„In einem existenziellen Abenteuer“

Die Gefahren eines zu kurz gedachten apokalyptischen Denkens und was die Kirche von den Heiligen lernen kann: Der zweite Teil des Interviews mit dem Dichter Christian Lehnert
Christian Lehnert
Foto: Jens Schulze

zeitzeichen: Herr Lehnert, es scheint eine gewisse Konstante in Ihrem Werk zu sein, auch in Ihrem neuesten Buch „Das Haus und das Lamm“, dass Sie von der Betrachtung der Natur zu grundsätzlichen Aussagen über das Leben, auch über die Religion und über die Beziehung zu Gott kommen. Glauben Sie, dass wir Menschen oder, vielleicht ein bisschen enger-gläubige Menschen nicht mehr genug auf die Natur schauen?

CHRISTIAN LEHNERT: Der Blick in die Natur ist ein Blick ins Offene. Ich habe darin noch keine festen Kategorien, setze mich Fremdem aus. Der Blick in die Natur ist gleichzeitig ein Blick auf mich selbst. So sind auch die Naturgänge in meinen Texten Wege in die Fremde, in die Fremde der natürlichen Erscheinungen. Sie sind gleichzeitig Bewegungen, die ins Innere gehen und danach fragen: Was sehe ich? Wie sehe ich etwas? Was zeigt sich mir? Natur und Deutung überlagern sich schon in der Wahrnehmung. Diesen Zwischenraum erkunde ich. Ich erkunde ihn bewusst als religiöser Mensch, weil mir von der Religion her, von religiösen Bildern, Mythen, Erzählungen sich die Natur anders darstellt. Ich glaube, dass der Blick in die Natur für gläubige Menschen gerade heute eine wichtige Übung ist: Sie führt in die Befremdung. Sie lehrt mich, dass ich mich öffnen muss, um etwas zu sehen, was ich nicht schon gesehen habe. Sie bringt mir bei, mit dem Unerwarteten zu rechnen. 

In Ihrem Buch wird dem Geschehen im Heute die Apokalypse des Johannes zur Seite gestellt. Warum die Apokalypse? Das ist ja für Luther eher ein sperriges Buch. Wie kam es zu dieser Kombination?

CHRISTIAN LEHNERT: Es ist ein hoch umstrittenes Buch, das mich schon lange beschäftigt. Es ist einer der raffiniertesten poetischen Texte in der Bibel. Ich habe mein letztes Buch über Engel geschrieben …

Da wollten Sie noch eines draufsetzen?

CHRISTIAN LEHNERT: Nun ja, Engel sind Grenzphänomene. Es sind Wesen, die mit einem Bein im Innern des Menschen stehen, als Imagination erscheinen können, aber mit dem anderen in einer Wirklichkeit, die mich überfällt. Die Engel verwirren Subjektivität und Objektivität. So war ich schreibend an Erfahrungsgrenzen unterwegs. Die Johannes-Apokalypse bezeichnet eine letzte Grenze, die allerletzte Grenze. Es geht in diesem Buch um Erfahrungen, die niemand machen kann, weil sie das Ich auflösen, wie im Tod. Der Seher Johannes ist im Wortsinn „außer sich“, unbehaust in sich selbst. Dieser Ich-Erzähler ist unglaublich brüchig, sehr verunsichert, einsam. Er ringt um ein Selbst- und ein Geschichtsverständnis angesichts der radikalsten Fremdheitserfahrung, die es gibt: der Einbruch Gottes. Die Apokalypse liegt heute in der Luft in einer Zeit, in der die vertrauten Begriffe und Erzählungen nicht mehr recht greifen, nur noch Segmente erfassen, und wir fragen in neuer existenzieller Schärfe: Wer sind wir eigentlich? Was ist das, die Geschichte?

Die Apokalypse hat diese Doppel­bedeutung: Etwas wird offenbar und etwas ist am Ende. Beides hat für Ihr Buch in dem Fall genau gepasst. Sind wir jetzt eher am Ende, oder wird eher etwas offenbar? Oder vermischt sich das auch wieder?

