere – was gab es da? Beim Gemeindefest helfen die Bestuhlung der Kirche zu ändern, Tische aufzubauen. Gemüse schnippeln für den „Kreadieschen“ genannten Salat. An einem der Stände mitarbeiten, Kaffee ausschenken, Würstchen verkaufen, den Gemeindebrief empfehlen und Ähnliches. Das war immer eine nette Abwechslung. Ich tat etwas Praktisches, kam in Kontakt mit kirchlich Distanzierten, die sich sonst selten sehen ließen. Und  wurde dafür noch sehr gelobt von den in der Gemeinde aktiven Frauen, die ohnehin den ganzen Betrieb aufrecht hielten, sowohl als Angestellte wie als ehrenamtlich Tätige. Ohne dieses Engagement der Frauen hätte sich die Kirche nicht zweitausend Jahre halten können. (Umso schlimmer ihre Unsichtbarkeit in den  kirchlichen Berufen und Gremien bis vor kurzem!)  

Als Student habe ich in den Semesterferien in einer süddeutschen Konservenfabrik  gearbeitet, um danach verreisen zu können. Die Schichtarbeit war hart, aber zu ertragen, war sie doch nur vorübergehend. Das galt auch für die Reinigung der Züge auf dem Hamburger Hauptbahnhof- in Gummiklamotten mit dem Wasserbesen die Züge außen schrubben. Die Schicht fing schon um 6 Uhr morgens  an bei kaltem, unfreundlichen oft regnerischen Wetter. Das war die schwerste Arbeit, die ich einen Monat lang auf mich nahm. Die wirklich harte und effiziente Arbeit taten die anderen, die geschulten Handwerker zum Beispiel. Insofern finde ich das große Werbeplakat des deutschen Handwerks, das vor Jahren an den Straßen zu sehen war – „Gott hat die Welt geschaffen, wir haben sie eingerichtet“ so überzeugend wie witzig. Es benennt den Unterschied zwischen geistigem Akt und praktischer Umsetzung.

Vor allem Geistesarbeiter

Ich bin als Theologe vor allem ein sogenannter Geistesarbeiter. Nun kann man als solcher produktiv und hilfreich sein, besonders im Bereich der Technik, als Ingenieur, der Autos und Gebrauchsmaschinen entwickelt, als Architekt, der Wohnhäuser entwirft, als Chemiker, der die Formel für Reinigungsmittel und Düngestoffe erstellt. Wie aber ist es mit den Theologinnen, die eine stetig schwindende Gruppe von Christinnen spirituell versorgen? Sie halten das System Kirche aufrecht, aber nochmal gefragt: Wie wichtig ist es für den Erhalt, das Funktionieren der Gesellschaft?

Auf der Skala der besonders angesehenen Berufe ist der Beruf des Pfarrers nach unten gerutscht, vor allem auch wegen des Missbrauchsskandals.  Vermehrt wird nach seiner und der Kirchen gesellschaftlicher Nützlichkeit gefragt. Anders ist es mit den beiden großen kirchlichen Sozialverbänden Caritas und Diakonie (mit einer Million Mitarbeiterinnen). Sie betreiben vom Staat weitgehend refinanzierte diakonische Einrichtungen, Krankenhäuser, Alten-und Pflegeheime, Jugendwohnheime, Kindergärten usw. Ihre gesellschaftliche Bedeutung ist anerkannt. Nicht wenige, die von der Institution Kirche enttäuscht sind, bleiben doch in der Kirche wegen ihrer guten diakonischen Arbeit. Dort aber sind die PastorInnen, abgesehen von gelegentlichen Gottesdiensten und Seelsorgearbeit, meistens ‚nur‘ leitend und verwaltend tätig) Der Pfarrberuf ist nur einer unter vielen andern in Kirche und Diakonie.

