Aktualität

Theologischer Dialog gefordert

Der britische Kirchenhistoriker Diarmaid MacCulloch hat sich an der Eberhard-Carls-Universität Tübingen mit einer beeindruckenden Rede für die Verleihung des Leopold-Lucas-Preises 2019 bedankt. Dieser seit 1974 verliehene Preis wurde vom Ehrensenator der Universität Franz Lucas gestiftet, der damit an seinen Vater, den renommierten Rabbiner und Historiker Leopold Lucas erinnern möchte. Lucas lehrte ab dem Jahr 1940 an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die zu dieser Zeit bereits vom Naziregime zur Lehranstalt degradiert worden war und 1942 dann geschlossen wurde. In Theresienstadt ist Lucas schließlich umgekommen.

MacCulloch formuliert in seiner Dankrede, die nun im englischen Original und in der deutschen Übersetzung vorliegt, die Essenz, die er aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Reformation und mit dem weltweiten Christentum ermittelt hat. Mit seiner Rede intendiert er eine Sinnstiftung für die an Mitgliederzahlen, gesellschaftlicher Reichweite und medialem Einfluss radikal abnehmenden christlichen Kirchen Westeuropas. Dabei spricht er nicht überheblich vom „Gesundschrumpfen“ dieser Kirchen, sondern führt ihnen in einem souveränen Überblick die historische Genese des Christentums und damit die Vielfalt kirchlichen Existierens unter prekären wie machtgestützten Bedingungen vor Augen.

Leitend ist dabei für MacCulloch die Einsicht, dass es die einzig wahre Kirchengestalt und Religion nicht gibt. Gerade da, wo sich eine Kirche als die einzig wahre aufspiele und im Verbund mit totalitärer Herrschaft Menschen den Glauben aufzwingen wolle, dokumentiere sie damit nur die Tatsache, dass seit Kain und Abel die Religion mit Konkurrenz beginnen und mit Mord enden kann. MacCulloch plädiert für eine Kirche, die die Wahrheit nicht gepachtet haben will, sondern auf der Suche nach ihr bleibt. Für eine Kirche, die Gott nicht als die Antwort verkündet, sondern als Kirche des Gekreuzigten die Frage nach Gott stets wachhält. In der durch die Reformation pointierten theologia crucis sieht er bis heute den hermeneutischen Schlüssel, mit dem er die christliche Kirche und ihre ökumenische Vielgestaltigkeit für die Fragen der Menschen und der Menschheit auf- und nicht abschließen möchte.

Im Sinne der zentralen christlichen Botschaft vom gekreuzigten Gott kann MacCulloch nur empfehlen, sich gegen eine mitunter gar konspirativ mit der politischen und wirtschaftlichen Macht verbündete Kirche für eine solche der Schwachheit zu entscheiden.

Eine dazu entschiedene Kirche müsste sich nicht hinter autoritären Regimen vor den Herausforderungen der Moderne zurückziehen, sondern könnte neugierig und geduldig auf deren Folgen für das Miteinander der Generationen, der Geschlechter und der Staaten zugehen und dabei die Schwäche des Menschen im Blick behalten.

Aktualität bezieht der Vortrag insbesondere aus den eindrücklichen Passagen, die MacCulloch über die politische und kirchenpolitische Gegenwart in Russland, aber auch in den USA schreibt. Das Moskauer Patriarchat lasse sich als „Werkzeug des russischen Nationalismus im Ukrainekrieg“ missbrauchen, und russisch-orthodoxe Kirchenführer verfolgen Gläubige „außerhalb und innerhalb des Christentums“, während in den USA evangelikale Protestanten den Gewaltkult dulden, „…der zur Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 führte …“.

Für den durch die Reformation inspirierten Kirchengeschichtler MacCulloch steht insbesondere der theologische Dialog zwischen den durch die Aufklärung herausgeforderten Kirchen des Westens und denen des Ostens noch aus. Dies liest sich auch wie eine Einladung der westlichen Kirchen an die Kirchen des Ostens. Im ökumenischen Gespräch könnte darauf vertraut werden, dass die Ökumenizität der christlichen Kirche gerade in ihrer Vielfalt und Vielgestaltigkeit liegt.

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