„Eine große Entfremdung“

Der Leipziger Dichter und Theologe Christian Lehnert über die Stimmung in Ostdeutschland, die Kirche auf dem Dorf und mögliche Konsequenzen aus der EKD-Missbrauchsstudie
Christian Lehnert
Foto: Jens Schulze

zeitzeichen: Herr Lehnert, Sie leben in einem Dorf im Ost-Erzgebirge. Können Ihre Dorfnachbarn etwas mit Ihren Geschichten anfangen? Haben Sie schon einmal Resonanz zu Ihren Büchern bekommen?

CHRISTIAN LEHNERT: Die meisten meiner alteingesessenen Nachbarn lesen keine Bücher. Manchmal fragt mich einer, was ich so schreibe, und wenn ich sage „vom Wald“ oder „von den alten Balken meines Dachstuhls“, „vom böhmischen Wind“, dann ist das genug. Vor dem Phänomen des Bücherschreibens stehen die Alten rätselnd: Wozu muss man Dinge aufschreiben, die kommen und vergehen? Unter ihnen gibt es wunderbare Erzähler, die pflegen ein mündliches Gedächtnis. 

Wie das?

CHRISTIAN LEHNERT: Das Dorf ist durchwuchert von Geschichten. 

Man muss wahrscheinlich genauer zuhören. Man muss vorher Vertrauen im Dorf gewinnen, hört man dann diese Geschichten?

CHRISTIAN LEHNERT: Das Dorfgefüge besteht aus Geschichten und aus unausgesprochenen Geschichten. Wer ankommen will, muss seinen Ort darin finden, muss lauschen. Unser altes Haus hat schon sehr viel zu erzählen: rostiges Werkzeug, der Pferdeschlitten, die Ställe, die alten Obstbäume … Das sind alles Stimmen, die etwas sagen wollen. Was in der Stadt zur gesellschaftlichen Orientierung wichtig ist, Moden und Kleidungsstile, persönliche Identitätszeichen – das steht hier in der zweiten Reihe. Doch die dörfliche Welt steht ja in einer verstörend schnellen Umgestaltung. Wegzug, Erinnerungsabbrüche …

Nun ist Religion in Ostdeutschland der ganz großen Mehrheit der Menschen ziemlich fern, zumindest sagt das die Religionssoziologie. Ihre Bücher kreisen aber stark um Religion. Sind diese Bücher dann trotzdem genau für diese Situation geschrieben – oder sind sie eigentlich sehr weit weg, und nur die Wenigsten können etwas damit anfangen?

CHRISTIAN LEHNERT: Jedes Buch hat einen inneren Leser. Meine Prosa spricht zu Menschen, die religiös sensibel sind und suchend, zu Leuten, die Fragen haben. Die gibt es im Osten wie anderswo. Ich suche nach Ausdrucksformen für eine Bewusstseinshaltung, die ich als offen bezeichnen möchte: offen für das Unerwartete, das Unverfügbare. 

Muss man diese besonderen Ausdrucksformen verstehen? 

CHRISTIAN LEHNERT: Ich rechne mit Lesern, die bereit sind, sich irritieren zu lassen, die ahnen, dass ihre Fragen größer sind als alle denkbaren Antworten. Auch religiöse Skeptiker, auch Agnostiker lesen meine Bücher, das merke ich aus Zuschriften. Aber wer überhaupt keine spirituellen Antennen hat, kein Sensorium ins Fremde, auch keine Neugier, der ist in den Texten verloren. Das weiß ich auch. Meine Bücher haben daher eine gewisse Beschränkung in der Reichweite, spezifisch ostdeutsch sind sie nicht, auch wenn sie hier wurzeln, gerade in der Erfahrung weltan­schaulicher Umbrüche.

Könnte gerade die Fremdheit, die diese Texte haben, für manche Leute in Ostdeutschland reizvoll sein, gerade weil die Texte so fremd sind?

