Zwischen den Zeiten

Unsere Kirche braucht Persönlichkeiten, die Orientierung bieten.
Foto: Harald Oppitz

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Zwischen den Zeiten – das trifft gerade auf das Kirchenjahr zwischen Ewigkeitssonntag und Advent zu, genauso aber auch auf die EKD. Die deprimierende Synode von Ulm ist unterbrochen und harrt der digitalen Fortsetzung am 5. Dezember. Wir haben eine Ratsvorsitzende verloren und der Rat wird kommissarisch geleitet. Wer auf die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung schaut, mag den Eindruck gewinnen, als ob wir uns zwischen den Zeiten einer Volkskirche und einer – jedenfalls aus evangelischer und westeuropäischer Perspektive – marginalen Gruppierung befinden. Von der politischen Situation inmitten von Kriegswirren und rechtspopulistischen Tendenzen will ich gar nicht reden. Zwischen den Zeiten zu leben, fühlt sich nicht unbedingt schön an. Man befindet sich „zwischen Baum und Borke“ – und diese Existenz ist nur angenehm, wenn man ein Borkenkäfer ist.

Der Ethnologe Victor Turner hat sich besonders mit der Schwellenphase in Ritualen beschäftigt, seine Erkenntnisse sind für die Praktische Theologie und die Erforschung von Kasualien von unschätzbarer Bedeutung. Turner zeigt, wie fragil, ja gefährlich liminale Phasen erlebt werden können und wie Rituale dabei helfen, diese Übergangssituationen auszuhalten und zu meistern. Fast überflüssig zu erwähnen, dass es auf kompetente Ritualgestaltung und -begleitung ankommt. Problematisch ist nun im Blick auf die EKD, wenn die Person, die eigentlich prominent für die Begleitung der evangelischen Kirche in dieser Schwellensituation zuständig ist, als orientierende Stimme nicht mehr zur Verfügung steht. Jedenfalls nicht mehr in der Funktion der Ratsvorsitzenden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Umstände ihres Rücktritts aus jeder Perspektive nur als unglücklich bezeichnet werden können. Den EKD-Synodalen etwa blieb nur die Rolle des Publikums im Drama. Das ist zu wenig für ein Gremium dieses Rangs.

Menschen mit Rückgrat gesucht

„Das ist das Schicksal unserer Generation, daß wir zwischen den Zeiten stehen. Wir gehörten nie zu der Zeit, die heute zu Ende geht. Ob wir je zu der Zeit gehören werden, die kommen wird?“ schreibt Friedrich Gogarten vor etwas mehr als hundert Jahren in einem Essay, der schließlich titelgebend für die wichtigste theologische Zeitschrift der 1920er Jahre geworden ist. Im Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg erscheint der Titel nachgerade prophetisch: Zwischen den Zeiten. 

Nun kann man nur hoffen und beten, dass sich die brandgefährlichen politischen Ereignisse nicht zu Katastrophen wie denen der Weltkriege ausbreiten. In dieser Situation braucht unsere Gesellschaft Menschen, die Rückgrat haben, aufrichtig sind, eine Vision haben und sich nicht entmutigen lassen.

Unsere Kirche braucht Menschen, die sich zutrauen, kompetente Ritualbegleiter*innen in dieser komplexen Welt im Wandel zu sein. Sie braucht Persönlichkeiten, die Orientierung bieten und Hoffnung schenken können. Die EKD braucht im Ratsvorsitz jemanden, der das glaubwürdig nach innen und außen vertreten kann. Ob sich diese Person in den Reihen des Rats finden kann, wird sich zeigen. Die Ritualgestaltung des Rücktritts von Annette Kurschus war jedenfalls alles andere als gelungen. Das trägt leider nicht dazu bei, zuversichtlich auf die derzeitige liminale Phase zu blicken.

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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