Die Wahrheit des Fiktiven

Jon Fosses poetische Religion
Fühlt sich durch ein Bewusstsein der eigenen sprachlichen Grenzen geleitet, der Schriftsteller Jon Fosse.
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Fühlt sich durch ein Bewusstsein der eigenen sprachlichen Grenzen geleitet, der Schriftsteller Jon Fosse.

„Das Schreiben“, so hat es der norwegische Schriftsteller Jon Fosse einmal geschrieben, „hat mir das Religiöse eröffnet und mich zu einem religiösen Menschen gemacht.“ Der Nobelpreisträger des vergangenen Jahres thematisiert in seinem Werk immer wieder Religion sowie den Glauben an und die Suche nach Gott. Diesen wichtigen Aspekt von Fosses literarischem Schaffen analysiert der Theologe Karl Tetzlaff, seit kurzem Geschäftsführer der Stiftung Leucorea in Wittenberg.

Da bin ich ein Romantiker“, antwortet Jon Fosse auf die Frage, ob das Nobelpreiskomitee mit der Aussage, er wolle „dem Unsagbaren eine Stimme verleihen“, richtig gelegen habe. Es sei, so fügt er an, aus seiner Sicht tatsächlich „der Sinn von Literatur, etwas zum Ausdruck zu bringen, das man auf andere Weise nicht sagen kann“. Diese Zielstellung unterscheide das literarische Schreiben mithin von anderen Formen des Sprachgebrauchs. In seiner Nobelpreisrede verweist Fosse hier auf die im religiösen und politischen Bereich verbreitete Praxis der „Verkündigung“, der es um das Vermitteln eindeutiger Wahrheiten gehe, während „guter Dichtung“ ein derartiger Anspruch fehle.

Nach Fosses Verständnis sind Schriftsteller nämlich gelingendenfalls durch ein Bewusstsein der eigenen sprachlichen Grenzen geleitet, das dann in jedem geschriebenen Wort mit artikuliert wird. Im Hintergrund steht seine praktische Erfahrung, den Schreibprozess nicht vollends in der Hand zu haben, sondern darin immer auch von einem unkontrollierbaren „anderen“ abhängig zu sein. „Das Schreiben“, so heißt es mit Bezug auf diesen „anderen“ in einem von Fosses wenigen poetologischen Essays, „hat mir das Religiöse eröffnet und mich zu einem religiösen Menschen gemacht“. Fosses im Umweg über die Literatur gewonnene Religiosität hat trotz seiner medial häufig erwähnten Konversion zum Katholizismus eine überkonfessionelle, höchst individuell geprägte Eigenart. Sie äußert sich ohnehin nicht im Modus der Verkündigung, deren lautstarker Eindeutigkeitsfuror dem früheren Quäker fremd ist.

Fosses Selbstbezeichnung als Romantiker liegt angesichts des von ihm vertretenen Literaturverständnisses nahe. Denn die etwa durch Friedrich Schlegel formulierte Einsicht, dass beim Schreiben stets „etwas zurück“ bleibt, „was sich nicht äußerlich darstellen läßt, weil es innerlich ist“, gehört zum Grundbestand romantischen Gedankenguts. Laut Schlegel, auf den Fosse sich bisweilen ausdrücklich bezieht, vermag aber zumindest „in göttlichen Sinnbildern“ angedeutet werden, was der Versprachlichung letztlich entzogen bleibt. Analog dazu entdeckt Fosse die Produktivität religiöser Ausdrucksformen darin, jenem unsagbaren „anderen“ nahezukommen, den er auch „den anderen in mir“ nennt. Zugleich wird in seinen Büchern die bleibende Begrenztheit dieser Annäherung stets mit reflektiert – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der modernen Skepsis gegenüber religiösen Ausgriffen ins Metaphysische.