CHRISTIAN LEHNERT: Das Problem in Ostdeutschland ist ja nicht, dass es viele religiös Suchende und neugierige Agnostiker gäbe, die nicht den Weg in die Kirche fänden, sondern hier bestehen stabile säkularisierte Milieus, wo Religion einfach gar keine Rolle spielt. Das ist auch in unserem Dorf so. Da sind Familien, die – ich würde sagen – mythisch-rituell mit ihrem Alltag umgehen, die im Naturjahr stehen, aber für die die Kirchenferne ein Identitätssymbol ist: „Wir gehen nicht in die Kirche.“ Das sagen sie mir ohne Aggressivität, und dahinter steckt keine antireligiöse Energie, sondern einfach eine andere, nun über drei Generationen eingeübte säkulare Kultur. 

Das ist natürlich sehr schwer zu überwinden, wenn man solche Leute gewinnen wollte.

CHRISTIAN LEHNERT: Das halte ich für mittelfristig unmöglich. Irgendwann wird sich das vielleicht auch wieder verflüssigen, aber im Moment verfestigt es sich eher. Noch dazu hier im Osterzgebirge, wo die Kirche oftmals wahrgenommen wird als eine Institution, die nur bedingt in der Region verwurzelt ist. In dem Raum, in dem ich lebe, wird Kirche eher als etwas Städtisches, Fremdes, ja sogar eher Westdeutsches wahrgenommen. Das ist weiter hinein ins Gebirge anders. 

Hängt das an den Protagonistinnen und Protagonisten in den Kirchen?

CHRISTIAN LEHNERT: Ich bin kein Soziologe. Ich kann das nur aus meiner beschränkten Sicht beobachten: Die Gemeinden sind ausgedünnt und, ausgenommen die Kirchgebäude, kaum mehr wahrnehmbar, kaum mehr mit menschlichen Begegnungen verbunden. Dann aber gerät die mediale Darstellung in die Mitte, die Wahrnehmung der Kirche vor allem als staatsnahe und bürgerliche Institution. 

Das liegt auch an dem, was die Kirche so verlautbart?

CHRISTIAN LEHNERT: Pfarrerinnen haben hier bei uns teils Riesengebiete. Es gibt, bei allem Fleiß, immer weniger persönliche Beziehungen. Kirche wird dann naturgemäß stärker wahrgenommen in dem, was sie verlautbart, und dann erscheint sie meist als politischer Akteur, als interessengeleitet, als Abbild einer anderen gesellschaftlichen Schicht, die – ich sage das verkürzt – als westdeutsch, städtisch, wohlsituiert wahrgenommen wird. Die Religion wird dann zweitrangig. 

Umfragen zufolge könnte die AfD im Herbst in Ostdeutschland rund 35 Prozent bekommen. Wie bewegt Sie diese Entwicklung? Stehen Sie ein bisschen fassungslos davor?

CHRISTIAN LEHNERT: Die Entwicklung hat sich lange abgezeichnet, irritierend ist sie dennoch. Sachsen steht da mitten in einer allgemeinen Entwicklung in Osteuropa, im ehemaligen Ostblock. Ich bin Dichter, kein politischer Analyst, gewissermaßen nur einer, der sich mit Dingen beschäftigt, für die die Worte noch fehlen, für Bauchgefühle vielleicht, für Atmosphären. Ich kann nicht mit politischen Analysen aufwarten, höchstens mit einer gewissen Sensibilität für das Ungesagte. Die oft formelhaften Abwehrreflexe derzeit, Großdemonstrationen mit deutlichem Sicherheitsabstand und mit Losungen, die sich gelegentlich selbst am Rande des Demokratischen bewegen, helfen, glaube ich, nicht wirklich weiter. Warum wählen Leute hier die AfD? In unserem Dorf sind es viele – aber ich kenne hier kaum einen Rechtsextremen. Weniger politische Einschätzungen stehen dahinter als Gefühle. Die AfD arbeitet mit Gefühlen. Das ist das Gefährliche. Gefühle, abgehängt, sprachlos, nicht repräsentiert, anders zu sein.

Aber Gefühle sind eben Gefühle, dagegen ist schwer zu argumentieren.

