pro und contra

Prostitution: Soll das Nordische Modell auch in Deutschland gelten?

Kerstin Neuhaus
Foto: Ben Gross
Maria Loheide
Foto: Diakonie

Mit dem Prostitutionsgesetz von 2001 fand eine erste Entkriminalisierung von Prostitution in Deutschland statt. Doch nun mehren sich die Stimmen, die ein Sexkaufverbot fordern, das heißt, die Freier sollen bestraft werden – das so genannte Nordische Modell. Für eine Einführung dieses Modells in Deutschland spricht sich Kerstin Neuhaus aus, Sozialarbeiterin und Mitarbeiterin beim „Bündnis Nordisches Modell“. Dagegen votiert Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland.

Auf der Seite der Frauen

Warum Deutschland einen Paradigmenwechsel in der Prostitution braucht

Kerstin Neuhaus

Die Legalisierung des „Sexkaufs“ in Deutschland führt zu mehr Gewalt gegen prostituierte Frauen. Durch die Einführung des Nordischen Modells würde die Nachfrage nach Prostitution langfristig zurückgedrängt.

Das Nordische Modell (NM) basiert auf vier Säulen: die Entkriminalisierung der prostituierten Personen, Unterstützung und Ausstiegsprogramme, Kriminalisierung aller Profiteure inklusive der Nachfrage, also der Freier, sowie gesellschaftliche Aufklärung. Prostitution ist eine Form von Gewalt gegen Frauen. Die meisten Frauen geraten durch verschiedene Notlagen in die Prostitution, die durch Dritte ausgenutzt werden. Ihr Alltag ist von Gewalt und Fremdbestimmung geprägt.

Es sind die Freier, die mit ihrer Nachfrage einen Markt für Prostitution schaffen. Wer also diesen Markt unprofitabel für Dritte machen will, muss an der Nachfrage ansetzen. Freier sind aber nicht nur ein wirtschaftlicher Faktor im System Prostitution – sie sind es, die den prostituierten Frauen schwere körperliche und psychische Schäden wie Infektionskrankheiten, innere Prellungen und Traumata zufügen. Grundsätzlich muss gefragt werden, ob wir es als Gesellschaft akzeptabel finden, wenn die Zustimmung zu einer sexuellen Handlung durch Geld erkauft werden kann, während wir sonst ein anderes Verständnis von Konsens voraussetzen. Sexuelle Handlungen, die nicht auf gegenseitigem Einvernehmen beruhen, sind sexuelle Gewalt. Und genau so wird die Prostitution auch von den meisten Frauen erlebt.

Oft heißt es, dass Prostitution unter dem Nordischen Modell in ein weniger geschütztes Dunkelfeld abdriften würde. Das ist in doppelter Hinsicht falsch. In Deutschland sind ungefähr 250 000 Frauen in der Prostitution. Ende 2022 waren jedoch nur 28 280 Personen nach dem Prostitutionsschutzgesetz angemeldet. Folglich befinden sich knapp 90 Prozent der Prostituierten heute schon im Dunkelfeld. Unsichtbar sind sie deshalb nicht: Sie werden auf Internetseiten „beworben“ und stehen auf den Straßenstrichs deutscher Städte. „Illegale“ Prostitution findet also unter dem Schutz eines legalisierten Prostitutionsmarktes statt. Das Bundeskriminalamt stellt fest, dass 16,4 Prozent aller Opfer von Menschenhandel 2022 sogar regulär angemeldet waren.

Eine Studie im Auftrag des EU-Parlaments zeigt, dass die Legalisierung des „Sexkaufs“ dem Menschenhandel Vorschub leistet. Prostitution kann nicht völlig im Verborgenen stattfinden. Sie muss für die Freier erreichbar sein. Wenn der Freier die Frau findet, kann es die Polizei oder die Soziale Arbeit auch. Nicht erst seit Corona findet die Anbahnung meist im Internet und die Ausführung in Privatwohnungen oder Hotels statt. Diese Entwicklung ist überall unabhängig von der Gesetzeslage zu beobachten, und an sie müssen sich die Methoden der Sozialen Arbeit und Polizei anpassen.