Zum Lachen

Ein solche Skepsis wird durch den Protagonisten von Fosses Hauptwerk Heptalogie (2019–2021) antizipiert, nachdem er, um sich von einer bedrängenden Trauer zu befreien, das Kyrie Eleison gebetet hat. „Könnte mich jemand sehen“, stellt er sich vor, „er würde sich schieflachen, so in einem Auto zu sitzen und Kyrie eleison Christe eleison zu sagen, das ist zum Lachen, sonst nichts, aber sollen sie ruhig lachen, denn es hilft! es hilft!“ Asle, so der Name des Protagonisten, betrauert den Verlust seiner Frau Ales, der ihm auf den fast 1200 Seiten der Heptalogie immer wieder den Boden unter Füßen wegzuziehen droht. Nicht nur an der zitierten Stelle aber gelingt es Asle, durch das Sprechen eines Gebets seine inneren Gegenkräfte gegen die ihn beherrschende Trauer zu mobilisieren. So lächerlich es, objektiv betrachtet, auch sein mag, einen göttlichen Herrn um Erbarmen zu bitten, so bestärkend ist dies aus Asles subjektiver Perspektive, weil er sich dadurch auf etwas Unbedingtes zu besinnen vermag, das „tief drinnen ist“ und „über das ich nichts sagen kann“.

An anderer Stelle spricht Asle das Vater Unser und fragt sich: „was meine ich damit? Warum sage ich diese Worte? An wen wende ich mich damit?, es sind nur Worte, ja bildliche Sprache, Metaphern, wie sie es nennen, […] aber wenn ich diese Worte sage, spüre ich deutlich, ja deutlicher diese Nähe, ja von Gott, und von Ales“. Er wende sich im Gebet „an das, was mir von Gott nahe ist und was in mir ist“. Das Potenzial der religiösen Artikulation wird hier also im Aussprechen einer ansonsten unsagbaren Innerlichkeitsdimension entdeckt, die über die Grenzen des endlichen Lebens hinauszuweisen scheint. Für Asle ist sie der Ort, an dem seine verstorbene Frau ihm nahebleibt, wobei es keine Rolle spielt, ob es „Gottes Nähe ist oder die von Ales“, der er dort teilhaftig ist: „einmal habe ich“, so erinnert er sich, „ein Gedicht gelesen, in dem hat es geheißen, Gott ist meine toten Freunde“.

Nicht zufällig war es ein poetischer Text, der ihm erschlossen hat, dass die Rede von Gott ein Ausdrucksmedium für die ihn bedrängenden Erfahrungen von Verlust und Trauer sein kann. Asle ist Maler und hat einen ästhetischen Zugang zum Religiösen. Aus seiner Sicht „fallen Religion und Kunst in eins“, weil „sowohl Bibel als auch Liturgie Fiktionen“ sind, die einzig „als solche ihre Wahrheit“ haben. Wollen religiöse Sprachformen mehr sein als nur fiktiv, verfehlen sie demnach ihre Wahrheit, die eben in ihrem Potenzial zur Artikulation jener innerlich erspürten Unbedingtheit liegt. „Doch trotz allem können sowohl Gebete und die Messe und vor allem die Eucharistie uns Gott näher bringen, […] näher an das leuchtende Dunkel in einem selbst“, sagt Asle, der, wie Fosse, zum Katholizismus konvertiert ist. Sie können es aber nur, wenn sie nicht selbst zum Glaubensgegenstand werden, zu einer objektiven Heilsquelle, jenseits ihrer subjektiven Aneignung, zum „Abgott“, wie Asle einschärft.