CHRISTIAN LEHNERT: Gefühle sind Wirklichkeiten. Sie sind so real wie ein Buchenstamm und wie das Winterwetter. Man kann sie nur bedingt versachlichen. Argumente überzeugen, wie es heißt, niemanden. Eines der Gefühlselemente, die mir begegnen, ist eine tiefe Verunsicherung. Die Dörfer hier haben die Kollektivierung in der DDR, den Zusammenbruch des Sozialismus und vor allem danach in den 1990er-Jahren massive soziale Abbrüche durchlebt. Höre ich die Geschichten hier, dann erscheint nicht das Jahr 1989 als entscheidende Zäsur, sondern die Zeit danach: Arbeitslosigkeit, Neuanfänge, neue Eliten, neuer Großgrundbesitz westlicher In­vestoren. Viele mussten sich völlig neu definieren, haben sich selbstständig gemacht, sind gescheitert, haben etwas anderes gemacht … und so weiter. 

Es waren fast traumatische Umbrüche.

CHRISTIAN LEHNERT: Diese werden, so wieder das Gefühl, nicht gewürdigt. Die Lebensgeschichten vieler Menschen hier kommen gesellschaft­lich, gefühlt, nicht vor. Wir waren anfangs im Gespräch bei den Geschichten. Was ist, wenn Geschichten permanent von anderen Geschichten verdrängt werden? Dann fehlt irgendwann die eigene Sprache. Immer ist man dann schon „gesagt“, „gedeutet“, „eingeordnet“ in die Erzählungen der Sprachmächtigen. Das führt zum Rückzug. Es gibt hier eine große Entfremdung von Politik und von etablierten Medien, weil man diese als schichtenspezifisch und bevormundend wahrnimmt. 

In den Medien arbeitet in der Tat meist der gebildete westdeutsche Mittelstand.

CHRISTIAN LEH NERT: Der gebildete, eloquente, großstädtische, westdeutsche Mittelstand. Deutschlandfunk oder ARD beispielsweise gelten hier bei vielen überhaupt nicht mehr als vertrauenswürdige Medien. Viel Vertrauen wurde auch noch in der Corona-Zeit verspielt, als sich gerade die öffentlich-rechtlichen Medien in gesundheitspolitische Instrumente verwandelten, die sich gezielte Bewusstseinsbildung auf die Fahnen schrieben. Da sind alle mit DDR-Vergangenheit sehr sensibel. 

Kann man sagen: Was uns die Welt aufschließt, existiert gar nicht?

CHRISTIAN LEHNERT: In dieser Formulierung steckt schon ein Problem: Was ist denn „die“ Welt? Und wer schließt sie auf? Wer ist dazu berechtigt? Uns fehlt nicht die eine Sicht, die uns die Welt aufschließt, sondern eine Kultur wirklicher Pluralität und Vielgestaltigkeit. Das Kommunale, der Widerstreit von Ansichten, die Vielstimmigkeit, das angstfreie Gespräch in der Öffentlichkeit – die gilt es zu verteidigen gegen rechte totalitäre Träume. Aber eben auch nicht nur gegen diese und die AfD, auch wenn diese im Moment besonders be­drohlich wirken. Es sind leider viele Kräfte, die diese Kultur bedrohen, manche wirken im Stillen: etwa eine fortschreitende Ökonomisierung unserer Wirklichkeit, auch die Tendenzen zu oligarchischen Netzen in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft, auch jene Kräfte, die im Sinne einer behaupteten „Alternativ­losigkeit“ Politik als reine techno­kratische Verwaltung verstehen. Aber ich will noch ein weiteres der gefährlichen Gefühle im Osten nennen:  Perspektivlosigkeit. Die Schichtendurchlässigkeit, das sagen auch viele Soziologen, ist in Ostdeutschland problematisch gering. Ein junger Mensch in Ostdeutschland hat geringere Chancen, Karriere zu machen, wie es so heißt, vorwärtszukommen. Er kommt schwer hindurch durch eine Kruste fester Strukturen, in denen mehrheitlich Westdeutsche sich in Leitungs­positionen etabliert haben. 

Aber es könnte sich natürlich auch irgendwann mal wieder ändern.

CHRISTIAN LEHNERT: Das könnte sich ändern, wird sich auch. Gegenwärtig ist die Tendenz anders. 

Man hat kaum Fortschritte gemacht?

CHRISTIAN LEHNERT: Eher Rückschritte. Wer etwas werden will, geht aus einem Dorf wie unserem fort. Von denen, die zurückbleiben, wählt mehr als ein Viertel AfD. 