Natürlich übt der Gemeindepfarrer heute neben Verkündigung und Sakramentsverwaltung viele andere wichtige Tätigkeiten aus. Hier ist die Konfirmandenarbeit und die religiöse Begleitung vieler Gruppen in der Gemeinde zu nennen. Hinzu kommt die Arbeit in kirchlichen und gesellschaftlichen Gremien. Allerdings ist die PfarrerIn oft allzu sehr mit Fragen wie Bauerhaltung, Personalangelegenheiten, Rationalisierung sprich Zusammenlegung von Gemeinden und Finanzierungsfragen beschäftigt. Dadurch fehlt oft die Zeit für die intensive religiöse Begleitung der Menschen im Alltag und an den Krisenpunkten des Lebens.

Eschatologische Haltung

Der dänische Religionphilosoph Sören Kierkegaard hat einmal seiner Kirche mit folgender Geschichte den Spiegel vorgehalten: „In der prächtigen Dorfkirche tritt der hochwohlgeborene Hofprediger vor einen Kreis von Auserwählten und predigt gerührt über den von ihm ausgewählten Text ‚Gott hat ausgewählt das Geringe vor der Welt und das Verachtete‘ – und da ist niemand, der lacht.“  

Wie war das im Anfang des Christentums mit der körperlichen Arbeit bei den Verkündigern?  Der Völkerapostel Paulus (er wirkte 40 bis 60 nach Christus)  hielt sich etwas darauf zugute, dass er von seiner Hände Arbeitseinen Unterhalt selber bestreiten konnte. , er war Zeltmacher,  An die streitsüchtige und  überhebliche Gemeinde in Korinth schreibt er: „Bis auf diese Stunde leiden wir Hunger und Durst, sind dürftig gekleidet, werden geschlagen und haben keine feste Bleibe und mühen uns mit unserer Hände Arbeit.“(1 Korinther 4,11-12) Und ein paar Kapitel weiter sagt er: „Haben wir nicht das Recht, mit Essen und Trinken versorgt zu werden? Haben wir nicht auch das Recht, eine Schwester als Ehefrau mit uns zu führen wie die anderen Apostel und Brüder des Herrn und Kephas?“(1 Kor 9, 4-8).

Diesen Bemerkungen kann man entnehmen, dass in der frühen Kirche Evangeliumsverkündiger mitsamt ihren Ehefrauen von den Gemeinden unterhalten wurden. Paulus aber verzichtet auf dieses urchristliche Recht. Sein Lohn sei, fährt er fort, „dass ich das Evangelium unentgeltlich predige und so von meinem Recht am Evangelium nicht Gebrauch mache.“ (1 Kor 9,18) Es ist eine eschatologische Haltung, die die unentgeltliche Evangeliumsverkündigung als höchsten Wert ansieht oder als angemessene Lebensweise in der Letztzeit.

Abgesicherter Religionsbeamter

Doch die eschatologische Radikalität des Paulus ließ sich schon in der frühen Kirche nicht durchhalten. Mit der Parusieverzögerung entstanden kirchliche Ämter, Presbyter/Priester, Diakone und Bischöfe, die von den Gemeinden versorgt wurden.  Aber der Gedanke des Paulus hat fast 2000 Jahre später im kapitalistischen Frankreich des 20.Jahrhunderts eine Aktualisierung gefunden in der Gestalt des Arbeiterpriesters. Er wählt das Schicksal der entfremdeten Arbeit am Fließband  und will so durch seine solidarische Lebensweise mit den ArbeiterInnen in der Fabrik das befreiende Evangelium glaubhaft verkündigen. Aber das blieb eine Ausnahme.

1944 schrieb Dietrich Bonhoeffer in seiner Tegeler Zelle einen Entwurf einer „Kirche für andere.“ Darin heißt es: „Die Kirche muss ganz Kirche für andere sein. Um einen  Anfang zu machen, muss sie alles  Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinde leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben. Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend.“

Von diesen Folgerungen ist in der Nachkriegskirche nichts oder nur ganz wenig umgesetzt worden. Der gesamte Bestand von Amts-und Pastorenkirche ist wiederhergestellt und erweitert worden, genauso wie Otto Dibelius es so stolz wie uneinsichtig 1945 sagte: „Wir machen da weiter, wo wir 1933 aufgehört haben“. Es entstand nach dem Totalitarismus  der Nazizeit mit einer ins Voröffentliche gedrängten Kirche wieder eine kirchliche Parallelgesellschaft. Im nachtotalitären Biedermeier der Adenauerzeit wurde der Pfarrer ein gut abgesicherter Religionsbeamter.