Die Legalisierung des „Sexkaufs“ führt zu mehr Gewalt gegen prostituierte Frauen. Seit der Legalisierung im Jahr 2002 sind über einhundert Morde an prostituierten Frauen in Deutschland dokumentiert, während in Schweden seit Einführung des Nordischen Modells 1999 kein einziger Mord bekannt ist. Unter dem Nordischen Modell haben die Frauen das Gesetz auf ihrer Seite. Der Freier weiß, dass er ein hohes Risiko eingeht, wenn er sich nicht an Vereinbarungen hält. In Deutschland hingegen sind die Freier in der besseren Position, weil der wirtschaftliche Druck, unter dem die Frauen stehen, so hoch ist, dass sie alles an sexuellen Praktiken anbieten müssen. Die geltende Kondompflicht wird von den Freiern umgangen, wie Webseiten belegen, die explizit Prostitutionsstätten auflisten, in denen Prostitution ohne Kondom zu haben ist.

Das Nordische Modell wirkt, wo es umgesetzt wird: In Schweden ist die Straßenprostitution um mehr als 50 Prozent zurückgegangen, 72 Prozent der Bevölkerung befürworten das Gesetz. In Frankreich konnten seit der Einführung 2016 bereits 1247 Frauen von Ausstiegsprogrammen profitieren. Eine repräsentative Umfrage zeigt, dass in Schweden sieben Prozent der männlichen Bevölkerung schon einmal für sexuelle Handlungen bezahlt haben, also weniger als jeder zehnte Mann. In Deutschland sind es 26 Prozent, also mehr als jeder vierte. In Deutschland gaben 80 Prozent der befragten Freier in einer Studie an, dass sie aufhören würden, wenn sie sich strafbar machen.

Das Nordische Modell stärkt die Rechte von Frauen in der Prostitution und ihren Zugang zu Unterstützung. Doch vor allem schützt es Frauen davor, überhaupt erst in die Prostitution zu geraten, indem die Nachfrage langfristig zurückgedrängt und die Gewalt, die Prostitution ist, klar benannt wird, statt sie weiter als „sexuelle Dienstleistung“ zu verklären.


Selbstbestimmung stärken

Warum ein Sexkaufverbot das Elend vieler Betroffener vergrößern würde

Maria Loheide

Der von Deutschland bisher eingeschlagene Weg in der Prostitution ist richtig: Regulierung der Bordellbetriebe, keine Kriminalisierung von Prostitution, sondern Stärkung von Selbstbestimmungsrechten. Nur so wird die Situation der hier arbeitenden Menschen verbessert.

Die mit viel Engagement – und leider auch Polemik – geführte Debatte über ein Sexkaufverbot in Deutschland geht an der eigentlichen Frage „Was hilft?“ vorbei. Denn die oft prekäre Lebenssituation vieler Menschen, die in der Prostitution tätig sind, ist für alle Menschen mit sozialem Gewissen, und erst recht für Christinnen und Christen, unerträglich und muss gelindert werden. Dieses Ziel motiviert mich, und sicherlich auch viele Befürworter*innen eines Sexkaufverbots. Hier gibt es einen „Common Ground“, auf dem sich konstruktiv streiten lässt, auch über das Nordische Modell.

Prostitution ist ein komplexes Phänomen. Und eine gesellschaftliche Realität. Ganz gleich, welche moralisch-ethische Haltung man dazu einnimmt, dass Freier sexuelle Dienstleistungen nachfragen. Die Diakonie als der soziale Dienst der evangelischen Kirchen unterstützt seit Jahrzehnten Menschen in der Prostitution. Aufgabe der Diakonie ist es dabei, Menschen zu begleiten, ihre Rechte zu stärken und sie dabei zu unterstützen, dass sie ihren Weg selbstbestimmt finden.

Ein Sexkaufverbot, wie es das Nordische Modell vorsieht, scheint eine vermeintlich einfache Lösung für dieses komplexe Problem zu bieten. Doch in der Umsetzung würde dadurch das Elend vieler Betroffener vergrößert.