Auf den kirchlichen Raum bezogen: Wie soll man mit AfD-Mitgliedern in Kirchenvorständen umgehen, muss man sich deutlicher abgrenzen? Gibt es da überhaupt ein Patentrezept?

CHRISTIAN LEHNERT: Das ist eine Gratwanderung. Es gilt, sich gegen politische Ideen zu stellen, ohne die Menschen zu verachten, die sich ihnen aus vielen Gründen angeschlossen haben. Das ist ein alter ethischer Zwiespalt im Christentum: Wir balancieren auf einem Grat zwischen Klarheit und Barmherzigkeit, zwischen Abgrenzung und Suche nach dem Mitmenschen, der anders denkt und fühlt als wir. Ja, und zu dem Grat kommt noch ein dritter Gefahrenhang: moralischer Hochmut, der den Balken im eigenen Auge nicht sieht. Vor uns steht die schwierige Aufgabe, eine Religiosität zu leben, die eine politische Dimension hat, aber im Wesen etwas anderes ist, sich aus anderen Quellen speist. Wenn die Kirche nicht wahrgenommen wird als Instanz, die mit einem Bein nicht in der Politik steht, nicht in dieser Welt, sondern in einem weiteren Horizont als alle politischen Verortungen, dann führen ihre Positionierungen immer zu massiven Missverständnissen. Das erleben wir ja. Die Antwort der Kirche auf die AfD und die Totalitarismen der Gegenwart kann eigentlich nur in einer vertieften Religiosität bestehen, einer Verschiebung des Blicks aus den Mustern politischer Freund-Feind-Bilder heraus zu einer radikalen Aufmerksamkeit, wie es die Mystiker nannten, der liebenden Aufmerksamkeit auch gegenüber Gegnern, in denen Christen dasselbe Geheimnis Gottes erkennen wie in der eigenen Tiefe. Die Gefühle der Menschen, die realen und auch gefährlichen Gefühle, brauchen eine Gefühlsantwort, und die Kirche kann diese geben, auch in ihrer sozial verdünnten Form: als gelebtes Beispiel, als spirituelle, offene Menschlichkeit, konkret verwirklicht, auch gegenüber dem Nachbarn, der AfD-Positionen vertritt.

„Noch nicht einmal der Pfarrer versteht mich!“ – wäre das die Logik?

CHRISTIAN LEHNERT: Ich weiß, es ist alles heikel, aber man kann nicht die Brücken komplett abbrechen, weil man damit die Brücken zu ganzen sozialen Milieus abbräche. Vor Ort, auch in den Kirchenvorständen, sehe ich keine andere Chance, als auch mit AfD-Leuten zu sprechen, mit ihnen zu streiten, ideologische Muster anzubohren, so weit es geht. Das hat Grenzen, ja. Aber diese findet man nur, wenn man sie aufsucht. Es ist mühsam, gefährlich. Das betrifft übrigens jede Auseinandersetzung mit politischen Kräften, die extremismusoffen sind, und das sind leider immer mehr Gruppen, die gemäß der politischen Farbenlehre grellbunt leuchten. 

Wie ist der Diskussionsprozess zum Umgang mit der AfD in der sächsischen Kirche?

CHRISTIAN LEHNERT: Das fragen Sie besser einen Vertreter der Landeskirche. Ich habe naturgemäß nur einen beschränkten Ausschnitt vor Augen. Hier vor Ort im Ost­erzgebirge sind Kirche und AfD an der Basis, so mein Eindruck, kaum zu entflechten – und das liegt nicht speziell an den Gemeinden, sondern an der gesellschaftlichen Situation. Es betrifft ebenso die Freiwillige Feuerwehr wie Naturschutzgruppen und Heimatvereine. 

Das zweite große Thema der vergangenen Monate war die Veröffentlichung der ForuM-Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche in Deutschland. Was hat die mit Ihnen gemacht?

CHRISTIAN LEHNERT: Es ging mir wie vielen: Ich war schockiert und, im nächsten Moment, nicht wirklich überrascht. Es macht vor allem traurig, weil es wieder so massiv die Glaubwürdigkeit unserer Kirchen untergräbt, die ohnehin schon angeschlagen ist. Die Kirche, die gebrochene Kirche, die schuldbeladene Kirche – sie will ja vor allem als eschatologisches Geheimnis geglaubt sein, und das fällt schwerer.