Sonderpfarrämter für die "Arbeitswelt"

Ich habe mich oft gefragt, ob ich neben der geistlichen Berufung und der prophetischen Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums, die mich reizten, nicht auch die finanzielle Sicherheit des beamtenähnlichen Pfarrerberufs mit Pensionsberechtigung gesucht habe. Ich bezweifle sehr, dass ich die Kraft gehabt hätte, ein Arbeiterpfarrer zu sein. Bonhoeffers Vision einer armen, mit den Nöten der Menschen solidarischen Kirche sahen wir als politisch sensibilisierte Theologen dann in 1970er-Jahren eher in den Basisgemeinden Lateinamerikas realisiert.

Um in bestimmten Bereichen der „Arbeitswelt“ präsent zu sein, entstanden in den 1960er- und 1970er-Jahren die sogenannten Sonderpfarrämter oder übergemeindlichen Pfarrämter, zu Beginn auch noch Pfarrer ohne Ortsgemeinde genannt. Angesichts der ausdifferenzierten Industrie-und Dienstleistungsgesellschaft entsandte die Kirche PastorInnen in die verschiedensten gesellschaftlichen Institutionen  – zur Polizei und Feuerwehr, in die Krankenhäuser und Pflegeheime, in die kirchlichen Schulen und an die Universitäten als Studentenseelsorger, als Beauftragte in die Rundfunk-und Fernsehanstalten und bei der Bundesregierung, in die Bundeswehr als ihr zugehörige Militärseelsorger und in verschiedene diakonische Bereiche und Tätigkeiten. Dazu die Sonderpfarrämter wie Jugendpfarrer, Männerpfarrer, Fortbildungspfarrer, Kirchentagspfarrer, Industriepfarrer usw. Durch diese übergemeindlichen Dienste zeigt die Kirche, dass sie diese für die öffentliche Ordnung wichtigen Tätigkeiten ernst nimmt.

Lehre statt Griechisch und Hebräisch

Aber reicht das hin? Ein paar kleine aus der Distanz des Pensionärs formulierte  Ideen zum Schluss, wie Theologen zeitweilig stärker am Leben in der Arbeitswelt teilnehmen und so das Evangelium glaubhafter verkündigen können. Das könnte schon im Studium beginnen. Muss der Pfarrer unbedingt Hebräisch und Griechisch können, um aktuelle die Kommunikation des Evangeliums in die Situation der Hörerinnen vollziehen zu können? Sind in 250jähriger historisch-kritischer Exegese nicht alle biblischen Texte zur Genüge erforscht?

Wie wäre es, wenn die bis zu zwei Jahren dauernde Erlernung der griechischen und hebräischen Sprache im Theologiestudium ersetzt würde durch ein Praktikum in der Arbeitswelt oder sogar eine Lehre in einem praktischen Beruf? Wie wäre es in den Semesterferien zu arbeiten - nicht für die eigene Urlaubskasse, sondern als Teil eines wissenschaftlich zu reflektierenden Ethikprojekts im Studium? Auch wäre es möglich, im Stadtteil einen gemeindlich getragenen Laden, ein Sozialkaufhaus, einen Kiosk, eine Fahrradwerkstatt oder ein Schnellrestaurant mit biblischen Speisen zu eröffnen.

Auch einzelne erlernte ganz praktische Tätigkeiten (Tischler, Klempner, Automechaniker, Elektriker, Internet-Fachmann u.a.) könnten von Pastoren angeboten werden. Angesichts des Witzes von Woody Allen, „es ist ja schon schlimm genug, dass es keinen Gott gibt. Aber versuchen Sie mal, am Wochenende in New York einen Klempner zu finden!“  So gesehen, wäre der Pastor, der auch ein gelernter Klempner ist und am Wochenende zu Hilfe eilt, sogar so etwas wie ein Gottesbeweis in postreligiöser Zeit.

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Foto: privat

Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


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