Denn wer Prostitution kriminalisiert, schafft sie damit nicht aus der Welt, sondern verdrängt sie in die Illegalität – mit allen negativen Folgen für die zumeist Frauen, denen andere Erwerbswege kurz- und mittelfristig nicht offenstehen. Im Dunkel der Illegalität sind sie für aufsuchende Sozialarbeit kaum noch zu finden; eine effektive Beratung – auch zum Ausstieg – findet nicht mehr statt. Drogensucht, Armut, ein ungeklärter Aufenthaltsstatus, Gewalterfahrungen: All das muss besprochen und mit den Menschen auf Augenhöhe bearbeitet werden, um Kreisläufe zu durchbrechen und bessere Perspektiven zu öffnen. Ein Sexkaufverbot würde dies konterkarieren.

Es ist eine Tatsache, dass in einem illegalen Gewerbe die Schwächsten am meisten leiden. Und die Schwächsten, das sind hier all die Menschen, die der Prostitution nachgehen. Sie wären in einer deutlich schwächeren Position als heute. Eine selbstbestimme Ausübung der Prostitution und die Gesundheitsvorsorge wären deutlich erschwert. Prostituierte wären isoliert und nicht geschützt vor Gewalt oder Ausbeutung. Es ist ein Straftatbestand, wenn Freier Gewalt ausüben. In der Illegalität ist das Ahnden einer solchen Straftat ungleich schwieriger.

Auch das Argument, mit einem Sexkaufverbot könnten Menschenhandel und Zwangsprostitution besser verfolgt werden, läuft ins Leere. Schon heute ist es möglich, diese schweren Straftaten mit aller Härte zu verfolgen, das Problem ist: Es geschieht nicht konsequent genug. Deutschland hat kein Regelungs-, sondern ein Vollzugsdefizit. Auch hier würde ein Sexkaufverbot nicht weiterhelfen.

Was also hilft, wenn die gut gemeinte, aber nicht tragfähige Lösung Sexkaufverbot nicht funktioniert? Ich meine: nur beharrliche Arbeit. Die Rechte von Prostituierten müssen gestärkt und Angebote zur Beratung ausgebaut werden. Neue Perspektiven – auch außerhalb der Prostitution – können sich nur öffnen, wenn Prostitution legal an möglichst sicheren Arbeitsorten stattfindet. Parallel müssen Polizei und Justiz besser qualifiziert und ausgestattet werden. In die Evaluation des Prostituiertenschutzgesetzes müssen zwingend auch Wissenschaft und Sozialarbeits-Erfahrung einbezogen und ernst genommen werden. Wo nötig, müssen Gesetze geändert werden. Dies alles mit Respekt vor der Menschenwürde und vor der Freiheit der Menschen, um die es geht.

Mit dem Prostitutionsgesetz von 2001 fand eine erste Entkriminalisierung von Prostitution statt. Prostituierte können sich seither unter anderem in den gesetzlichen Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen versichern sowie ihren Lohn einklagen. 2016 hat der Bundestag den gewählten Ansatz der Regulierung erweitert und sich gegen eine Kriminalisierung von Prostitutionstätigkeit und deren Nachfrage entschieden. Grundlage dieser Entscheidung war die Überzeugung, dass eine verbesserte Rechtsposition der Prostituierten in Kombination mit kontrollierenden Elementen am besten geeignet ist, Ausbeutung und Zwang zu reduzieren.

Dieser von Deutschland bisher eingeschlagene Weg ist richtig: Regulierung der Bordellbetriebe, keine Kriminalisierung von Prostitution, sondern Stärkung von Selbstbestimmungsrechten. Nur so wird die Situation der hier arbeitenden Menschen verbessert. Das muss unser gemeinsamer Weg sein, denn er hilft.

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Foto: Diakonie

Maria Loheide

Maria Loheide ist Sozialpolitischer Vorstand der Diakonie Deutschland und Vorstandsmitglied des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung in Berlin.


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