CHRISTIAN LEHNERT: Mit dem „Ende“ bin ich nicht so ganz einverstanden, weil die Johannes-Apokalypse gar kein Ende beschreibt, sondern eigentlich ein Ganzes, eine Allzeit-Erfahrung, eine Implosion der Zeit. 

Aber es ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen.

CHRISTIAN LEHNERT: Ja und nein. Natürlich ist es das Ende der Welt, aber die Frage ist ja: Wo steht 
der Autor? Wo stehen wir als Leser? Johannes befindet sich ja nicht außerhalb der Welt. Nein, er steht selbst im Geschehen drin, und weil er zugleich herausgerissen ist aus dem Horizont der Welt, erfährt er die Verkettung der Ereignisse als Endzeit. Aber was Johannes eigentlich treibt, ist etwas jenseits des Horizontes, etwas Allumfassendes, etwas, was mehr ist als Zeit, mehr als jedes Ende. Was gewissermaßen das Ganze ist. Wo Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart gar nicht mehr zu unterscheiden sind.

Zeit ist da als Kategorie gar nicht existent?

CHRISTIAN LEHNERT: Johannes hat gar nicht das Ende der Zeit gesehen, sondern etwas jenseits der Zeit. Das ist natürlich unmöglich, und ich denke an eine Art mystischen Augenblick, in dem plötzlich alles in allem da ist. Und von dort her versuchte Johannes, etwas zu beschreiben. Das sind alles hilflose Annährungen, was ich da sage: Ihm stellte sich das, was ist, in seiner Relativität dar, in seiner notwendigen Vergänglichkeit, in Flüchtigkeit. Zugleich war die Frage, was war und was kommt, was vorher und nachher sein soll, gar nicht mehr eindeutig zu beantworten. Mache ich mich verständlich? 

Doch.

CHRISTIAN LEHNERT: Johannes baut, wenn man genau hinschaut, gar keinen Erzählverlauf auf, sondern er öffnet einen Bilderbogen. Es sind statische Bilderfolgen: Zerstörungsvision, die Siegel und Plagen, und noch eine, noch eine. Und am Ende fragt man sich, wo kommen die Feinde des Lammes überhaupt noch her? Erzählerisch macht das überhaupt keinen Sinn.

Wenn wir nun aber den Transfer schaffen wollen: In was für apokalyptischen Zeiten leben wir? Im Vordergrund steht der drohende Klimakrieg und diese ganzen schlimmen Sachen. Es gibt eine Vernichtungsangst, aber das ist ja nicht alles.

CHRISTIAN LEHNERT: Wir stehen an Grenzen, an Abbruchkanten – und diese zeigen etwas: dass das Entscheidende jenseits unseres Horizontes liegt. Der wesentliche Gehalt der christlichen Hoffnung beginnt, so paradox es klingt, wo unsere Hoffnung endet. Dort agiert der undenkbare Gott, dort öffnen sich Wege, die wir noch nicht kennen. Johannes, der Seher, trennt immer die Ebenen. Das eine ist die Logik der Geschichte, eine politische, eine gesellschaftliche Logik. Und das andere ist der Horizont des Heils. Johannes entwirft keine Geschichtsphilosophie, sondern er folgt einer Vision der Ganzheit von Schöpfung und Erlösung. Da sind wir in der heutigen Politik: Wir neigen dazu, im Gefolge der großen Geschichtsphilosophien, den Sinn der Geschichte in ihr selbst zu verorten. Dann bekommen politische Situationen einen apokalyptischen Hauch. Das birgt große Gefahren. Den klassischen Fall habe ich als junger Mensch erlebt, in der DDR: Der Kommunismus als das Ende der Zeit galt als das große Jenseits, das neue Jerusalem. Und in dessen Namen war alles erlaubt, alle Repressalien. Ein Gesellschaftsentwurf wurde zur Religion. 

Aber Endzeitvorstellungen gab es doch immer im Laufe der Jahrhunderte, etwa um das Jahr 1000 oder um das Jahr 1500.

CHRISTIAN LEHNERT: Ja, das war schon immer eine Versuchung, die das apokalyptische Denken beinhaltete, indem man sagte: Jetzt ist das, was Johannes schreibt, da. 