Eines der Ergebnisse der Studie war der,  zumindest in dieser Deutlichkeit, zuvor kaum wahrgenommene, spezifisch evangelisch gefärbte Klerikalismus. Der hat den Missbrauch stärker begünstigt, als man geglaubt hatte. War das für Sie ein neuer Gedanke?

CHRISTIAN LEHNERT: Ich weiß nicht genau, ob ich dazu nicht lieber schweigen sollte. Ohnehin sind Worte ambivalente Wesen: Sie können etwas zeigen, und dabei verdecken sie immer auch etwas, sie eröffnen und verbergen in einem Atemzug. Vielleicht sollte man besser erst einmal innehalten. Ich bin ja auch nur ein bewegter Zeit­genosse, ein irritierter Christ, ein verunsicherter Theologe. Ich weiß nicht genau, ob Klerikalismus wirklich das Problem ist oder nicht allgemeiner die missbrauchte Autorität, die sich in Klerikalismus äußern kann, aber nicht muss. Autorität wiederum ist eine Größe, die aus unserer Gesellschaft, vor allem aber auch aus religiösen Institutionen wie auch einer jeden spirituellen Bewegung nicht weg­zudenken ist. Ich weiß nicht, ich kenne solche Momente vom Schreiben: Es gibt Momente, wo man den Assoziationen nicht folgen darf, weil es zu früh ist. Man muss dann unter­brechen, sonst schreibt man sich in einer Erzählung in die Irre. 

Es ist ja auch ein gewisser Widerspruch zu der Tatsache, dass andererseits die Studie eine Autoritätsdiffusion feststellt.

CHRISTIAN LEHNERT: Das ist der Punkt, und es zeigt sich, dass die Probleme viel tiefer in unserer Gesellschaft wurzeln, als solche Begriffe wiedergeben können. Es ist, als würde ein dunkles kollektives Unbewusstes aufbrechen. Es ist immerhin ein Zeichen von innerer Größe, wenn sich die Kirchen dem stellen, ihren eigenen Abgründen stellen. Das tun andere nicht. 

Was muss nun geschehen – oder soll man auf dem Weg weitergehen, den man schon begonnen hat?

CHRISTIAN LEHNERT: Es liegen Wunden bloß, es liegen Trümmer verstreut. In meinem Gefühl stehen jetzt lange, langsame Heilungsprozesse an. Diese sind ohnehin schwer in einer als krisenhaft wahrgenommenen kirchlichen Situation. 

Müssen Strukturen geändert werden?

CHRISTIAN LEHNERT: Ich weiß zu wenig von Strukturen. 

Aufgrund dieser kirchlichen Vorfälle?

CHRISTIAN LEHNERT: Bitte, ich weiß das im Moment nicht. Mir stehen auch keine sprachlichen Muster zur Ver­fügung, um das alles einzuhegen. Die Kirchen trifft eine Krankheit aus dem eigenen Inneren, wie eine Art Schlaganfall, eine innere Blutung. Verbunden mit Schuld und Versagen und Selbstvergessenheit. Das geschieht in einem gesellschaftlichen Klima, das ohnehin gegenüber religiösen Weltzugängen rauer wird. 

Wie meinen Sie das?

CHRISTIAN LEHNERT: Das veränderte gesellschaftliche Klima? Bürgerliche Kulturen zerfallen, in denen tradierte Religion eine Rolle spielte; neue, disparate, quasi-religiöse Formen tauchen auf in ganz unerwarteten Gewändern, antireligiösen Gewändern, etwa als Wissenschaftsglauben oder als Transhumanismus; eine enorme Pluralisierung und Subjektivierung von Weltbildern geschieht; atemlos, schnell sind alle diese Erscheinungen, die von solchen abstrakten „-ung-Wörtern“ kaum mehr erfasst werden können. Uns fehlen noch die Begriffe. Es gibt viele Mosaiksteinchen, die noch kein Bild ergeben, aber es ist ungemütlicher für religiöse Gemüter geworden.

 

Das Gespräch führten Philipp Gessler und Reinhard Mawick am 1. Februar in Leipzig. 
Der zweite Teil des Interviews erscheint in der kommenden Mai-Ausgabe.

 

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