Problematisch

Über die orthodoxen Kirchen

Die Verbindung von Kirche und Politik in Russland hat in den vergangenen Jahren große Aufmerksamkeit erhalten. Dabei provoziert die offene Unterstützung der Kirchenleitung der Russischen Orthodoxen Kirche für die repressive Innenpolitik und aggressive Außenpolitik Russlands unter Wladimir Putin häufig einfache Schlussfolgerungen auf eine grundsätzliche, essenzielle Politisierung der Orthodoxie. Das vorliegende Buch von Gerhard Schweizer gehört zu diesen Versuchen, das Verhältnis von politischer Macht und orthodoxem Glauben zu erklären. Schweizer greift auf seine Erfahrungen als Autor und Kulturwissenschaftler in verschiedenen orthodox geprägten Ländern – Russland, Serbien und Griechenland – zurück und erläutert anhand dieser Erfahrungen und der ihm möglichen Vergleiche, wie sich das Zusammenspiel von Orthodoxie und Politik entwickelt hat. Er beginnt mit einer Darstellung der unterschiedlichen Entwicklungen im westlichen und östlichen Christentum in den ersten Jahrhunderten und der Verschiebung der orthodoxen Zentren von Konstantinopel nach Moskau ab dem 15. Jahrhundert. Daran schließen drei Kapitel zu den jeweiligen Zusammenhängen in den drei Beispielländern an, die unterschiedliche zeitliche Rahmen umfassen. Für Russland beginnt der Autor die Analyse mit dem Ende der Sowjetunion. In allen drei Fällen und auch für die daran anschließende Betrachtung der Ukraine werden historische und aktuelle Ereignisse miteinander verflochten, um so zu zeigen, wie die Geschichte jeweils für die Konstruktion der Identitäten benutzt wird. Am Ende schließt ein Kapitel mit möglichen Perspektiven den Band ab.

In den einzelnen Kapiteln geht es dem Autor um eine gut nachvollziehbare Darstellung, die jedoch aufgrund des großen Zeithorizonts notgedrungen verkürzt sein muss. So werden Zusammenhänge und langfristige Entwicklungen in den je sehr unterschiedlichen Gesellschaften zwar erkennbar, allerdings bleiben die Schlussfolgerungen an einer vereinfachenden Oberfläche, die den historischen und gesellschaftlichen Komplexitäten nicht gerecht wird. Das Buch versteht sich nicht als wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern eher als Erfahrungsbericht aus der Sicht, wie Schweizer selbst schreibt, eines westlichen Besuchers. Der Autor beschreibt viele persönliche Begegnungen und bezieht sich häufig auf Ereignisse, die es bis in unsere westliche Öffentlichkeit geschafft haben. Dieser Zugang macht die Darstellung leicht verständlich und setzt für ein breites Publikum tatsächlich bei dem aufrichtigen Interesse an, diese fremde Welt der orthodoxen Konfession, wie Schweizer seine eigene Position beschreibt, besser zu verstehen. Das hat aber offensichtliche Nachteile. Ein großer Teil der innerkirchlichen Auseinandersetzungen in den jeweiligen Kirchen und der komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen nach dem Ende des sozialistischen Blicks bleibt unsichtbar. Der „westliche Blick“ verhindert es so auch, den Dualismus zwischen einem aufgeklärten modernen Westen und einem vormodernen Osten wirklich zu überwinden.

Besonders deutlich und problematisch wird dies in dem Kapitel zur Ukraine. Die Ukraine wird als orthodoxes Land zum einen nur unter dem Aspekt der Zugehörigkeit zum russischen historischen Einflussgebiet betrachtet, gilt also nicht als eigenständiger Fall der Analyse von Politik und Kirche wie die drei anderen Länder. Damit folgt der Autor der russischen, aber auch der weit verbreiteten sehr problematischen westlichen Sicht auf die Ukraine. Er verpasst die Chance, mit der Ukraine ein Beispiel zu sehen und zu zeigen, wo Orthodoxie nicht wie in einem Automatismus mit der politischen Macht verknüpft ist, sondern in einem komplexen Prozess seit mehr als einem Jahrhundert diese Verknüpfung gezielt auflöst.

Das Buch ist damit leider ein Beispiel für die verkürzte Sicht auf die Orthodoxie und ihre vielfältigen Entwicklungen in europäischen Ländern. Auch wenn es durch den gut zu lesenden und populären Zugang ein spannender Einstieg in ein fremdes Thema sein kann, muss man fürchten, dass es eher stereotype Vorstellungen fördert, als das Interesse an dieser wichtigen europäischen Konfession und der osteuropäischen jüngsten Geschichte zu wecken.

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Foto: Maxim Siderenko

Regina Elsner

Dr. Regina Elsner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin.


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