Motto: Jetzt bricht das 1000-jährige Reich an.

CHRISTIAN LEHNERT: Das 20. Jahrhundert, dem die innere Syntax der Mythen unverständlich wurde, dieses Jahrhundert hat die Apokalypse im Empfinden säkularisiert. Das prägt uns bis heute. Wir reden schnell von Apokalypse, und das heißt dann: Jetzt ist Endzeit. Man muss Angst haben. Vor uns steht das absolute Ende, und wenn wir jetzt nicht radikal handeln, werden wir untergehen. 

So etwas wie die „Letzte Generation“?

CHRISTIAN LEHNERT: Dort erscheint zumindest die Gefahr, dass sich drängende Fragen von ihrem Sachgrund lösen. Aber das gibt es in ganz verschiedenen Couleurs.

Aber dieses endzeitliche Denken ist ja von Anfang an eingestiftet in unseren Glauben, schon Jesus predigte: Die Zeit ist erfüllt.

CHRISTIAN LEHNERT: Ja, aber die Erfüllung der Zeit gehört eben nicht der Zeit an. Die biblischen Texte markieren immer eine Differenz: Wir wissen nicht Zeit und Stunde. Das ist ein urchristliches Wissen. Es geht beim Reich Gottes nicht um einen bestimmten Zustand in der Zeit, sondern das Reich Gottes ist hier und jetzt, genauso wie es uns vollständig entzogen ist. Es ist kein Ereignis in der Zeit, sondern eine andere Dimension. Ein anderer Raum. Die Alten sagen dazu, ein anderer Äon. Wir könnten heute physikalisch sagen, eine andere Dimension, eine jenseits der Zeit. Das trifft sich übrigens mit bestimmten modernen Kosmologien, die von einer gleichzeitigen Gegenwart aller denkbaren Zustände des Universums ausgehen. Und Zeit ist dann nur eine partikulare Bewegung durch das Vorhandene hindurch, durch Zustände, die alle schon da sind.

Francis Fukuyama hat 1989 gesagt, dass jetzt das Ende der Geschichte da sei, nun haben die freie Welt und der Markt gesiegt.

CHRISTIAN LEHNERT: Die Idee vom Ende der Zeit in der Zeit hat viele Facetten. Im Neoliberalismus sieht man das ja ähnlich: Es gebe einen zwangsläufigen Fortschritt, der am Ende, wenn man nur allen Freiheit, allen Markt­freiheit lässt, in einen Zustand führt, wo Gleichheit und Glück herrschen und alles zur Ruhe kommt. Das meinte ich mit säkularisierter Endzeithoffnung. Zum ersten Mal wurde das in aller Tragik bei Thomas Müntzer deutlich. An der Schwelle zur Neuzeit, in der Situation des Bauernkrieges, als Menschen zunächst aufgrund von sozialen Verwerfungen aufbegehrten gegen die Fürstenherrschaft. Plötzlich wurde daraus ein eschatologischer Moment: Die Bauern vor Frankenhausen erwarteten die Wiederkunft Christi in ihrer Schlacht. Darüber habe ich ein Theaterstück geschrieben, das in Weimar aufgeführt wurde.

Das Bauernkriegsjubiläum hatten wir gerade. Auch Ihr Buch, das Sie mit Michael Triegel gemacht haben, „Die Legenda aurea“ ist kühn: als evangelischer Theologe alte Heiligengeschichten herauszugeben, zu kommentieren und zu erläutern. Was hat Sie zu diesem Projekt geführt?

CHRISTIAN LEHNERT: An dieser Sammlung und an der Übersetzung habe ich parallel zu meinem Buch über die Johannes-Apokalypse Das Haus und das Lamm gearbeitet: Auch hier, in den alten Legenden, begegnete mir ein tastendes, suchendes Sprechen ins Offene. Die Heiligen sind radikal Suchende, die ihre gesamte Existenz aufgeben, um in eine Offenheit zu gelangen, in eine viel größere Weite des Daseins, wo sie Gottesnähe erwarten – das aber im radikalen Wagnis, in einem existenziellen Abenteuer. Sie geben ihre Identität auf, sie geben alle gesellschaftlichen Wertmaßstäbe auf …

Die Heiligen gehen häufig in die Armut.