Gedanken über Sinn und Möglichkeit der Rede von Gott durchziehen die Heptalogie. „Ich denke, Gott ist so fern, dass man nichts über ihn sagen kann und darum sind alle Vorstellungen, die man sich von Gott macht, falsch, und zugleich ist er so nah, dass wir ihn auch fast gar nicht merken können, denn er ist eigentlich der Grund im Menschen, oder auch der Abgrund“, sagt Asle. Irgendwo zwischen dem Gefühl einer unverbrüchlichen inneren Gegründetheit und dem abgründigen Eindruck, angesichts des Todes ins Bodenlose zu fallen, changieren seine Reflexionen. Als Maler ist er dabei von einem intimen Wissen über die Vorläufigkeit aller Versuche geleitet, das Göttliche, jenen „Grund im Menschen“, zu erfassen. Für ihn steckt „die Wahrheit im Ungesagten, denn sie verschwindet und ist weg, sobald man versucht, sie auszudrücken, du sollst dir kein Bildnis machen von Gott, so steht geschrieben, […] und gerade das tue ich nicht, wenn ich male und mir das Malen gelingt, dann mache ich ein Bild von etwas ganz anderem und dadurch vielleicht von Gott“. Die Anmaßung, Gott vollends ins Sichtbare zu ziehen, sich also selbst ganz haben und anschauen zu können, geht ihm ab. Aber dies führt nicht zur Kapitulation vor dem Unaussprechlichen, sondern zur Produktion von Bildern, die dessen bleibende Entzogenheit zum Thema haben. Jedes der sieben Teile der Heptalogie beginnt mit der Betrachtung eines Bildes, auf dem zwei Striche ein Kreuz bilden.

Gekreuzte Striche

„Negative Mystik“ ist der Titel des bereits angeführten Essays, in dem Fosse über die religiösen Beweggründe seines literarischen Schaffens Auskunft gibt. Der Titel offenbart das theologische Programm, dem Fosse sich verschrieben hat und das im Bild der zwei gekreuzten Striche einen sinnenfälligen Ausdruck findet. Negativ ist seine literaturgewordene Mystik darin, dass sie, wie es heißt, „Gott in einer gottlosen Welt“ nahezukommen versucht. Ihr Ausgangspunkt ist nicht der Augenblick einer erfüllten Einheit mit dem (göttlichen) Ganzen, sondern es sind Momente von Sinnenleere und Vereinzelung. Vermittels solcher Momente, also über die via negativa, um einen Zentralbegriff der mystischen Tradition zu nennen, verläuft bei Fosse der Überschritt zum Religiösen. Nicht umsonst wird der mittelalterliche Theologe Meister Eckhart in seinen Romanen immer wieder angeführt. „Meister Eckhart“, heißt es in der Heptalogie, „hat recht damit, dass diejenigen, die nicht an Gott glauben, wirklich an Gott glauben“.

Die paradox anmutende Aussage unterstreicht eine Kerneinsicht der apophatischen („absagenden“, „verneinenden“) Mystik: Gottes Unbestimmbarkeit, an der alle menschlichen Bestimmungsversuche zerbrechen. Wer in ihrem Sinne dem Weg der Negation aller bestimmten Vorstellungen von Gott oder vom Göttlichen folgt, für den öffnet sich aber schließlich die via affirmativa, der zufolge Gott, weil bar jeder konkreten Bestimmtheit, eben zugleich alles beziehungsweise in allem ist. „Gott“, sagt dementsprechend Asle, „ist der Grund, der Abgrund, ja das innerste Bild in einem jeden Menschen, wie ein gefülltes Nichts, wie ein leuchtendes Dunkel, und darum gibt es alles, weil Gott mit allem, das er ist, in jedem Menschen gegenwärtig ist, denn Gott ist in der Seele und die Seele in Gott, wie Meister Eckhart es gesagt hat“. Doch bedeutet diese affirmative Wendung nicht, dass die negative Einsicht in die Unbestimmbarkeit Gottes überwunden wäre. Sie wird vielmehr zum Ausgangspunkt einer rastlosen Suchbewegung, die Fosses Protagonisten permanent vollziehen: Asle legt im Laufe der Heptalogie, die in einem nicht enden wollenden Satz verfasst ist, immer wieder die gleiche Strecke mit dem Auto zurück, ohne dabei an ein festes Ziel zu kommen. Die Trilogie (2014) erzählt von einem jungen Elternpaar auf der Flucht, das erfolglos nach einer festen Herberge sucht. Fosses jüngstes Buch Ein Leuchten (2023) beginnt mit einem plötzlichen Aufbruch ins Ungewisse.