CHRISTIAN LEHNERT: Ja, sie entziehen sich allen Kategorien mit dem Ziel einer Verwandlung, also einer Vorbereitung auf einen Zustand, den sie nicht kennen, an den sie aber glauben. Aber mehr haben sie nicht. Das hat mich fasziniert, dieses Abenteurertum. Das ist etwas, was wir in unserer heutigen Religiosität weitestgehend ausgespart haben. Religion ist für uns zunächst Beheimatung, Angenommensein. Die Heiligen der „Legenda aurea“ wollten hinaus.

Nun sind Sie evangelischer Theologe: Braucht die evangelische Kirche mehr Heilige? Heiliges Denken oder heilige Denker?

CHRISTIAN LEHNERT: Ich könnte jetzt sagen: Ja. Aber damit wäre man schon in einer Logik, welche den Legenden ganz zuwiderläuft: Diese Heiligen in der „Legenda aurea“ sind überwältigt worden, sie haben etwas erfahren, was nicht verfügbar ist. In dem Wort „brauchen“ steckt aber eine heimliche Verfügbarkeit. Ja, natürlich brauchen wir das, die heiligen Aufbrüche der Gottsucher – aber das ist nichts, was wir machen können. Bei diesen Heiligen kann man nur ein paar Schrittfolgen lernen, wie man sich spirituell öffnen kann. Das aber braucht unsere evangelische Kirche.

Können Sie das ein bisschen konkreter sagen?

CHRISTIAN LEHNERT: Erstens steigen die Heiligen aus allen Zählbarkeiten und Quantitäten aus. Aus Ökonomie, aus allem, was man irgendwie haben kann, was Besitz ist. Das ist eine christliche Aufgabe heute: skeptisch zu sein gegenüber der Allgegenwart quantitativer und konomischer Muster, auch und gerade in den Kirchen. Zweitens ziehen sich die Heiligen zurück. Ihr Weg hat etwas mit Einsamkeit und Zeitdistanz zu tun. Glaube in seiner Wesensenergie geht nicht in der Öffentlichkeit auf, sondern hat eine Dimension, die den Einzelnen, die einzelne Existenz betrifft. Die eigentlichen Glaubensfragen, die eigentlichen religiösen Abenteuer unternimmt der Einzelne und nicht die Gemeinschaft … 

Auch Jesus zog sich vor seinem ersten öffentlichen Auftreten erst einmal zurück.

CHRISTIAN LEHNERT: Ja, er zog sich in die Wüste zurück. Noch etwas: Die Heiligen konzentrieren sich auf Erfahrungen, die ihren Verstehenshorizont durchschlagen. Das heißt, sie haben keine konsistenten ideologischen Identitätskonzepte mehr. Die zerfallen erst einmal. Diese bilden sich dann wieder, bilden sich neu, aber am Anfang steht erst einmal der Zusammenbruch dessen, was wir Identität nennen.

Wir haben in dem Nachwort Ihres  Buches zur „Legenda aurea“ drei Stich­worte gefunden, wie Sie das beschreiben, was die Heiligen erleben oder was sie vereint. Geschichtsentzogenheit, Selbstverlust und pflanzenhafte Demut. Ist das auch eine gewisse Beschreibung Ihres eigenen Werks?

CHRISTIAN LEHNERT: Na ja … Selbstverlust und pflanzliche Demut passen vielleicht. Denn das Schreiben kommt ja aus vergleichbaren Erfahrungen  wie die, worüber wir gerade gesprochen haben. Es beginnt mit einer radikalen Verstörung. Ich schreibe ja nicht, um etwas möglichst klar und deutlich jemandem zu vermitteln, sondern das Schreiben entsteht, wo ich noch nicht habe, was ich sagen will, wo ich unterwegs bin hinein in etwas, wofür mir die Worte noch fehlen. Dies geht einher mit verunsichernder, verstörender Wachsamkeit. Schreiben ist für mich dem Gebet zutiefst verwandt. 

 

Das Interview führten Philipp Gessler und Reinhard Mawick am 1. Februar in Leipzig. 

 

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