Lähmende Langeweile

„Ich fuhr los. Das tat gut. Bewegung tat gut. Ich wusste nicht, wohin ich wollte. Ich fuhr einfach“, lauten die ersten Sätze von Ein Leuchten. Der Protagonist bricht so plötzlich auf, weil ihn eine lähmende Langeweile erfasst hat. „Nichts, was mir zu tun einfiel, bereitete mir Freude“, sagt er, „und darum tat ich einfach irgendwas. Ich setzte mich ins Auto und fuhr los“. Noch auf der ersten Seite des Buches bricht die Aufbruchsbewegung des Protagonisten aber jäh ab. Sein Auto fährt sich in einem einsamen Waldstück fest. „Jetzt stehe ich hier, sitze ich hier, dachte ich, und ich fühlte mich leer […], leer wie in einem Nichts drin“, heißt es da. Das Gefühl der Nichtigkeit nimmt weiter zu, als der Ich-Erzähler, um nach Hilfe zu suchen, angstvoll einen finsteren Waldpfad beschreitet. Dort umgibt ihn eine „schwarze Dunkelheit, es ist, als ob nichts zu sehen wäre“, bis sich „im schwarzen Wald, unter dem schwarzen Himmel“ schlagartig ein ominöses Leuchten abzuzeichnen beginnt: „Ein weißes Leuchten. Der Umriss von einem Menschen. Ein Mensch in einem weißen Leuchten“, vor dessen Anblick er wie erstarrt stehenbleibt.

Als Fosses Ich-Erzähler die leuchtende Gestalt fragt, wer sie denn sei, bekommt er dieselbe Antwort, die auch Mose in Exodus 3,14 aus dem brennenden Dornbusch erhält: „Ich bin, der ich bin“. Die von Reinheit und Klarheit umglänzte Gotteserscheinung, der er hier also teilhaftig wird, lässt ihn zunächst zurückschrecken. Am Ende der Erzählung kommt er ihr aber äußerst nahe: „es ist ein wenig“, sagt er dann, „als wäre ich nicht ich selbst, sondern als wäre ich Teil der schimmernden Gestalt geworden […], ich bin wie in einem Grau, das mich, ja alles, was es gibt, umfängt, aber es gibt irgendwie nichts mehr“.

Wiederkehrende Zweifel

Durchbrochen wird diese in der Waldeinsamkeit erlebte Epiphanie durch wiederkehrende Zweifel des Protagonisten. Zwischendurch fällt ihm auf, dass er die göttliche Gestalt nur bei geschlossenen Augen, also als eine Art inneres Bild, gesehen hat. Als er sie wieder öffnet, ist das Leuchten verschwunden. Immer wieder hat er den Eindruck, bloße Halluzinationen zu haben, die seine Ängste nach außen hin projizieren. Gleichwohl nimmt ihm das in seinem Realitätsgehalt zweifelhafte Erlebnis die immer wieder aufkeimende Furcht und vermittelt ihm am Ende sogar das Gefühl, in einem großen Ganzen aufgehoben zu sein.

Dass dieses „alles, was es gibt“ umfangende Ganze, für das die leuchtende Gestalt steht, zugleich als „eine Leere, ein Nichts“ beschrieben wird, markiert dessen bleibenden Entzogenheitscharakter. Es stellt die Suchbewegung des Protagonisten nicht abschließend still, weil ihm keine positiv zu beschreibende Realität entspricht. Annäherungen ans erfüllende Ganze aber sind möglich. Darin liegt das Versprechen von Religion und Kunst, wie Fosses Werke eindrucksvoll zeigen. Sie mögen bloße „Fiktionen“ sein, doch haben sie gerade „als solche ihre Wahrheit“. 

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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